Sonntag, 19. November 2017

Schwindel.Gefühle.

Aus dem Lot

Schwindel.Gefühle, warum diese seltsame Schreibweise des Titels? Das Kompositum Schwindelgefühle hebt die Doppelbedeutung von Schwindel - Sturzgefahr oder aber Betrug - zugunsten der Sturzgefahr auf, der Punkt zwischen den beiden Komponenten macht diese Klärung wieder rückgängig. Bei einer Übersetzung des Buches in Sprachen, die weder eine Vokabel mit ähnlicher Doppelbedeutung noch die Leichtigkeit des Deutschen bei der Wortzusammensetzung kennen, wird die Ambivalenz dann ihrerseits wieder rückgängig gemacht, Vertigo, Vertiges, Vertigini, also Schwindelgefühle, Übersetzungserwägungen in Richtung swindle, tromperie sind nicht bekannt. Auch der Leser des deutschen Originaltextes hält sich in erster Linie an die punktlosen Schwindelgefühle.

Schwindelgefühle im engeren, pathologischen Sinne treten aber gar nicht auf, selbst als der Erzähler die schwindelerregende oberste Galerie des Mailänder Doms erklettert, erleidet er zwar eine gewisse Bewußtseinstrübung – es scheint ihm unglaubwürdig, daß es sich bei den kleinen Gestalten, die tiefunten über die Piazza eilen, um lauter Mailänder und Mailänderinnen handelt – von einem Schwindelanfall aber bleibt er verschont. Um sie zu verstehen, muß den Schwindelgefühlen ein weiteres Bedeutungsfeld eingeräumt werden. Cioran erläutert: Les vertiges, c’est à dire le sentiment de ne plus pouvoir rester à la verticale, viennent de de l’épuisement du phènomène humain avec l’abandon de toutes ses charactéristiques. Folgen wir dieser Erklärung für einen Augenblick, ohne sie weiter zu überprüfen, so läßt sich schließen, daß bereits das Unwohlsein, das bei einem vorübergehenden Teilverlust der menschlichen Charakteristiken auftritt, wenn der Betreffende, wie man sagt, aus dem Lot ist, - daß bereits dieses Unwohlsein mithin als eine Vorstufe oder mindere Stufe eines Schwindelgefühls gelten könnte. Daß Kafka, wie er uns in den Schwindel.Gefühlen begegnet, in den üblichen Wahrnehmungs- und Verhaltensmustern des Menschen nicht allzu fest verankert ist, bedarf keiner längeren Begründung, es reicht der Hinweis auf den schwindlig daniederliegenden Jäger Gracchus, dessen Barke in Riva auch schon Stendhal verunsichert hatte. Auch das Erlebnis des Erzählers hoch oben auf dem Dom könnte dann doch als Schwindelgefühl minderen Grades verstanden werden. Weitaus deutlicher aber sind die Schwindelwahrnehmungen gleich zu Beginn der Italienreise des Erzählers, noch in Wien, wo er sich, während einer, wie es heißt, für ihn besonders unguten Zeit als Angehöriger des bürgerlichen Milieus rapide in einen Clochard, einen Voyou verwandelt. Deutliche Spuren der Verwahrlosung sind nicht zu übersehen, er begann in einer aus England mitgebrachten Plastiktüte allerlei unnütze Dinge mit sich herumzuführen, die ihm immer unentbehrlicher wurden. Der Anblick des inwendig schon gänzlich in Fetzen aufgelösten Schuhwerks entsetzt ihn, es würgt ihm im Hals und die Augen trüben sich.

Weitere Schwindelgefühle dieser Art unterhalb der akuten Sturzgefahr ließen sich aufzählen, was aber ist mit dem Schwindel als swindle, als Betrug? Man muß sich keine tiefschürfenden Gedanken machen, ohnehin beschwindeln uns die Dichter gewohnheitsmäßig und forcieren so unsere Schwindelgefühle, es ist ihr Beruf.

