Montag, 29. Juli 2013

Nachtquartiere

Through the night

Statistisch verbringt die überwiegende Mehrzahl der Menschen die bei weitem überwiegende Mehrzahl ihrer Nächte in der eigenen Wohnung, für Selysses aber, so könnte man meinen, ist das Seltene die einzige Regel. Zu Beginn der Ausgewanderten begegnen er und seine Frau Clara uns auf der Suche nach einer Wohnung, die sie im Haus des Dr. Selwyn finden. Später heißt es, Clara habe ein Haus gemietet. In diesem Haus oder einer anderen eigenen Wohnung werden wir Selysses nie antreffen, übernachten sehen wir ihn immer allein und ausschließlich in Hotels und Pensionen. Der Bericht über die Hotelaufenthalte hat jeweils die folgenden möglichen Teile: Erster Anblick der Herberge; Betreten der Herberge; Anmeldung an der Rezeption; Entgegennahme des Schlüssels; Umsehen im Zimmer; Einnehmen des Nachtmahls im Hotel; die Nacht, Schlaf und Schlaflosigkeit, Traum; Frühstück; Verlassen des Hotels. Kein Hotelaufenthalt weist sämtliche Teile auf, und keine zwei werden das gleiche Muster bei der Inanspruchnahme der Teile aufweisen. Fast jeder Hotelaufenthalt hat, ganz abgesehen von seiner jeweiligen Individualität, was etwa den Ort anbelangt, eine erzählerische Besonderheit, die sich an anderer Stelle nicht wiederholt. Gehen wir die Übernachtungen durch, in der Reihenfolge der Bücher, beginnend als mit den Schwindel.Gefühlen.

Selysses ist bereits in Wien, als die Erzählung All’estero einsetzt, eine Hotelunterkunft hat er sich ohne unser Dabeisein besorgt. Er verbringt ungefähr zehn Tage in der Stadt, irgendwann wundert er sich angesichts der zunehmenden Auflösung seiner Person, daß er weiterhin in einem Hotel wohnt und nicht als Sandler auf der Straße. Während er, die Plastiktasche mit gekreuzten Armen gegen die Brust gedrückt, im Foyer auf den Lift wartet, spürt er den langen fragenden Blick des Nachportiers in seinem Nacken. Die zerfetzten und herrenlosen Schuhe, Schnee und Schuhe zuhauf – mit diesen Worten im Sinn legt er sich nieder. Am nächsten Morgen erwacht er nach einem tiefen, traumlosen Schlaf, den nicht einmal die vom Ring heraufdringenden Brandungsgeräusche der Verkehrsströme hatten stören können.

Das zweite Schlafquartier ist kein Hotel, sondern der Nachtzug von Wien nach Venedig. Beruhigt von dem geschwinden Fahren ist Selysses bald in den Schlaf gesunken, und im Schlaf hat er ein unvergeßliches Landschaftsbild gesehen. Über den Dächern erhoben sich dunkel bewaldete Kogel, die schwarzgezackte Höhenlinie wie ausgeschnitten aus dem Gegenschein des Abendlichts. Aufgewacht ist er erst mit dem Gefühl, daß der Zug nun aus dem Gebirge heraus- und in die Ebene hineinstürzte. Dunkle schmale zerrissene Täler öffneten sich, nach und nach brachte das Morgengrauen verschobenes Erdreich, Felsbrocken, Schutt- und Schotterhalden schemenhaft an den Tag.
Als Selysses in Venedig nach dem Bootsausflug mit Malachio in das Hotel zurückkehrt, liegt alles schon in den Betten, sogar der Nachtportier ruht wie aufgebahrt auf einem engen, seltsam hochbeinigen Lager. Im Fernsehen zittert das Testbild, einzig die Maschinen haben begriffen, daß man nicht mehr schlafen darf. Selysses selbst wird schon bald von der Müdigkeit übermannt. Während er in Wien, Frankfurt oder Brüssel immer vom einsetzenden Verkehrslärm aufgewacht ist, wird er in Venedig gleichsam von der Stille geweckt, nur einzelne Rufe, das Flügelklatschen der Tauben. Mit gelegentlichen Aufzeichnungen und mehr noch mit Nachdenken beschäftigt, verläßt er das Zimmer nicht mehr, vom Hauskellner läßt er sich Rotwein und Butterbrote bringen. In einem Tagtraum erscheint ihm die Krankenhausinsel La Grazia wie ein großes Schiff, aus dem Tausende von Irren herausschauen, der heilige Franz liegt in einem schwankenden Schilfbeet mit dem Gesicht nach unten im Wasser, und über die Sümpfe schreitet die heilige Katharina. Eine zweite Nacht vergeht und eine dritte, die Glieder werden aufgrund der Bewegungslosigkeit immer kälter und starrer. Ein heißes Bad und die Reste des Rotweins und der Brote setzen ihn soweit instand, daß er seine Sachen packen und sich auf den Weg machen kann. Ausgehend vom Bild eines regulären Hotelaufenthalts, ist auch der hart erkämpfte Cappuccino in der Ferrovia noch als Teil der Übernachtung anzusehen.

In Limone bezieht Selysses weniger ein Hotel, als daß er heimkehrt zu Luciana, seinem angetrauten Weibe, die ihn nährt und labt und seine Gedankenwelt mit ihm teilt. Die Nacht muß er freilich allein verbringen, denn die Trauung vor dem Postenkommandanten Dalmazio Orgiu findet erst am darauffolgenden Tag statt. Auch aus anderen Gründen verläuft die Nacht nicht erfreulich. Ich legte mich auf mein Bett und verschränkte die Arme unter dem Kopf. An ein Einschlafen war nicht zu denken. Von der Terrasse herauf drang der Lärm der Musik und das Stimmengewirr der großteils schon angetrunkenen Gäste. Anders als der Held der Odyssee hat Selysses nicht die Kraft, die lästigen Freier zu vertreiben.

