Donnerstag, 30. Mai 2013

Was wir wissen


A Kind of Wild Justice

Was wir über die Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben wissen, wissen wir durch die Massenmedien: Falls das zutrifft, weiß Selysses herzlich wenig über Gesellschaft und Welt. Nur einmal sehen wir ihn in Berührung mit dem Leitmedium seiner Zeit, dem Fernsehen, und kaum daß er in dem Samtfauteuil des Hotels in Southwold Platz vor dem Empfangsgerät Platz genommen hat, ist er auch schon eingeschlafen. Er bedauert dann aber, die Sendung über Roger Casement verpaßt zu haben und macht sich daran, seine Geschichte aus Büchern, einem rapide veraltendenden Medium, zu rekonstruieren. Eine Einzelheit muß er weiter nicht nachschlagen, da sie ihm aus einer länger schon zurückliegenden Lektüre des Congo Diary Joseph Conrads wortwörtlich gegenwärtig geblieben ist. Er, Conrad, so sei dort zu lesen, habe Casement einmal nur mit einem Stecken bewaffnet in die gewaltige Wildnis aufbrechen sehen, und einige Monate darauf sei er dann aus der Wildnis wieder hervorgekommen, etwas magerer vielleicht, aber sonst so unbeschadet, als kehrte er gerade von einem Nachmittagsspaziergang im Hyde Park zurück. Was gesichertes Welt- und Gesellschaftswissen anbelangt, ergibt sich allerdings die Schwierigkeit, daß Conrads Kongotagebuch einen derartigen Eintrag nicht aufweist. Selysses mag einem irritierenden Déjà-vu aufgesessen sein, nicht aber Sebald, sein Bruder im wahren Leben. Der zeigt auf diesem Wege an, daß es, der dokumentarischen Fassade zum Trotz, um fiktionalisierte Wirklichkeit geht. Die Erzählung verliert Casement dann zunächst völlig aus den Augen und wendet sich Conrad zu. Wir begleiten Conrad zurück in seine Kindheit in Polen und folgen ihm an der Seite des Vaters in die sibirische Verbannung. Im Schlitten durchqueren wir mit ihm die ukrainischen Schneeweiten und treffen ihn schließlich im kongolesischen Herz der Finsternis. Das wahre Herz der Finsternis aber ist Brüssel, von wo aus König Leopold die unvorstellbaren Verbrechen im Kongo durchführen ließ, jetzt unserer aller europäische Hauptstadt. Tatsächlich gibt es in Belgien bis auf den heutigen Tag eine besondere, von der Zeit der ungehemmten Ausbeutung der Kongokolonie geprägte, in der makabren Atmosphäre gewisser Salons und einer auffallenden Verkrüppelung der Bevölkerung sich manifestierende Häßlichkeit, wie man sie anderwärts nur selten antrifft. Bei seinem ersten Besuch in Brüssel sind Selysses mehr Bucklige und Irre über den Weg gelaufen als sonst in einem ganzen Jahr.

In einem von Sebalds Aufsätzen ist die Rede vom zweifelhaften Recht, mit dem die Gesellschaft, nach allem, was sie anrichtet, immer wieder überlebt. Es war aber wohl nicht Sebalds Einschätzung, daß die Gesellschaft insgesamt eine Veranstaltung von Recht und Gerechtigkeit wäre oder sein könnte. Für die nicht wenigen Anhänger dieser Glaubensrichtung ist die Einzigkeit des deutschen Verbrechens ein unverzichtbares Dogma, versichert es uns doch, daß, was immer noch geschehen mag auf dem leuchtenden Pfad, den wir gehen, das Schlimmste in jedem Fall schon hinter uns liegt. Sebald, für einige der Prime Speaker of Holocaust, vertritt das Dogma nicht mit Leidenschaft. Mit dem Luftkrieg, dem Kolonialismus, dem Wüten der Ustascha, dem kaum je unterbrochenen Blutbad der Geschichte beharrt er darauf, das Unvergleichbarkeitsdogma könne jedenfalls nicht alles andere hinter seinem großen schwarzen Mantel verbergen und auf das Ausmaß hinnehmbarer Belanglosigkeiten schrumpfen lassen. Die nach Gerechtigkeit hungern und dürsten können nicht vor Gericht zufriedengestellt werden, am allerwenigsten im Brüsseler Justizpalast, dessen siebenhunderttausend Kubikmeter umfassende, eingemauerte Leere nur das innerste Geheimnis aller sanktionierten Macht verbirgt und zur Schau stellt. Die Dürstenden werden im Angesicht des Entsetzens immer wieder Verlangen verspüren nach einer wilden Justiz, die die Vulkane ausbrechen läßt und alles ringsum überzieht mit schwarzem Staub oder uns doch sichtbar zeichnet für unsere Verbrechen und die unserer Väter. Den verwachsenen, von spastischen Zuckungen geschüttelten Billardspieler in einer Bar in Rhode-Saint-Genèse sieht Selysses, selbst Liebhaber schwierigster Karambolagen, im Spiegel.