Mittwoch, 15. November 2017

Schneefall

Frage der Menge

Un flocon égaré dans l’air donne une image de vanité plus déchirante et plus symbolique qu’un cadavre, und so ist zu hoffen, mehr und immer mehr Flocken möchten herabschweben und in den dunklen Abgründen der rückwärtigen Höfe verschwinden, und zum Winteranfang dann, in den Bergen, solle alles zuschneien, das Dorf und das Tal bis zu den obersten Höhen hinauf, und wiederum später noch, im Frühjahr, wenn es auftaut, kämen wir dann hervor aus dem Eis wie neugeboren.

Dienstag, 14. November 2017

Lachen der Engel

Gemütsaufruhr

L’être ideal? Un ange dévasté par l’humour: eine eigenwillige Idealvorstellung, unschwer zu erraten, wer sie formuliert hat. Wie soll man sich den vom Humor, vom Lachen verwüsteten Engel vorstellen, wie hat Cioran ihn sich vorgestellt. Ist der Engel selbst humorig gestimmt, oder verwüstet ihn das Lachen der anderen? Einem leibhaftigen vom Humor malträtierten Engel zu begegnen, kann man in der aufgeklärten Zeit nicht erwarten. In der traditionellen christlichen Malerei sind die Engel so gut wie immer akkurat, meistens kostbar gekleidet, die Gesichtszüge spiegeln eine mittlere Gemütslage, einen heiterer Ernst, weder das Gewand noch das Mienenspiel weisen Spuren der Verwüstung auf. Angesichts des ausgeglichenen Seelenhaushalts der Engel, ist es auffällig, wenn sich auf Giottos Bild der Beweinung Cherubine entdecken lassen, die, seit nahezu siebenhundert Jahren über unserem unendlichen Unglück schwebend, die Brauen im Schmerz so sehr zusammengezogen haben, daß man hätte meinen können, sie hätten die Augen verbunden, die weißen Flügel mit den wenigen hellgrünen Spuren der Veroneser Erde aber sind das weitaus Wunderbarste von allem, was wir uns jemals haben ausdenken können. Giottos Engel, Wesen exquisiter Schönheit mit von einem mitleidenden Schmerz verzerrten Gesichtern, Wesen, über die ein leichtes Lächeln des Dichters gleitet, läßt sich so auf unerwartete und versöhnliche Weise die Idealvorstellung einlösen? Die Ingredienzen ähneln sich, die Rezeptur aber ist eine andere.

Montag, 13. November 2017

Chronos

Ruck für Ruck

Cioran notiert: Deux choses m’ont toujours rempli d’une hystérie métaphysique: un montre qui ne foctionne pas et une montre qui marche. Austerlitz befreit sich aus dem Dilemma, indem er die Uhr ganz aus seinem Leben verbannt, nie habe er eine Uhr besessen, weder einen Regulator noch einen Wecker, noch eine Taschenuhr und, wie mit Blick Cioran, eine Armbanduhr schon gar nicht. Die praktischen Nachteile und möglichen Unpäßlichkeiten einer defekten oder fehlenden Uhr im Alltag sind den beiden Zeitskeptikern nicht der Rede wert. Die Zeit gilt Austerlitz als menschliche Erfindung, und zwar als die künstlichste von allen. Er bezweifelt sowohl die Meßmethoden als auch die Metaphern, wenn Newton gemeint hat, die Zeit sei ein Strom, wo ist dann der Ursprung der Zeit und in welches Meer mündet sie endlich ein. Wenn alle unsere Vorstellungen von der Zeit falsch sind, dann erscheint auch der Zufall in einem anderen Licht und hinter statistischen Unwahrscheinlichkeiten läßt sich oft eine erstaunliche, geradezu zwingende innere Logik erkennen. Ashman, einige Seiten weiter im Buch, geht weniger argumentativ vor. Als er zum ersten Mal nach zehn Jahren sein altes Kinderzimmer wieder betrat, sei ihm beim bloßen Anblick des Bildnisses der Arche an der Wand, aus dem paarweise die braven, aus der Flut geretteten Tiere hervorschauten, gewesen, als öffne sich vor ihm der Abgrund der Zeit. Eine Wut sei in ihm aufgestiegen, und ehe er noch wußte, was er tat, habe er draußen auf dem Hof gestanden und mehrmals mit seiner Flinte auf das Zifferblatt des Uhrtürmchens geschossen. Gleichgültig gegenüber alldem aber dreht Chronos nur immer unverwandt und gleichmäßig mit dem Daumen und dem Zeigefinger seiner rechten Hand den sechskantigen Stiel des Glases Ruck für Ruck weiter, so gleichmäßig, wie es nur jemand vermag, der in seiner Brust statt eines Herzens das Räderwerk einer Uhr hat.