Im Hotel Boston zu Mailand kommt die Signora, ein völlig ausgetrocknetes Wesen von sechzig bis siebzig Jahren aus dem Fernsehzimmer hervor und hält skeptisch ihren Vogelblick auf Selysses gerichtet, der keinen Paß vorweisen kann. Schließlich ruft sie ihren Mann, der auf den Namen Orlando hört und nun gleichfalls aus dem Fernsehnzimmer herauswankt, wo er, wie die Signora, in tiefen Dämmer versunken gewesen war. Selysses erzählt seine Geschichte nochmals von vorn und sogar ihm selbst erscheint sie jetzt unglaubwürdig. Halb mitleidig, halb verächtlich wird ihm schließlich ein alter eiserner Schlüssel mit der Nummer 513 (in Worten: ... dreizehn) ausgehändigt. Ein langer Korridor, viel zu lang für das schmale Haus, führt leicht abschüssig, wie mir vorkam, an den Zimmertüren vorbei, die in Abständen von kaum mehr als zwei Metern aufeinander folgen. Es ist wie ein Gang in die Arrestzelle. Die armen Reisenden, geht ihm durch den Kopf, immer anderwärts, der Schlüssel dreht sich im Schloß. Stunden, endlose Stunden verfließen, ohne daß er zur Ruhe kommen konnte. Schon gegen Morgen erhebt er sich und stellt sich in das schräg ins Zimmer hineinragende Brausebecken. Lang ließ ich das Wasser herablaufen an mir. Endlich glaubte ich den ersten Schein wahrnehmen zu können, hörte den Schrei einer Amsel. Erst jetzt ist an Schlaf zu denken. Er macht die Augen zu, unter meinen geschlossenen Lidern beginnt es zu leuchten, ecco arcobaleno! Über einem weiten grünen Kukuruzfeld schwebt mit ausgebreiteten Armen eine Klosterfrau, die mir aus meiner Kindheit vertraute Schwester Mauritia.

In Verona erlebt Selysses ein Hotelwunder, das kaum genug gewürdigt werden kann. In der Goldenen Taube war wider alles Erwarten ein ihm in jeder Hinsicht aufs beste zusagendes Zimmer zu haben und er sieht sich, daran gewöhnt zumeist schlecht bedient zu werden, von einem an Ferdinand Bruckner erinnernden Portier und der anscheinend eigens in der Halle sich einfindenden Geschäftsführerin des Hotels mit der ausgesuchtesten Zuvorkommenheit behandelt. Seinen Ausweis braucht er nicht vorzulegen, der Portier hebt seine Tasche auf und geht ihm voraus in das Zimmer voraus, wo er sich mit einer Verbeugung von ihm verabschiedet. Die Nachtruhe, die er unter dem Dach der Goldenen Taube genießt, grenzt, wie das anschließende, ihm als würdevoll in Erinnerung gebliebene Frühstück, ans Wunderbare. Könnten Nachtquartiere heilig gesprochen werden, alle Bedingungen wären erfüllt. - Das Hotel oberhalb von Bruneck, am Ende der Vegetation gelegen, mit Blick auf den Großvenediger, bleibt, obwohl Selysses dort den gesamten Oktobermonat verbringt, für uns ein bloßer Schatten, ohne Konturen.

Die Empfangsszene im Engelwirt in der Ortschaft W. zählt zu den ausführlichsten im Werk. Schließlich ist es der Empfang in der Heimat, das Prädikat der Herzlichkeit verdient er sich allerdings nicht. Hinter der Rezeption war, nachdem sich auf mein Läuten lang nichts gerührt hatte, eine sehr wortkarge Dame aufgetaucht. Ich hatte nirgends eine Tür gehen hören, nirgends sie hereinkommen sehen, und doch war sie auf einmal dagewesen. Mit unverhohlener Mißbilligung musterte sie mich, sei es wegen meiner von der langen Wanderschaft in Mitleidenschaft gezogenen äußeren Erscheinung, sei es wegen meiner ihr unerklärlichen Geistesabwesenheit. Sie hielt, als sei es ihr kalt, mit der Linken die Strickjacke zusammen und erledigte umständlich und ungeschickt alles nur mit der anderen Hand, wodurch sie, wir mir schien, sich Bedenkzeit gewinnen wollte diesem eigenartigen Novembergast gegenüber. Während der ersten Tage habe ich den Engelwirt nicht verlassen. Die Nacht über von Träumen geplagt und erst am Morgen zur Ruhe kommend, habe ich den ganzen Vormittag verschlafen. Den Nachmittag über bin ich, mit meinen Aufzeichnungen und dem damit verbundenen Nachsinnen beschäftigt, in der leeren Gaststube gesessen und am Abend habe ich über meine vorgebliche Zeitungslektüre hinweg den Gesprächen der Bauern zugehört. Wochen später, beunruhigt von den ersten Vorbereitungen für den Saisonbeginn, entschloß ich mich abzureisen.
In den Vier langen Erzählungen treten die Reisen und Erlebnisse des Selysses zurück hinter die des jeweiligen Protagonisten, zu Beginn der Erzählung Max Aurach ist er aber noch in eigener Mission unterwegs, und es gilt, mit Hilfe des Taxifahrers in Manchester eine nicht allzu teure Unterkunft für eine unbestimmte Dauer zu finden. Der Wagen hält schließlich vor einem kaum zwei Fenster breiten Haus, an dessen rußgeschwärzter Fassade in geschwungener Leuchtschrift der Name Arosa angebracht war. Das von Gracie Irlam geleitete Hotel Arosa wird für längere und schwierige Zeit Selysses’ Quartier sein mit einem elektrischen Teeapparat und einer darin eingelassenen Weckuhr als engstem Gefährten. Das absonderliche Gerät wird ihn durch sein nächtliches Leuchten, sein leises Sprudeln am Morgen und durch sein bloßes Dastehen untertags am Leben festhalten lassen. Auch Nabokow im Exil hatte zunächst Lolita veröffentlichen müssen, bevor er das Montreux Palace beziehen konnte. Die Pension Elisabeth Schmidt in der Berliner Trautenaustraße stellt man sich so schlicht vor wie Gracie Irlams Arosa, und auch in Montreux noch quälte der Dichter, der uns in den Ausgewanderten nahezu so oft begegnet wie Selysses, sich durch lange schlaflose Nächte.

Eine frühe imaginäre Amerikanisierung der eigenen Person habe bald einer gegen alles Amerikanische gerichteten Abneigung Platz gemacht, bekennt Selysses, und nichts sei ihm absurder erschienen als der Gedanke, einmal ungezwungenermaßen eine Reise nach Amerika zu unternehmen. Der Aufenthalt im Lande führt offenbar zu einer neuerlichen Revision seiner Einstellung. Mit Freude erfüllt das Dahinrollen auf den Highways, und auch das Guesthouse in Ithaca hinterläßt einen günstigen Eindruck. Beruhigend ist schon, daß der greise Portier ganz und gar dem Cicerone in der Arena von Verona ähnelt, so stark vorübergebeugt, wie er geht, war er mit Sicherheit nicht imstande, von seinem Gegenüber mehr als die Beine und den Unterleib wahrzunehmen. Eine wunderbare Mahagonistiege vermittelte das Gefühl, als schwebe man gleichsam hinauf. Öffnete man eines der hohen Fenster des geräumigen Zimmers, so schaute man mitten hinein in den wogenden Schatten einer aus Tiefe heraufragenden Zypresse. Das beständige Rauschen rührte aber nicht von dem Wind in den in den Bäumen, sondern von den in geringer Entfernung niedergehenden Ithaca Falls. Todmüde legt Selysses sich nieder und verfällt gleich in einen tiefen Schlaf.