Auf den abschließenden wenigen Seiten des Fünften Teils der Ringe des Saturn wird Casements Lebensgeschichte in einer der verpaßten Fernsehsendung womöglich kongenialen Weise geschildert. Drei Episoden werden behandelt, die auch Vargas Llosas ungleich umfänglicherem Casementbuch die Kapitelüberschriften liefern: El Congo, La Amazonía, Irlanda. Aus dem Kongo berichtet Casement Dinge, die Conrad verzweifelt zu vergessen sucht, das Geschehen am Amazonas wertet er als Völkermord, in den Iren, sieht er, nun Ruairí Dáithí Mac Easmainn, die Indianer der Britischen Inseln.
Als Peruaner ist Vargas Llosa mit dem fortlebenden prähistorischen Opferkannibalismus ebenso vertraut wie mit dem geradewegs in eine lichte Zukunft führenden Sendero Luminoso. In Lituma en los Andes hat er beides in beklemmender Weise zusammengeführt, justicia salvaje, muy real y en masa, von Unrecht in keiner Weise zu unterscheiden. In seinem Casementbuch ist das Amazonaskapitel naturgemäß das umfänglichste. En Inquitos, uno termina por no creer en nada, nicht so Casement. Fortwährend in Todesgefahr habe Casement am Kongo und am Amazonas nie Angst gehabt, jetzt, in der Gefängniszelle, in Erwartung der Hinrichtung, hat er Angst. Seine größte Enttäuschung ist, daß Conrad die Gnadenpetition nicht unterschrieben hat, sein größter Kummer, daß er werde sterben müssen, ohne die irische Sprache ordentlich erlernt zu haben. Ná beidh a leithéid arís ann.

Montag, 27. Mai 2013

Tirant lo Blanch

La marquesa salió a las cinco

Auf dem Einbandbild einer deutschen Ausgabe des Romans von Joanot Martorell wird der weiße Ritter von Pisanellos heiligem Georg mit dem Strohhut dargestellt, der Sebaldleser hat das Gefühl eines Sakrilegs. Sebalds Georg verläßt in Lindenhardt den mittelalterlichen Rahmen, verabschiedet sich in Verona von der Prinzessin, um gegen das Übel der Zeit in Gestalt des Drachen zu kämpfen und tauscht in London, nach getaner blutiger Arbeit, den Helm gegen Strohhut aus, bereit für das Leben in der neuzeitlichen, aufgeklärten, friedlichen und demokratischen Gesellschaft, Schwerter zu Pflugscharen. Tirant dagegen gewinnt keinen Abstand zu den mittelalterlichen Umständen und denkt nicht daran, den Helm abzunehmen.
Vielleicht nicht Tirant aber doch Joanot Martorell, wendet Vargas Llosa ein, der in dem Werk des Katalanen den ersten modernen europäischen Roman sieht. Vargas Llosa hat verteilt über die Jahre verschiedene Aufsätze verfaßt, die dann in dem Band Carta de batalla por Tirant lo Blanc veröffentlicht wurden. Er sieht ein vielschichtiges Werk, das sich auf die unterschiedlichste Weise lesen läßt, als Ritterroman, als Geschichtsroman, als Kriegsroman, als Sittengemälde, als erotischer Roman, als psychologischer Roman, als totaler, selbständiger, vom Autor befreiter Roman und damit als Vorläufer der Werke Flauberts oder Faulkners. Martorells Buch teilt damit aber auch ein Charakteristikum der Romangattung schlechthin, das Vargas Llosa mittels einer Vulkantheorie verdeutlicht: A diferencia con lo que ocurre en un poema plenamente logrado, que su contenido emocional y sus tensiones internas se hallan por lo general parejamente distibuidas desde su iniación hasta su fin, las corrientes anímicas de una novela siguen una línea fluctuante, desigual, debido a los irremediables tiempos muertos, aquellos episodios indispensables, pero que tienen un valor puramente relacional, porque carecen de vida propia y sólo sirven para esclarecer o emparentar a los episodios esenciales, que sí la tienen. Die episodios esenciales vergleicht er mit aktiven Vulkanen.