Samstag, 11. November 2017

Concierge

Die rechte Art zu lesen

Cioran bekennt, lesen könne und wolle er nur wie eine Concierge, indem er sich mit dem Autor und dem Buch identifiziere, jede andere Art des Lesens sei Leichenfledderei. Wird der Beruf der Concierge noch ausgeübt? In der klassischen Form, die uns etwa aus Simenons Maigret-Romanen vertraut ist, wird die Concierge, ähnlich wie der Schaffner, Gepäckträger oder Schuhputzer, inzwischen ein Opfer des Fortschritts geworden sein. Anders als dem Schaffner, dem Gepäckträger waren ihr lange Stunden der Stille in einem separaten Raum beschieden, wie geschaffen für das Lesen in einer Zeit, als die elektrischen Bildmedien noch nicht ungehindert wüteten. Ciorans bevorzugte Autoren, mit denen er sich stärker noch als mit anderen identifizierte, waren drei Autorinnen, nämlich Teresa von Avila, Charlotte Brontë und Emily Dickinson. Die Gründe für diese Bevorzugung werden nur angedeutet und nicht näher ausgeführt, und schon gar nicht betätigt Cioran sich als philosophischer, theologischer oder literaturwissenschaftlicher Pathologe ihrer Biographien und Werke. In Sebalds Prosawerk ist die klassische Concierge nicht vertreten, sie wäre als eine Unterart innerhalb der Gattung der Empfangsdamen darzustellen. Bei den Empfangsdamen stoßen wir auf keine Leserin. Als Inhaberin eines Antiquariats wäre Penelope Peacefull prädestiniert für die Lektüre, stattdessen löst sie ein Kreuzworträtsel. Die Dame mit der altmodisch gewellten Frisur am Kassentisch im Ghettomuseum Theresienstadt häkelt, die Dame von sehr stattlichem Format in der Casa Bonaparte Ajaccio schlummert. Die verschreckte junge Frau im Viktoriahotel Lowestoft, auf die der Erzähler erst nach längerem Wandern durch die völlig verlassenen Räume stößt, könnte beim Lesen aufgeschreckt worden sein. Aussichtsreichste Kandidatin ist aber die Mesnerin in der Chiesa Sant’Anastasia, die hinter einem Holzverschlag über einen geeigneten Rückzugsraum, wenn nicht über eine Wohnung verfügt. Teresa von Avila könnte ihr den ihrer Stellung gemäßen Lesestoff bieten. Cioran hatte allerdings nicht verfügt, daß Philosoph und Concierge die gleichen Bücher lesen, auf die Art des Lesens kam es ihn an. Auch die junge Nonne und das junge Mädchen mit einer aus vielen farbigen Flecken geschneiderten Jacke um die Schultern im Zug nach Mailand, lesen offenbar auf die rechte Art, die eine im Brevier, die andere einen Bilderroman. Der Dichter bewundert den tiefen Ernst, mit dem sie jeweils die Blätter umwendeten.