Nach Deauville reist Selysses in der vagen Hoffnung und entgegen jeder vernünftigen Annahme, Spuren der Welt zu finden, in der Cosmo Solomon und Ambros Adelwarth sich bewegt hatten. Das Grand Hôtel des Roches Noires, in dem sich um die Jahrhundertwende amerikanische Multimillionäre, englische Hocharistokraten, französische Börsenkönige und deutsche Großindustrielle gegenseitig die Ehre gaben, ist nicht mehr betretbar. Das 1912, also im vorletzten Jahr des neunzehnten Jahrhunderts, fertiggestellte Hôtel Normandy ist auch jetzt noch ein Haus der gehobenen Klasse, ohne daß aber vom Flair vergangener Tage irgendetwas geblieben wäre. Selysses ist offenbar der einzige Gast neben einer Unzahl von Japanern, die hier auf der dritten Station einer Globusglücksreise nach Las Vegas und Atlantic City eingetroffen sind. Es bleibt kein anderer Ausweg, als nachts im Hotelzimmer den verblichenen Glanz herbeizuträumen, die Comtesse de Montgomery, die Comtesse de Fitz James, die Baronin d’Erlanger, die Marquise de Massa, die Rotschild &c. Die Zauberküste auf fünf Seiten. Schließlich trifft er am Roulettetisch auch den Cosmo und den Ambros. Aus dem Deauviller Traum erwacht, tritt Selysses ans Fenster seines Hotelzimmers. Der Morgen bricht soeben an. Farblos noch geht der Strand in das Meer und das Meer in den Himmel über. - Das Motiv der Luxushotels der Jahrhundertwende taucht noch verschiedentlich auf, allerdings ohne daß es mit einer Einnachtung des Selysses verbunden wäre. In Austerlitz ist es das Londoner Great Eastern Hotel in der Liverpool Street, in dessen Salon Bar Selysses wie üblich durch einen Zufall sondergleichen mit dem Titelhelden des Buches zusammentrifft, und in Manchester ist es das Midland Hotel, in dessen Überresten Aurach, zu Geld gekommen, sich einlogiert. Ambros Adelwarth beginnt seine Karriere als apprenti garçon im weltberühmten Grand Hotel Eden in Montreux und die gleichen Hotels, in denen Cosmo Solomon soviel Geld wie möglich verbrennt, umwerben Fritz, den Schulfreund aus dem Allgäu, als Meisterkoch.

Kissingen vermittelt Selysses kaum freundliche Eindrücke, Schon bei der Anreise ist er dem deprimierenden Anblick des Brotzeiters ausgesetzt und dem der alten Frau, die für die Vertilgung eines einzelnen Apfels eine volle Stunde benötigt. Das Foyer des Hotels ist so leer wie der Bahnhofsvorplatz und die Empfangsdame mustert ihn mit einem Blick, als befürchte sie von ihm einen Hausfriedensbruch. Im Lift sieht er sich einem gespenstischen alten Ehepaar gegenüber, das ihn mit einem Ausdruck unverhohlener Feinseligkeit, wo nicht gar des Entsetzens anstarrt. Die Nachtruhe mag gleichwohl zufriedenstellend verlaufen sein, man hört nichts Gegenteiliges.
Der Wanderer der Ringe des Saturn ist auf Hotels kaum weniger angewiesen als der Reisende der Schwindel.Gefühle, und doch mindert offenbar die Nähe zu Selysses’ festem Wohnsitz ihre erzählerische Bedeutung. In Lowestoft nimmt Selysses Quartier im Victoria, einst ein Promenadenhotel of a superior description. Jetzt wandert Selysses längere Zeit durch völlig verlassene Räume, ehe er auf eine verschreckte junge Frau stößt, die ihm, nach einigen zwecklosen Herumsuchen im Register der Rezeption, einen mächtigen, an einer hölzernen Birne hängenden Zimmerschlüssel reicht. Das Zimmer lernen wir nicht kennen, die Aufmerksamkeit richtet sich allein auf das Abendbrot, das Selysses in dem großen Speisesaal einnimmt, ein Ort, an dem wir ihn sonst nie antreffen. Möglich ist ihm das wohl nur, weil er der einzige Gast ist, Selysses speist nicht in Gesellschaft.

Im Crown Hotel Southwold hat Selysses sich offenbar für mehrere Tage einquartiert, als Ort der Nachtruhe tritt das Etablissement aber kaum in Erscheinung. Am Nachmittag sitzt er bis zur Teestunde in dem Barrestaurant des Hotels. Am Abend des zweiten Tages schläft er im Samtfauteuil vor dem Fernseher ein und verpaßt die Sendung über Roger Casement. Schließlich kommt er in der Bar des Crown Hotels mit einem Holländer namens Cornelis de Jong ins Gespräch, unüblich und auffällig, da Selysses gemeinhin in Hotels nicht auf Mitbewohner stößt oder aber sie nicht wahrnimmt und jedenfalls keine Worte mit ihnen wechselt.

Die beiden Hotelaufenthalte in Holland finden nicht in der aktuellen Erzählzeit der Ringe des Saturn statt, sondern als Erinnerung an zurückliegende Ereignisse. Das Hotel in Den Haag wird ausdrücklich der zweifelhaften Kategorie zugeordnet. Ob sein Name nun Lord Asquith, Aristo oder Fabiola gewesen ist, das Etablissement erfüllte selbst den bescheidensten Reisenden mit einem Gefühl der tiefsten Niedergeschlagenheit. In der Rezeptionsnische saßen zwei nicht mehr ganz junge, offenbar seit langem miteinander vermählte Herren und zwischen ihnen, an Kindes satt sozusagen, ein aprikosenfarbener Pudel. Nachdem er Zeuge eines auch für ihn selbst nicht ungefährlichen Attentats geworden war, liegt Selysses verstört von den Nachwirkungen des Erlebnisses auf dem Bett. Wegen der Schwüle konnte man die Fenster nicht geschlossen halten, und wenn man sie öffnete, hörte man einen unerträglichen Verkehrslärm von der Kreuzung herauf.