Wenn das eine allgemeine Struktureigenschaft des Romans ist, so haben sich nicht alle damit abfinden wollen. Valérys bekannte Konfession, er könne keinen Roman lesen oder schreiben, der beginnt mit den Worten La marquise sortit à cinq heures, zeugt von der fehlenden Bereitschaft, sich auf ein von wenigen Vulkanen nur durchsetztes Prosaödland einzulassen. Valéry bleibt seinerseits nicht ohne Widerspruch. La marquesa salió a las cinco, dònde diablos he léido eso? – mit diesem Satz leitet Cortázar in offenkundiger Widerspenstigkeit Los premios ein. Zeigt er sich herausfordernd unbeeindruckt von Valérys Statement, oder sieht er sich aufgerufen, einen Roman zu schreiben, der mit dem inkriminierten Satz beginnt und für Valéry gleichwohl lesbar wäre? Ein weiterer Literat streitet mit Valéry, Joseph Grand in Camus’ La peste. Er hat eine Art Prachtausgabe der das Haus verlassenden Marquise geschaffen: Par une belle matinée du mois de mai, une élégante amazone parcourait, sur une superbe jument alezane, les allées fleuries du Bois de Boulogne. Grands komplette literarische Hinterlassenschaft besteht in einem Konvolut von ungefähr fünfzig Seiten gefüllt mit Varianten dieses Satzes, von denen wohl keine den strengen Valéry hätte besänftigen können. Als Ausgleich könnte man aber geneigt sein, im Bild der eleganten Amazone Anklänge an Martorell zu vernehmen, bei dem die Donzellen so fein und so hell- und dünnhäutig sein können, daß man den weißen Wein durch ihre Kehle rinnen sieht.

Wenn Sebald beim Studium eines zeitgenössischen Romans traditioneller Machart schon nach wenigen Absätzen das Verlangen nach einem Magenbitter ankam und wenn er seine eigene Berufung nicht im Roman, sondern in der Prosa sah, könnte man in ihm einen Jünger Valérys vermuten. Wiederholt hat er betont, das einzelne Wort und die Kadenz des Sätze bedürften in der Prosa nicht weniger Sorgfalt als in der Lyrik. Zugleich aber war ihm wohl Gombrowicz’ Warnung bekannt, einen Lyrikband von vorn bis hinten durchzulesen sei so, als würde man sich eine Woche lang nur von Desserts ernähren. Nicht nur, daß man ohne Anzeichen von Fehlernährung am Ende der Prosabände Sebalds anlangt, man fühlt sich so leicht und gut, daß man, unter Abweisung anderer Kost, gleich wieder vorn anfangen möchte. Sebalds Besonderheit besteht offenbar darin, einen bislang ungeahnten Pfad zwischen Roman und Lyrik gegangen zu sein.