Mittwoch, 8. November 2017

Man trifft sich

Antwerpen - Paris

Wie oft Selysses und Austerlitz einander getroffen haben, läßt sich nicht sagen, da die regelmäßigen Besuche über mehrere Jahre an Austerlitz‘ Arbeitsplatz in Bloomsbury unweit des Britischen Museums nicht beziffert sind. Ein, zwei Stunden habe man dann jeweils zusammengesessen in dem engen Büro, das einem Bücher- oder Papiermagazin glich. Hatte der Besucher sich jeweils zuvor angemeldet oder einfach angeklopft? Es wird nicht gesagt und auch die Gesprächsthemen werden verschwiegen. Sicher wurde, wie auch bei den vorausgegangenen zufälligen Treffen in Belgien, nicht über Austerlitz‘ Vergangenheit und Lebensgeschichte gesprochen. Wenn zwei einander bislang Unbekannte sich treffen, so wie Austerlitz und der Erzähler im Bahnhof Antwerpen zum ersten Mal zusammentreffen, spricht man nicht von Zufall, auch wenn vielleicht die Wege, die zu diesem Treffen geführt haben, im Nachherein erstaunen lassen. Die nachfolgenden Treffen in Lüttich, Brüssel und Seebrügge sind dagegen für jedermann leicht erkennbar von einer provokativen Zufälligkeit, für jeden erkennbar, aber nicht für Austerlitz, der die Kategorie des Zufalls augenscheinlich ganz ablehnt und stattdessen, wie er bei späterer Gelegenheit erläutert, entgegen der statistischen Wahrscheinlichkeit eine erstaunliche, geradezu zwingende innere Logik sieht.

Gesprächsthema bei den Treffen in Belgien in den sechziger Jahren sind Fragen der Architektur und Bautätigkeit, Austerlitz Lebensgeschichte wird erst bei einem zufälligen Treffen in London in den neunziger Jahren und dann bei weiteren Treffen wiederum in London und dann in Paris Gesprächsgegenstand. Wenn man in der Bautätigkeit einer Art Präludium sieht, bleibt die Frage, warum gerade dieses Motiv und nicht etwa, um ein Beispiel zu nennen, die Schönheit der Unterwasserwelt, davon hören wir dann später, beim Besuch in Andromeda Lodge. Das Architekturthema ist auch nicht in Belgien abgetan, es verschwindet nicht, die Bahnhöfe in London, Prag und Paris bleiben im Fokus, in Paris wird zudem die neue Nationalbibliothek Gegenstand einer ausführlichen Erörterung. Dabei hatte Austerlitz jegliche Bautätigkeit schon gleich zu Beginn nahezu vollständig verworfen: Die unter dem Normalmaß der domestischen Architektur sind es - die Feldhütte, die Eremitage, das Häuschen des Schrankenwärters, der Aussichtspavillon, die Kindervilla im Garten -, die wenigstens einen Abglanz des Friedens uns versprechen. Cioran ergänzt sachkundig: L’auto, l’avion et le transistor, de l’avènement de cette trinité on peut dater la disparition des dernières traces du Paradis terrestre. Dahinter steckt naturgemäß kein praktischer Bebauungs- und Ausstattungsvorschlag, sondern metaphysisches Empfinden. Der Mensch hat sich die Welt verbaut, alles, was er ins Werk setzt, so wiederum Cioran, wendet sich gegen ihn. Der Parallelsatz Sebalds lautet: Immer, wenn man gerade die schönste Zukunft sich ausmalt, geht es bereits auf die nächste Katastrophe zu. Niemand kann bestreiten, daß sich all sein Tun immer auch gegen den Menschen wendet, die Bilanz ist umstritten. Das Baugeschehen präludiert und überwölbt das gesamte Werk. Wollte man in dem Buch eine Hierarchie der Motive einführen, stände das Bauwesen obenan.

Warum diesen vielen über Jahre und Jahrzehnte verstreuten Treffen? Unentbehrlich sind nur zwei Treffen, dasjenige in den sechziger Jahren in Antwerpen für die Ausführungen zum Bauwesen und das in den neunziger Jahren in London für den Lebensbericht. Die weiteren Treffen auf der belgischen Seite führen das Motiv des Zufalls ein, die Treffen unbestimmter Fahl an Austerlitz‘ Arbeitsplatz begründen einen Grad an Vertrautheit, der den Lebensbericht erst ermöglicht. Die abschließenden Treffen in den neunziger Jahren, die Verlagerung nach Paris schließlich haben vor allem rhythmische Gründe, sie beleben die Erzählung.