Ganz anders im nur wenig entfernten Amsterdam. Gegen Abend saß ich in dem stillen, mit alten Möbeln, Bildern und Spiegeln ausgestatteten Salon eines mir von früher her bekannten Hotels am Vondelpark und machte verschiedene Aufzeichnungen über die Stationen meiner nun bald abgeschlossenen Reise. Dann war es Nacht geworden und ich saß im Dunklen auf meinem Zimmer im Dachgeschoß und horchte auf die Sturmböen, die jetzt die Kronen der Bäume durchwogten. Von fern her rollte der Donner. Ein fahles Wetterleuchten ging um den Horizont. Einmal, als wieder ein Blitz über den Himmel fuhr, blickte ich hinab in den weit unter mir liegenden Garten des Hotels und sah dort, in dem breiten Graben, der den Garten vom Park trennt, im Schutz der niederhängenden Zweige einer Trauerweide ein Entenpaar, reglos auf der von grasgrüner Grütze ganz und gar überzogenen Fläche des Wassers. 
In Austerlitz treten die Reisen des Selysses zurück hinter denen des Titelhelden. Zwei Hotelaufenthalte sind zu betrachten. Ich hatte mir in einem kleinen Hotel auf der Kampainsel ein Zimmer genommen, saß dort bis zum Dunkelwerden am Fenster und schaute auf das graubraune, träge dahinfließende Wasser der Moldau hinaus. Die ganze Nacht bin ich teils schlaflos gelegen, teils geplagt worden von unguten Träumen. Der Volksstamm der Azteken sei ausgestorben, erfährt Austerlitz, höchstens daß hie und da ein alter Papagei überlebte, welcher noch etliche Worte der Sprache versteht. Ein prophetischer Traum wohl, mit einer schlechten Prognose für die eigenen Recherchen.

Das Palace Hotel in Marienbad ist im gesamten Prosawerk das einzige, in dem nicht ein einzelner Reisender an den Rezeptionstisch tritt, sondern, mit Marie de Verneuil und Austerlitz, ein Paar. Es brauchte eine geraume Zeit, bis der Empfangsportier, der in seiner engen Loge an einem Stehpult stand, von seiner Lektüre aufblickte, um sich den späten Gästen zuzuwenden mit einem kaum hörbar gemurmelten Dobry vecer. Dieser ungemein magere Mann, an dem einem als erstes auffiel, wie sich, trotzdem er nicht mehr als vierzig sein konnte, seine Stirne fächerförmig in Falten legte, erledigte mit der größten Langsamkeit, beinahe so als bewegte er sich in einer dichteren Atmosphäre, ohne ein weiteres Wort die notwendigen Formalitäten, verlangte unsere Visa zu sehen, blätterte in den Pässen und in seinem Register herum, machte mit einer kraxligen Schrift einen längeren Eintrag in ein kariertes Schulheft, ließ uns einen Fragebogen ausfüllen, kramte in seiner Schublade nach dem Schlüssel und brachte schließlich durch das Läuten einer Klingel einen krummen Dienstmann herbei, der einen mausgrauen, ihm bis zu den Knien reichenden Nylonkittel trug und, nicht anders als der Empfangschef des Hauses, geschlagen war von einer seine Glieder lähmenden krankhaften Müdigkeit. Das Zimmer, das für uns aufgesperrt wurde, hatte die Nummer 38, - ein großer, geradezu salonartiger Ort. Die Wände waren mit einer burgunderfarbene, an manchen Stellen arg verschossenen Brokattapete überzogen. Auch die Portieren und das Bett, das in einem Alkoven stand, stammten aus einer vergangenen Zeit. Tatsächlich sei er, so Austerlitz, nie zuvor in seinem Leben besser einschlafen als in dieser ersten mit Marie gemeinsam verbrachten Nacht. Aber vor dem Morgengrauen noch erwacht er mit einem abgründigen Gefühl der Verstörung und muß sich wie ein Seekranker aufrichten und an den Bettrand setzen. Am Morgen tauchten die großen Hotelpaläste aus dem Frühnebel auf wie Ozeandampfer auf einem dunklen Meer.

In zwei der vier langen Erzählungen begleiten wir Selysses bei der Wohnungssuche. In Manchester bringt er es aus eigener Kraft nur zum Aufenthalt in einer Pension, zusammen mit Clara mieten die Vermählten im Hause Selwyns eine Wohnung an, und es ist Clara, die schließlich ein Haus ersteht. Für den, was diesen Erfolg anbelangt, gleichsam nicht verantwortlichen und ungläubigen Selysses ist, zumal in den Schwindel.Gefühlen, dem ersten Prosawerk, jeder Hotelaufenthalt eine Wiederholung des Versuchs, in der Fremde, all’estero, eine Heimstatt, patria, zu finden. Wie Selysses seine Nachtquartiere auswählt, erfahren wir in der Regel nicht. In Manchester hatte er den Taxifahrer nach einem nicht allzu teurem Hotel gefragt und ihm die weitere Entscheidung überlassen. Wohin es ihn verschlägt, immer anderwärts, so auch in Wien, Venedig, Mailand, Herbergen der gleichen Güteklasse, so als gelte es, einer in Manchester noch nicht ausgeschöpften und wenig angenehmen Wahrheit weiter nachzugehen. Absteigen – das Arosa ist auch ein Patíbulo für die travelling gentlemen - und seltsame Hospize, das Hotel als Totenstatt in Venedig, es gilt: je fragwürdiger der Ort der Übernachtung, desto ertragreicher ist er existentiell und erzählerisch.

Daneben stehen die Orte gepflegte Gastlichkeit etwa in Verona, Ithaca oder Amsterdam. Als solche bedeuten sie Selysses nicht viel. Das Wohlbefinden in Verona geht an ihm vorüber, es ist real aber trotz der erwogenen Heiligsprechung in gewissem Sinne nicht wahr. Es kann ihn nicht betreffen, einer der Gründe, warum er sich in ironischer Distanzierung unter falschem Namen als Jakob Philipp Fallmerayer einträgt. In der Erinnerung bleibt nur Bruckner, der hier als Portier Dienst tut. Auch in Amsterdam und Ithaca ist nicht so sehr die gute Unterbringung bedeutsam und wertvoll, sondern verschiedene Einzelheiten, die im Licht des Blitzes erscheinenden Enten auf dem Grützteich, der Treppenaufgang, die Zeder, der Wasserfall. Gänzlich hors catégorie ist naturgemäß der Aufenthalt in Limone, das erlebte Glück besteht aus Illusionen, Träumereien und Andeutungen, es ist nicht real aber wahr.