Montag, 20. Mai 2013

Bilder wie Boote

Onze

Ein Bild des Meisters der Ursulalegende zeigt die Heilige samt ihrem Gefolge beim Anlegen des Schiffes in Basel. Ursula selbst und ihre engsten Vertrauten, Cordula, Aukta und Odilia, haben das Boot schon verlassen und betreten den Kai, auf dem eine Klerikerdelegation sie erwartet. Die Kunde von der in der Tat auffälligen Reise und der zu erwartenden Ankunft der 11001 Jungfrauen war offenbar schon vorausgeeilt. Die theologische Forschung hat die in der Urfassung der Ursulalegende genannte abnorm hohe Zahl später in Zweifel gezogen und geht jetzt überwiegend von einem Übermittlungsfehler und, nach dessen Bereinigung, von einem Gefolge von nur elf jungen Damen und damit, die Heilige wiederum hinzugezählt, zwölf Ursulinen aus. Das Bild des Kölner Malers läßt in jedem Fall beide Zählweisen zu. Es zeigt acht weibliche Reisende, vier weitere, oder aber, nach alter Lesart: 10993 (zehntausendneunhundertdreiundneunzig) weitere Ursulinen, bleiben, ebenso wie die Schiffsbesatzung – die Jungfrauen selbst waren kaum manövrierfähig, schon die Kleidung schließt seemännische Kompetenz im Grunde aus -, hinter dem linken Bildrand verborgen. Während die acht frommen Damen mehr oder weniger gleichen Wuchses sind, besteht das ebenfalls acht Personen zählende Empfangskomitee aus drei voll ausgewachsenen und fünf eher gnomenhaft verkümmerten geistlichen Herren.
Das Bild bietet uns auf den ersten Blick eine aufgeräumte, wohlanständige Welt dar, kein Gedanke an gewaltsame Entjungferung, geschweige denn an eine den Märtyrerinnenstatus sichernde Entleibung. Bei näherem Hinsehen aber fällt die völlige Leere der Stadt Basel auf, so als seien Etzels Horden bereits hinweggegangen über die Stadt. Die geistlichen Herren scheinen die einzigen Überlebenden zu sein, und die Hunnenschar rüsteten sich nun im Verborgenen, um über die Jungfrauen herzufallen. Druf geschieht so viel, i ha jez nit der Zit; und endli zündet’s a, und brennt und brennt, wo boden isch, und niemes löscht.

Von der Gesamtzahl der geistlichen Personen und der strikten Trennung der Geschlechter her ähnelt das Bild Grünewalds Altarbild von den Nothelfern in der Pfarrkirche von Lindenhardt, auf dem die drei Nothelferinnen hinter dem Rücken des heiligen Georg ihre gleichförmigen orientalischen Köpfe zu einer Verschwörung gegen die Männer zusammenstecken. Ein Boot, das zu verlassen wäre, gibt es nicht, Georg aber steht am Bildrand eine Handbreit über der Welt und wird gleich über die Schwelle des Rahmens wie über eine Reling treten. Er kommt auf uns zu, außer den Bildbetrachtern erwartet ihn keine andere Delegation. Er geht wortlos an uns vorbei, später treffen wir ihn wieder als San Giorgio in einem Bild Pisanellos in der Kapelle der Pellegrini im Seitenschiff der Kirche Sant' Anastasia zu Verona. Auch dieses Bild wird er samt der Prinzessin von Trapezunt schon bald wieder verlassen, um gegen den Drachen zu ziehen, in Begleitung von sieben Berittenen, darunter ein kalmückischer Bogenschütze. Und wieder treffen wir ihn auf einem anderen Bild auf der Fahrt durch das Leben, der Drache, ein geringeltes, geflügeltes Tier, hat sein Leben ausgehaucht, der Ritter, von dem etwas herzbewegend Weltliches ausgeht, mit einem Strohhut auf dem Kopf, ohne den geringste Schatten der Schuldhaftigkeit, ist bereit für die neuzeitliche Zivilgesellschaft. Er bleibt gleichwohl fremd in dieser Welt, und als George Le Strange muß er den Helm des Kriegers erneut aufsetzen, der anschließende Rückzug ins Private ist dann radikal. Ein letztes Mal treffen wir den demissionierten Ritter als Giorgio Santini, Teil unseres demokratischen Gemeinwesens, als Hochseilartist und Levitationskünstler wie Sebald aber doch randständig.