Auf der Ebene der Luxushotels erleben wir den Glanz der Vergangenheit. In der Vorbereitung des Passagenwerks notiert Benjamin: Wie Proust seine Lebensgeschichte mit dem Erwachen beginnt, so muß jede Geschichtsdarstellung mit dem Erwachen beginnen, ja sie darf eigentlich von nichts anderem handeln. So handelt diese vom Erwachen aus dem neunzehnten Jahrhundert. Sebald ist, ebenso wie Proust, kein Historiograph oder Geschichtsphilosoph, aber als Dichter steuert er immer wieder zu auf das Jahr 1913, als dem letzten des neunzehnten Jahrhunderts, mit dem bösen Erwachen im Jahr darauf. Als Selysses, erwacht aus dem Deauviller Traum, der ihn zurückgetragen hatte in das Jahr 1913, ans Fenster des Hotelzimmers tritt, sieht er eine auf das geschmackloseste zusammengerichtete Person, vermutlich das Gespenst der Gräfin Dembowski, die ein weißes Angorakaninchen an der Leine spazieren führt. Ein giftgrün livrierter Clubman hält ihm immer dann, wenn es nicht weiter will, ein Stückchen Blumenkohl vor. - Da stellt sich die Frage: Ist Selysses wirklich erwacht in Deauville? Ob Wach- oder Traumbild, in jeden Fall ein ganz und gar surrealistisches Bild. Bei Benjamin heißt es weiter: Der Surrealismus ist das Sterben des letzten Jahrhunderts in der Komödie. In einer Art grauem Schattendasein erhalten war das neunzehnte Jahrhundert an verschiedenen Orten des sozialistischen Reiches, so im Palace Hotel Marienbad.

Hotels sind bei Sebald nicht gestaltet als places where people meet. Einzig im Crown Hotel kommt er einmal ins Gespräch mit jemandem, dem Niederländer Cornelis de Jong. Wie die Städte scheinen auch die Herbergen wie leergefegt. Im Engelwirt und im Victoria in Lowestoft wird Selysses ausdrücklich als der einzige Gast vorgestellt, ansonsten sind die Hotelgäste bestenfalls huschende Schatten am Horizont. Die Gespräche der Bauern im Engelwirt belauscht er in bester Detektivmanier heimlich, versteckt hinter einer Zeitung: er arbeite an einem Kriminalroman, hatte er Luciana wissen lassen. Kontakt hat Selysses nur mit dem Servicepersonal und das nur einmal und intensiv beim Betreten des Hotels. Stellt man sie sich versammelt vor an einem Ort, schaut man auf ein seltsames, von zahlreichen Gebrechen geplagtes Volk. Der Zimmerservice wird in Anspruch genommen, anscheinend aber stumm und ohne Blickkontakt. Daß Selysses seine Hotelrechnungen bezahlt, nehmen wir an, ohne es aus dem Text heraus bezeugen zu können.
Selysses verbringt nicht nur die Nächte in Hotel, meistens ungute, immer wieder aber auch unbeschadete, sondern häufig auch die Tage, die meisten naturgemäß im, wenn man so sagen will: Urhotel Arosa in Manchester, wo ihn in der Nacht das Leuchten und am Tag das bloße Dastehen der teas-maid am Leben erhält. In Wien und Venedig sind die Hoteltage nicht besser als die Nächte, besser wird es nur, wenn die Aufzeichnungen, das Schreiben an die Stelle der teas-maid tritt, im Hotel unterhalb des Großvenedigers, in der Gaststube des Engelwirts oder im Salon des Privathotels in Amsterdam. Hors catégorie ist in Limone nicht die Nacht, sondern der Tag.

Sonntag, 7. Juli 2013

Hotel Boston

Tiempos muertos


Vargas Llosa führt in seinem Aufsatz zu dem mittelalterlichen katalanischen Roman Tirant lo Blanch aus: Las corrientes anímicas de una novela siguen una línea fluctuante, desigual, debido a los irremediables tiempos muertos, aquellos episodios indispensables, pero que tienen un valor puramente relacional. Diese, nicht allein Tirant lo Blanch, sondern allgemein die Gattung des Romans betreffende Charakterisierung läßt sich offenbar nicht in Einklang bringen mit Sebalds, den Bildwerken Pisanellos abgelesener poetologischer Festlegung, wonach allem, den Hauptdarstellern und den Komparsen, den Vögeln am Himmel, dem grün bewegten Wald und jedem einzelnen Blatt dieselbe, durch nichts geschmälerte Daseinsberechtigung zuzusprechen ist: ein in einem tiempo muerto behandeltes Motiv ist in seiner Daseinsberechtigung geschmälert. Nicht umsonst und nicht zuletzt aus diesem Grund hat Sebald hervorgehoben, daß sein Metier die Prosa und nicht der Roman ist. Das poetologische Vorhaben derselben Daseinsberechtigung setzt die einzelne Motive frei, sie können nicht puramente relacional sein. In ihrer Freiheit aber können sie überraschende und dichte Beziehungen untereinander eingehen. Das beglückende Leseerlebnis ist vor allem auch in diesem Doppelverhältnis von einander gegenseitig nicht einschränkender Freiheit und Gebundenheit begründet. In hohem Maße frei und nicht eingebunden in das Buch scheint die Begegnung mit der Artistenfamilie Santini im Mailänder Konsulat zu sein, am Ende der Schwindel.Gefühle wird dann aber klar, daß der Strohhut, den Giorgio Santini in den Händen hält, schon vor Jahrhunderten San Giorgio, auf dessen Spur wir schon mehrfach gestoßen waren, als Kopfbedeckung gedient hatte.
Die Fahrt nach Mailand ist, wenn auch nirgends ausdrücklich eingestanden, der Not geschuldet, im deutschen Konsulat ist Ersatz für den verlorenen Paß zu besorgen, ein potentielles tiempo muerto also. Es hätte kaschiert und auf ein Minimum reduziert werden können: In Desenzano stieg ich in den Zug nach Mailand und war, nach der Beschaffung eines neuen Passes im deutschen Konsulat, in den Abendstunden schon wieder auf dem Weg nach Verona. Sebalds Prosa geht den anderen Weg, die tiempos muertos werden nicht ausgemerzt, sondern, ganz im Gegenteil, generalisiert. Befreit von strenger Fron zur Aufrechterhaltung der auf einen knappen Rest geschrumpften Romanhandlung gewinnen sie ein neues Leben eigener Art. Das Kapitel Mailand hat die folgende Szenenfolge: Anreise in entzückender Gesellschaft, Studium des Beredten Italieners; Überfall auf dem Bahnhofsvorplatz; Fahrt im Taxi; Übernachtung im Hotel Boston; die Santinis im Warteraum des Konsulats; Ausstellung des Passes; auf der Galerie des Doms. Blessuren wären nicht sichtbar, würde einer dieser Erzählabschnitte gestrichen, aber an Reichtum würde das Buch verlieren.

Wir hielten vor dem Hotel Boston, einem ungut und schmalbrüstig aussehendem Haus. Wie Selysses auf das Hotel Boston verfallen ist - von einer telephonischen Vorbestellung ist so wenig die Rede wie von einer Absprache mit dem Taxifahrer - und warum er sich, angesichts des deprimierenden Eindrucks, nicht zu einer anderen Unterkunft fahren läßt, erfahren wir nicht. Soweit wir Überblick über seine Hotelaufenthalte haben, war es ihm recht so, das Hotel Boston liegt auf seiner Linie, was könnte sich in einer Unterkunft mit vier oder mehr Sternen an Berichtenswertem zutragen.
Die Signora, ein völlig ausgetrocknetes Wesen von sechzig bis siebzig Jahren war aus dem Fernsehzimmer hervorgekommen, skeptisch hielt sie ihren Vogelblick auf mich gerichtet: damit ist der ornithologische Motivbereich des Buches angesprochen. Die Vögel stehen dem Dichter immer besonders nah, auch in den Schwindel.Gefühlen. In Wien hat er nicht mit den Menschen geredet, sondern bloß mit den Dohlen in den Anlagen vor dem Rathaus und mit einer weißköpfigen Amsel. Ein paar Hühner mitten in einem grünen Feld, die sich, obschon es doch noch gar nicht lange zu regnen aufgehört hatte, waren schon für ein die winzigen Tiere, wie mir schien, endloses Stück von dem Haus entfernt, zu dem sie gehörten. Aus einem mir nach wie vor nicht ganz erfindlichen Grund ist mir der Anblick dieser weit ins Feld sich hinauswagenden Hühnerschar damals sehr ans Herz gegangen. Diese Zuneigung zum Geflügel überträgt sich nicht auf die Vogelmenschen, nicht auf die Tiroler Weiber, die wie große Rabenvögel den Bus nach Oberjoch bevölkern und sich untereinander in ihrer hinten im Hals artikulierten Vogelsprache unterhalten und nicht auf die Signora im Hotel Boston.

Die Signora rief ihren Mann, der auf den Namen Orlando hörte und nun und nun gleichfalls aus dem Fernsehnzimmer herauswankte, wo er, wie die Signora, in tiefen Dämmer versunken gewesen war. Die hard-boiled Private-Eyes in den amerikanischen Detektivromane, ob in Boston oder in einer anderen Stadt, treffen immer wieder auf Hotelmanager, die auf ähnliche Weise unwillig aus kleinen Nebenzimmern hervorkommen. Selysses hatte Luciana Michelotti in Limone gestanden, daß er an einem Kriminalroman arbeitet, gehört selbst aber offenbar nicht zu den Detektiven dieses Schlags, eher schon zu denjenigen, die sich in Winkelhotels dieser Art verbergen müssen. In Mailand hat er bislang kein Verbrechen aufgeklärt, sondern ist Opfer eines allerdings glimpflich verlaufenen Überfalls geworden.
Ich begann meine Geschichte nochmals von vorn und sogar mir selbst erschien sie jetzt unglaubwürdig. Halb mitleidig, halb verächtlich wurde mir schließlich ein alter eiserner Schlüssel mit der Nummer 513 (in vielen Hotel wird die Dreizehn ausgelassen, hier nicht) ausgehändigt. In philosophisch orientierten Gesprächen wie denen mit dem Venezianer Malachio und dem Veronesen Altamura beschränkt Selysses sich weitgehend auf den Part des Zuhörers, gelingende Gespräche unter der Wortführerschaft des Reisenden gibt es eigentlich nur mit den Dohlen und der weißköpfigen Amsel und mit Luciana Michelotti. Wenn Selysses in Alltagssituationen das Wort ergreift, ist er in Gefahr, sich um Kopf und Kragen zu reden, so im Bus zum Gardasee, als er nur durch Flucht der drohenden Festnahme als ein zu seinem Vergnügen in Italien reisender englischer Päderast entgeht. Warum er im Hotel Boston nicht wortlos das vom Postenkommandanten Dalmazio Orgiu ausgestellte Dokument unterbreitet, wissen wir nicht, vielleicht sind es Gründe der Pietät, da das Papier zuvor schon als Trauschein gedient hatte. Im Gespräch mit der Vogelsignora und Orlando verdichtet sich der zunächst leichte auf ihm liegende Verdachtsschatten immer mehr, so daß das Aufsuchen des Hotelzimmers schließlich alle Merkmale des Gangs zur Arrestzelle hat. Ein langer Korridor, viel zu lang für das schmale Haus, führte, leicht abschüssig, wie mir vorkam, an den Zellentüren vorbei, die in Abständen von kaum mehr als zwei Metern aufeinander folgten. Die armen Gefangenen, ging mir durch den Kopf, und ich nahm mich dabei selber nicht aus. Immer anderwärts, Der Schlüssel drehte sich im Schloß. Alles, ohne daß er etwas Böses getan hätte, schließlich war er ja Opfer des Überfalls am Bahnhof. Aber schon der Taxifahrer hatte kaum Mitgefühl gezeigt, doppelt gesichert, wie er selbst war, durch ein Gitter am Seitenfenster einerseits und ein Medaillon Unserer Lieben Frau zwischen den Armaturen andererseits.
Stunden, endlose Stunden verflossen, ohne daß ich zur Ruhe kommen konnte. Schon gegen Morgen erhob ich mich und stellte mich in das schräg ins Zimmer hineinragende Brausebecken. Lang ließ ich das Wasser herablaufen an mir. Endlich glaubte ich den ersten Schein wahrnehmen zu können, hörte den Schrei einer Amsel. Oh, the morning glory! Ob es eine weißköpfige Amsel ist, läßt sich nicht feststellen, denn das Erwachen verläuft angesichts der bis dahin schlaflosen Nacht in der falschen Richtung. Ich machte die Augen zu, unter meinen geschlossenen Lidern begann es zu leuchten, ecco arcobaleno! Wie Hiob verlassen, wie Noah überschwemmt, nun sendet der Herr sein Zeichen der Versöhnung. Über einem weiten grünen Kukuruzfeld schwebte mit ausgebreiteten Armen eine Klosterfrau, die mir aus meiner Kindheit vertraute Schwester Mauritia, eine weniger prominente Heilige als der heilige Franz und die heilige Katharina, die die Hotelnacht in Venedig bereichert hatten. In wenigen Stunden schon aber wird Selysses leibhaftig und im Wachzustand dem heiligen Georg begegnen.
Nach einer ersten Lektüre der Schwindel.Gefühle rekapituliert der Leser: Drei Italienreisende, bei zweien, Stendhal und Kafka, ist der Reiseverlauf aus deren Schriften rekonstruiert. Seine eigenen Reisen erzählt der Autor in realistischer Manier so, wie sie sich zugetragen haben; im letzten Teil des Buches besucht er, die Rückfahrt unterbrechend, dann noch seinen bayerischen Geburtsort. Was wäre mehr noch zu sagen? There is, so der starke Eindruck, more than meets the eye. Allen drei Reisenden begegnet auf die eine oder andere Weise dem von Kafka erfundenen Jäger Gracchus, so unwahrscheinlich das auch sein mag. Selysses stellt sich immer wieder der heilige Georg in den Weg. Er unterhält sich einerseits wie der heilige Franz mit den Vögeln, andererseits treibt der nämliche Heilige mit dem Gesicht nach unten im Sumpfwasser, Selysses unterhält sich auch mit den Propheten und gar dem Heiland selbst, der ihm einen Engel zurückläßt. Selbst Erzählstrecken wie die der Übernachtung in Mailand, die allein realistischen Verpflichtungen zu folgen scheinen, gewinnen, je länger je mehr, ein beunruhigendes Eigenleben. Auch in einem traditionellen Roman können verborgene Motiverzählungen die Handlung überwuchern. Befreit von Handlungsverpflichtungen erreichen sie ein beunruhigendes, Schwindelgefühle erzeugendes Maß. Fridolin Schley hat im Rahmen seiner umfänglichen Studie eigens zur Kennzeichnung dieses Phänomens den Begriff des Waberns in die germanistische Forschung eingeführt. Der Begriff ist weder schön noch prägnant, er kann uns nicht zufriedenstellen.