Pierre Michon zielt mit seinem Buchtitel Les Onze nicht auf die Ursulinen und mischt sich in den Streit der großen und kleinen Zahlen nicht ein. Seine Elf sind: Billaud, Carnot, Prieur, Prieur, Couthon, Robespierre, Collot, Barère, Lindet, Saint-Just, Saint-André: les Commissaires, le Grand Comité de la Grande Terreur, die Hunnen der Aufklärung in unserer Mitte, tous ensemble, en bonne séance fraternelle, comme des frères. Es handelt sich in der Darstellung Michons bei den Mitgliedern des Komitees samt und sonders um gescheiterte oder allenfalls maßvoll erfolgreiche Literaten mit Ausnahme von - da es immer eine Ausnehme geben muß – Jeanbon Saint-André, der weiter nicht geschrieben hat. Robespierre wird ausdrücklich jede Kommentierung verweigert. Der besseren Übersicht halber hat Michon die elf Kommissare an Bord eines Bildes verfrachtet, das es nicht gibt, gemalt von einem Maler, den es nicht gegeben hat. Über beide, das Bild und mehr noch den Maler, werden wir gleichwohl detailliert ins Bild gesetzt. Billaud, l’habit de pékin et les bottes; Carnot, la houpellande, l’habit de pékin et les bottes; Prieur de la Côte-d’Or, à la nation, plumet sur la tête; Prieur de la Marne, à la nation, le plumet sur la table; Couthon, l’habit de pékin et les inutiles souliers à boucle sur les pieds de paralytique, dans la chaise de soufre; Robespierre, l’habit de pékin et les souliers à boucle; Collot, la houpellande, l’habit de pékin et les bottes, pas de cravate; Barère, l’habit de pékin et les souliers à boucle; Lindet l’habit de pékin et les souliers à boucle; Saint-Just, l’habit de l’or; Jean Bon Saint-André, à la nation, le plumet à la main.
Die Absicht der Auftraggeber, die Robespierre und seine beiden engen Vertrauten in die Mitte des Bildes beordert hatten, war taktisch-politisch und hatte zwei Möglichkeiten im Sinn. Falls Robespierre dauerhaft reüssierte, sollte das Bild seinen Personenkult begründen, falls er scheiterte, sollte er, um den Gang zur Guillotine zu beschleunigen, öffentlich als Auftraggeber des Bildes und Selbstbegründer seines Personenkults entlarvt werden. Die Auftragserteilung ist aber Teil des Gesamterfindung des Autors, was hatte er im Sinn, als der die Elf ins Bild verfrachtete?

Das Bild der Elf ist an einem Vorzugsort im Louvre untergebracht als überragendes Zeugnis der Geschichte, aber auch als überragendes Kunstwerk. Der Maler, François-Èlie Corentin - sein Vater auch ein gescheiterter Literat -, ist ein Schüler Tiepolos, dem Mozart der Malerei, wie es heißt, und ihm ebenbürtig als der Tiepolo de la Terreur. Die Gestaltungsabsicht des Autors kann sich kaum auf eine fiktive Bereicherung des Louvre und des kulturellen Erbes Frankreichs beschränkt haben. Erfaßt ist eine Zeitspanne, une période qui est comme le comble de l’Histoire, et que par conséquent on appelle très justement la Terreur, une fin d’hiver, un printemps et le début de l’été, depuis la neige de nivôse jusqu’à la main chaude de thermidor. Besteht nicht das Verlangen, die Verbindung von comble et terreur, von historischem Höhepunkt und Höhepunkt des Versagens und der Schande aufzulösen, die Protagonisten des Terrors einzusperren in ein Bild wie auf ein Gefängnisschiff, so daß eine freigegebene Geschichte unbehelligt daran vorbeiziehen möge. Eine Läuterung der Inoklasten – ein Glück nur, wenn die Werke des Malers der Ursulalegende vor ihnen gerettet werden konnten – durch die Sicherheitsverwahrung im Kunstwerk ist nicht zu erwarten, der Gedanke an Resozialisierung entfällt.

Sebald hat Rousseau auf der Peterinsel besucht und Napoleon auf Korsika, wo er dann schnell die Lust an ihm verloren hat, den genauen Punkt, als, kaum daß die Vernunft am Ruder stand, allenthalben auch schon das Fallbeil zu hören war, quarante têtes par jour, hat er gemieden und sich, auf eine verborgene Weise, an den mythischen, von Schuldhaftigkeit freien Frühaufklärer Georgius Miles gehalten und ihm ein wechselvolles Leben bis in unsere Tage verliehen.

Zwei Bilder und eine Bildserie also. Die Ursulinen können das Schiff verlassen aber nicht das Bild, auch der Märtyrerinnentod führt sie nicht heraus aus dem mittelalterlichen Rahmen, begründet er doch vielmehr erst ihre Bildberechtigung. Der heilige Georg wagt als erster den mutigen Schritt, springt dann zunächst von Bild zu Bild, ähnlich jemandem, dessen Boot am Steg in dritter Reihe lag, bevor er endgültig den festen Boden der Realität betritt. Daß es ihm dort nur wohl erginge, läßt sich nicht behaupten. Les Onze werden nach ihrer wahrhaft ruchlosen Schändung des realen Geschichtsverlaufs rückversetzt ins Bild, gut möglich, daß auch Georg zu diesem Zeitpunkt sich zurückgesehnt hat nach der Heimat im Kunstwerk.