Dienstag, 2. Juli 2013

Historiographie

Zerstörte Rahmen, zerrissene Bilder

Alles, was in der Welt geschieht, geschieht gleichzeitig, jetzt und jetzt und wieder jetzt. Was aber geschehen und in die Vergangenheit abgeglitten ist, erfahren wir, sofern es außerhalb des engen Bereiches unserer Wahrnehmung liegt, erst in der Zukunft und nur zu einem sehr geringen Teil. Richten wir die Teleskope ins All, so führen sie uns zurück in die Zeit bis zu deren Anfang. Halten wir ein an einer bestimmten Stelle, etwa schon am 13. April 1995, und schauen zur Seite und dann wieder zurück und nach vorn, so ergibt sich ein so buntes wie sinnloses Kaleidoskop vergangener Gegenwarten. Es ist Gründonnerstag, der Tag der Fußwaschung und das Namensfest der Heiligen Agathon, Papylus und Hermengild. Auf den Tag genau vor dreihundertsiebenundneunzig Jahren wurde von Heinrich IV das Edikt von Nantes erlassen; wurde in Dublin, vor zweihundertdreiundfünfzig Jahren, das Messias Oratorium Händels aufgeführt; Warren Hastings vor zweihundertdreiundzwanzig Jahren zum Gouverneur von Bengalen ernannt; in Preußen, vor einhundertunddreizehn Jahren die antisemitische Liga gegründet; &c. bis in die nahe Vergangenheit; ja, und zuletzt, wie wir am Morgen früh noch nicht wußten, ist Gründonnerstag, der 13. April 1995 auch der Tag, an dem Claras Vater, kurz nach seiner Einlieferung in das Coburger Spital, aus dem Leben geholt wurde.

Immer wieder in den Ringen des Saturn steigt Selysses ein in die Brunnenschächte der Geschichte, unterschiedlich tief, ins siebzehnte, achtzehnte, neunzehnte, im zwanzigsten Jahrhundert, an den verschiedensten Stellen, in Europa, Asien, Afrika, Amerika, oft mit einem Führer, Thomas Browne und Rembrandt in Europa, Conrad und Casement in Afrika, Chateaubriand in Amerika, ein von Erkenntnis erhelltes Bild ergibt sich nicht, nichts, was im Fazit über die Einsichten und die Weisheit eines Kalenderblattes hinausführt. Die Kalendernotizen vom 13. April 1995 sind bunt und ohne Sinn aber nicht ungeordnet, sondern führen, wie die Jahresringe eines Baumes von der Vergangenheit bis in die Gegenwart. Anders als in der Botanik ergeben sich aber keine verständigen Wahrheiten.

In den Schwindel.Gefühlen versucht Selysses vergeblich in der Gegenwart, im Jetzt und Jetzt und Jetzt, Standfestigkeit zu gewinnen. Gleichzeitig läßt er sich von Stendhal, Kafka und den alten Meistern der Malerei in die Vergangenheit führen. Die Unglückszahl Dreizehn scheint am ehesten noch Halt und Licht zu versprechen. In der Bibliothek zu Verona versucht er mit wissenschaftlichen Mitteln dem Rätsel auf die Spur zu kommen, doch schon bald kommt er von jeder Systematik ab: Ich blätterte in den Folianten, in welchen die Veroneser Zeitungen des Jahres 1913 gebunden waren. Allerhand Stummfilmszenen begannen sich nun vor mir abzuspielen. In der Via Alberto Mario sah ich diverse Herren auf und ab gehen und in jeweils dem Augenblick, in dem sie sich unbeobachtet glaubten, mit blitzartigem Seitensprung im Eingang des Hauses verschwinden, in dem die Ordination des in Paris und Wien ausgebildeten Dr. Ringger, Facharzt für malattie della pelle, untergebracht war. Dann wieder sah ich den Dott. Pesavento, der in der Via Stella unweit der Biblioteca Civica praktizierte, eine seiner schmerzlosen Extraktionen vollführen. Wohl machte das blasse Antlitz der Patientin den Eindruck völliger Gelöstheit, dafür aber bog und wand sich ihr Leib in dem Behandlungssessel auf eine geradezu agonale Weise. Es gab auch Offenbarungen anderer Art, wie beispielsweise die wie ein Versprechen des ewigen Lebens in der Sonne glänzende und glitzernde Pyramide aus zehn Millionen Flaschen Tafelwasser Ferro-China, die bei einem plötzlichen Löwengebrüll in Milliarden von Scherben zersprang und als rieselnde Kristallkaskade in sich zusammensank. Laut- und schwerelos waren sie, die Bilder und Nachrichten von damals, leuchteten kurz auf und verlöschten gleich wieder, jedes und jede von ihnen ein eigenes ausgehöhltes Mysterium. In Ondurman ist der Missionar Ohrwalder seit mehreren Wochen verschwunden. In Danzig hatte man einen Colonello Stern unter Verdacht der Spionage festgenommen. Geschichten ohne Anfang und Ende.

Die aus den Zeitungen gewonnenen Eindrücke, die sich zu halluzinierten Wahrnehmungen verformen, sind ähnlich disparat wie die des Kalenderblattes, aber doch von anderer Art. Es ist kein Tiefenschnitt in die geschichtliche Vergangenheit, sondern eine Bewegung auf einer geschichtlichen Ebene, der des Jahres 1913. Es sind keine der offiziellen Erinnerung und Kenntnis anempfohlenen Ereignisse wie das Edikt von Nantes, sondern für das sofortige Vergessen bestimmte und im Grunde längst schon vergessenen Nichtigkeiten. In beiden Fällen aber handelt es sich um eine Art Fazit historiographischer Bemühungen des Selysses. Das desillusionierende Kalenderblatt steht unwidersprochen am Ende der Ringe des Saturn und ein Hinweis, daß die Forschungen in Verona noch Solideres, die Schwindelgefühle Linderndes zu Tage gefördert hätten, findet sich auch nicht.

Angesichts der historischen Tiefe seiner Schriften gilt Sebald manchen Kommentatoren als Illustrator seiner geschichtsphilosophischer Überzeugungen. In den Schwindel.Gefühlen und in den Ringen des Saturn haben wir es aber mit einem Reisenden und Wanderer zu tun, dem an verschiedenen Orten aus unterschiedlichem Anlaß verschiedene Dinge durch den Kopf gehen. Das Kalenderblatt und die Zeitungsausschnitte sind nicht das Fazit geschichtlicher Sinnsuche, sondern das Eingeständnis ihres Scheiterns für den Augenblick. Am Ende des Kalenderblattes steigt Selysses aus dem Geschichtsbrunnen hervor und wendet sich mit dem Tode des Schwiegervaters der individuellen Lebensgeschichte zu. Bei der verharrt er aber nur kurz und sucht Halt bei den Sinnlinien der eigenen Prosa, dem von ihm selbst gesponnenen Seidenfaden: Indem ich jetzt, wo ich dies niederschreibe, noch einmal unsere beinahe nur aus Kalamitäten bestehende Geschichte überdenke, kommt es mir in den Sinn, daß einst für die Damen der gehobenen Stände das Tragen schwerer Roben aus schwarzem Seidentaft oder schwarzer Crêpe de Chine als der einzige angemessene Ausdruck der tiefsten Trauer gegolten hat.

Der religiöse Sinngebungsrahmen ist zerstört, zwar laufen Selysses fortwährend die Heiligen über den Weg, aber sie sind in einem desaströsen Zustand, der heilige Franz treibt gar mit dem Gesicht nach unten in den Sümpfen von Venedig. Aber auch die geschichtlichen Sinngebungsmaschinen, wie etwa die von Marx in Gang gebrachte, dröhnen nur noch im Leerlauf. Am 27. August 1943, dem an dem der Vaters nach einem Heimaturlaub in W. nach Dresden abreist, fliegen 582 Maschinen einen Angriff auf Nürnberg, kein Anlaß für eine Steigerung des Vertrauens in den Geschichtsablauf. Am 18. Mai 1944, Himmelfahrtstag, kommt Selysses zur Welt, die Flurumgangsprozession zog unter den Klängen der Feuerwehrkapelle am Haus vorbei in die blühenden Maifelder hinaus, für die religiös gestimmte Mutter ein gutes Zeichen. Sie ahnt aber nicht, daß der kalte Planet Saturn die Konstellation der Stunde regierte und daß über den Bergen schon das Unwetter stand, das bald darauf die Bittgänger zersprengt und einen der vier Baldachinträger erschlägt. Der Einfluß der Sterne obsiegt über Geschichtslogik und Christenglauben. Gut verankert ist man nicht in der Welt mit Astrologie und Koinzidenzsensibilität. Selysses ist umfangen von einem ihm unbegreiflichen Gefühl der Unverbundenheit und hätte sich sehr leicht aus dem Leben entfernen können. Er führt ein taumelndes Leben unter Schwindelgefühlen in der Fremde des Daseins, all’Estero. Wie sollte da nicht die Sehnsucht aufkommen nach einer starren, geschichtslosen Zeit, so wie sie der Beredte Italiener, ein praktisches Hülfsbuch der italienischen Umgangssprache aus dem Jahre 1887 bieten kann, eine Welt ganz aus Wörtern zusammengesetzt, als wäre dadurch das Entsetzliche in Sicherheit gebracht, als gäbe es zu jedem Bösen ein Gutes, zu jedem Verdruß eine Freude, zu jedem Unglück ein Glück und zu jeder Lüge auch ein Stück Wahrheit. In der Kindheit, in Patria in der Ortschaft W., hatte ein alter Atlas bereits eine ähnlich geordnete und zugleich von Geheimnissen erfüllte Welt verheißen. In diesem Atlas gab es ein Blatt, auf dem die größten Ströme und die höchsten Erhebungen der Erde ihrer Länge beziehungsweise ihrer Höhe nach angeordnet waren, und es gab wunderbare kolorierte Karten, sogar von den entlegensten, kaum erst entdeckten Erdteilen, deren winzige Beschriftung, die mir, weil ich sie nicht anders als die frühen Kartographen die Welt, erst teilweise entziffern konnte, mir alles an Geheimnissen nur Ausdenkbare zu enthalten schien.

Alle Gefühle, alle Leidenschaften der Welt sind, so Musil, ein Nichts gegenüber der ungeheuren, aber völlig unbewußten Anstrengung, welche die Menschheit in jedem Augenblick macht, um ihre Gemütsruhe zu bewahren. Bei Selysses waren die unbewußten Anstrengungen nicht erfolgreich und auch nicht die Suche nach einem Fundament in der geschichtlichen Tiefe, jetzt nnimmt die Anstrengung, als letzte Hoffnung gleichsam, mehr oder weniger bewußt die Form des Schreibens an. Der 13. April 1995, an dem er das Kalenderblatt abliest, ist der Tag, an dem er die Niederschrift der Ringe des Saturn abschließt. Die nicht mehr von der gewohnheitsmäßigen Schreib- und Gartenarbeiten ausgefüllten Tage werden bald wieder ungemein lang werden, so daß er nicht mehr wissen wird, wohin sich wenden. Soweit wir wissen, hat er sich dann zunächst nach Korsika gewandt.