Michon verlegt Corentins Geburtsort, als Fiktion innerhalb der Fiktion, in Tiepolos Deckenausmalung der Würzburger Residenz, précisément sur le mur sud de la Kaisersaal, dans le cortège des noces de Frédéric Barberousse. Il est le page qui porte la couronne du Saint Empire sur un coussin à glands d’or; on voit sa main sous le coussin, son visage un peu penché regarde la terre. Sebald hat sich schon als Kind, verkleidet als Max Aurach, für Tiepolos Würzburger Malereien nicht weniger begeistert. Ich starrte an der Seite des Onkels mit verrenktem Hals in die für mich zu jener Zeit bedeutungslose Pracht des Deckengemäldes von Tiepolo empor, wo unter einem bis in die höchsten Höhen sich aufwölbenden Himmel die Tiere und Menschen der vier Weltgegenden in einem phantastischen Leibergetümmel versammelt sind. Seltsamerweise sei der in Würzburg verbrachte Nachmittag ihm vor wenigen Monaten erst wieder in den Sinn gekommen, als er beim Durchblättern eines neuerschienenen Bildbands über das Werk Tiepolos lange sich nicht habe losreißen können von den Reproduktionen der monumentalen Würzburger Freskomalerei, von den darin dargestellten hellen und dunklen Schönheiten, von dem knienden Mohr mit dem Sonnenschirm und der wunderbaren Amazonenheldin mit dem Federputz auf dem Kopf. Einen ganzen Abend bin ich über diesen Bildern gesessen und habe versucht, mit einem Vergrößerungsglas tiefer und tiefer in sie hineinzusehen. François-Èlie Corentin hatte ich schon bald ohne große Mühe erkannt.

Dienstag, 14. Mai 2013

Verborgenheit

Aquarellskizzen

Ein Hund warf sich an ein grüngestrichenes eisernes Gartentor, völlig außer sich, als sei er um seinen Verstand gekommen. In immer neuen Anläufen rannte das Tier gegen das Gitter. Vielleicht hätten wir das Tier einfach auslassen sollen. – Jeder Hundebesitzer weiß, und die anderen können es bei Thomas Mann nachlesen, daß der Hund nach dem Öffnen der Tür möglicherweise wie verwandelt gewesen und freundlich auf die Passanten zugekommen wäre. Das Verhaltensrepertoire der Menschen unterscheidet sich von dem der Hunde, und als der junge Sebald Sternheim und Döblin vorübergehen sah, hat sich Sanftmut nicht eingestellt.
Langsam öffnete es sein von hellen Wimpern umsäumtes Auge und blickte mich fragend an. Ich fuhr ihm mit der Hand über den Rücken, strich ihm über das Gesicht und kraulte ihn hinter dem Ohr, bis er aufseufzte wie ein von endlosen Leiden geplagter Mensch. – Die meisten Leser sind froh, wenn sie die Rage der frühen Untersuchungen hinter sich lassen und in die freundliche Wärme des Landhauses eintreten können. Aber auch wissenschaftsferne Essayistik kann auf insistierendes Räsonnement nicht verzichten, so daß sich der Leser dann doch bald hinaus in die ungebundene Weite der Prosa sehnt.

An den Bildern Jan Peter Tripps sei ihm aufgegangen, so Sebald, wieviel verborgen liegt hinter dem Anschein der Dinge, oder, in der Sprache des Theoretikers: Die Spezifik der Kunstformen beruht darauf, daß die Bestimmung der einen, thematisierten Seite nicht völlig offen läßt, was auf der anderen Seite geschehen kann. Sie determiniert die andere Seite nicht, aber sie entzieht die Bestimmung der anderen Seite dem Belieben. – Und weiter: Kunst macht Wahrnehmung der Kommunikation verfügbar; Wahrnehmung und nicht Räsonnement. Damit ist die Grenze übertreten, und im Bereich der Kunst ist alles anders.
Es scheint, als könne der flüchtige, nicht insistierende Blick die Wahrnehmung des Verborgenen, das Erahnen der anderen Seite begünstigen. Der Wanderer schaut und zieht weiter. Er ist kein kühler Beobachter, sondern ständig von Schwindelgefühlen geplagt, keine zuverlässige Instanz. Die Sonne brach durch den Dunstschleier, und eine Brise strich das Ufer entlang. Die wenigen dunklen Figuren, die Gruppe der Pappelbäume, die Lichtflut über dem Wasser, das waren die Elemente der flüchtigen Aquarellskizze aus dem Jahre 1841 und also aus einer Zeit, in der Turner kaum noch reisen konnte, und wenn irgend etwas aus dem Gedächtnis auftauchte, geschwind mit einigen Pinselstrichen die sogleich wieder zerfließenden Visionen festzuhalten versuchte.

In seinen kritischen Arbeiten hat Sebald immer auf die Person hinter dem Werk geschaut, ein Mißgriff, wie manche meinen mögen, da er dabei der Person im Schlechten oder auch im Guten nach dem Maßstab seiner Prosa zu nahe kommen mußte. Das Prosawerk ist mit Personen bestückt, die nur einmal kurz auftauchen und dann nicht wieder, Empfangsdamen, Mitreisende, Lesegefährten: mit einem Wort Komparsen. Sie haben damit Teil an der Flüchtigkeit, die Sebald an Hebels Werk und Personal rühmt. Vergessen wird man sie aber nicht so leicht, sicher nicht die in einer dunklen Vorhalle der U-Bahn in einer Art Schalterhäuschen sitzende sehr schwarze Negerfrau, auf die wir nur einen einzigen kurzen Blick werfen, bei der sich jeder gleich sicher ist, that there is more to it than meets the eye. Flüchtig sind aber auch die Protagonisten, die einer Erzählung ihren Namen geben, ganz besonders Ambros Adelwarth, den wir eigentlich nie zu Gesicht bekommen und der immer nur in verschiedenen Phasen seines Lebens als Schemen für kurze Zeit in der Erzählung eines Mittelsmanns auftritt und zudem zunehmend durch die Gestalt des Cosmo Solomon verstellt wird.

Ob Cornelis de Jong, Frederick Farrar, Alec Garrad oder Max Aurach: nur sie reden, Selysses, nicht nur Kunstfigur, sondern auch Repräsentant der Kunst, hört zu und gibt wieder, nie urteilt er, nimmt nie eine abweichende Stellung ein, nur so kann das Verborgene erscheinen. Der Venezianer Malachio, eine Zufallsbekanntschaft, Selysses trifft in einer Bar an der Riva, ist vielleicht das schönste Beispiel. Er ist Astrophysiker aus Cambridge und sieht alles aus größter Ferne, läßt die Welt als das All vor uns erscheinen. Sein gegenwärtiges Interesse aber gilt den Fragen der Auferstehung und zumal dem Satz, demzufolge unsere Gebeine und Leiber von den Engeln dereinst übertragen werden in das Gesichtsfeld Ezechiels. Antworten hat er nicht gefunden, aber ihm reichen die Fragen, die ins Verborgene führen. Er verabschiedet sich mit dem Gruß: Ci vediamo a Gerusalemme, über dessen Sinn Selysses grübelt, ohne daß er die Antwort finden könnte, das Grübeln wird ihm reichen. Dann ist Malachio verschwunden, drei Bücher später taucht sein Widerschein auf in der Gestalt des Gerald Fitzpatrick, ebenfalls Astrophysiker aus Cambridge, nicht den Engeln zugetan, aber anderen Flugsub- und -objekten. Der Theoretiker: Der Reichtum an Möglichkeiten der Kunst beruht auf einer Imitation der Differenzstruktur von Raum und Zeit – aber nicht, wie man lange geglaubt hat, auf einer Imitation der realen Raum/Zeit-Welt.
Eine so nahe am Kern der Kunst gelegene Erzählwelt kann nicht mit Intrigen oder gar den sogenannten wirklichen Sorgen der Menschen belastet werden. In einer holländischen Stadt kommt, durch kein eisernes Gartentor von ihm getrennt, ein morgenländisch aussehender Mensch auf Selysses zugestürzt, das blanke Entsetzen im Antlitz, verfolgt von einem seiner Landsleute dessen Augen geradezu glänzten vor Mordlust und Wut, ein langes, blitzendes Messer in der Hand. Irgendeine Anstrengung, der Mordattacke auf den Grund zu kommen, wird nicht unternommen. Das genrebedingte Erhellen des Verborgenen ist das Leid des Kriminalromans.