Dienstag, 7. November 2017

Reue

Langlebig

Non, je ne regrette rien, c'est payé, balayé, oublié &c. Auf der anderen Seite: Quoique l’homme entreprenne, il le regrettera tôt ou tard. Ciorans Mutter, die, wie er berichtet, diesen dunklen Spruch gern aufsagte, hatte nicht die stimmliche Überzeugungskraft der Piaf, aber gerade darum fühlen wir uns plötzlich zu ihr hingezogen. Die wortlose Gestalt der Mathild Seelos taucht auf vor unserem Auge. Die Mathild hat immer irgendetwas studiert und daher im Dorf als überspannte Person gegolten. Unmittelbar vor dem ersten Krieg ist sie in das Regensburger Kloster der Englischen Fräulein eingetreten, hat das Kloster aber noch vor Kriegsende unter eigenartigen Umständen wieder verlassen und einige Monate lang, in der roten Zeit, in München sich aufgehalten, von wo sie in einem arg derangierten und fast sprachlosen Zustand nach Haus zurückgekehrt ist. Es wäre nicht verwunderlich, wenn sie in dieser Phase ihres Lebens, sich dem Diktum der Elvira Cioran fügend, zumindest einige ihrer bisherigen Entscheidungen und Unternehmungen bereut hätte, handfeste Hinweise darauf fehlen aber, das Gefühlsleben der Mathild eröffnet sich nicht. Die Dorfbewohner haben sich über die Mathild dahingehend ausgelassen, daß sie aus dem Kloster und aus dem kommunistischen München völlig hinterfür heimgekommen sei, und sie hinter ihrem Rücken eine rote Betschwester geheißen. Die Mathild ihrerseits hat sich, nachdem sie einigermaßen ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte, durch solche Bemerkungen in keiner Weise aus dem Konzept bringen lassen. Ganz im Gegenteil hat sie sich in ihrer Eingezogenheit offensichtlich in zunehmendem Maße wohlgefühlt, ja die Art wie sie Jahr um Jahr unter den von ihr verachteten Dorfbewohnern herumgegangen ist, hat etwas durchaus Heiteres an sich gehabt. Die Mathild hat sich lange gehalten, bis gut über achtzig, vielleicht weil sie von allen den wachsten Kopf gehabt hat. Wenn die Mathild jemals Umstände ihres Lebens bereut haben sollte, so hat sie das abgestreift, als sie, wie es heißt, ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte. Die geradezu trotzige Langlebigkeit zumal klingt, obwohl naturgemäß lautlos, wie die Stimme der Piaf.

Montag, 6. November 2017

Ritorno in patria

Something stupid

Seitdem sich immer deutlicher zeigt, daß trotz Sanktionierung bei Feuertod die komplette Tilgung und Abschaffung des Heimatbegriffes nicht gelingt, sind die Wächter bemüht, seine Renaissance wenigstens in geeignete Bahnen zu lenken. Ihre Vorschläge sind vielfältig, stimmen aber überein in dem Merkmal, jeden Berührungspunkte mit überkommenen, intuitiven Vorstellungen von Heimat zu vermeiden. Bereits in den fünfziger Jahren schien Cioran auf dem rechten Weg zu sein, wenn er die tibetanische Einsicht notiert: La patrie n’est qu’un campement dans le désert. Leider verdirbt er schon im nächsten Satz alles und bekennt: Je donnerais tous les paysages du monde pour celui de mon enfance - die Gegend von Reschinar, nahe Hermannstadt.

Für Sebalds Erzähler liegt sein Heimatort weiter in der Fremde als jeder andere denkbare Ort. Die reale Ortschaft W. beachtet er so gut wie gar nicht und verbringt die Zeit des Aufenthalts damit, das vergangene W. seiner Kindheit hervorzurufen. Es entsteht ein Ort wie kein anderer, die Aufführung der Räuber im Saal des Engelwirts, der Großvater und die Mathild beim Kartenspiel, die Romana beim Abwischen der Tische und Bänke, die Modistin Valerie Schwarz mit geringer Körpergröße und ungeheurer Brust, das zauberhafte Lehrerfräulein Rauch, die Pyramide aus goldenen Sanellawürfeln. Ein Ort wie kein anderer, die vielleicht eingängigste Bestimmung von Heimat, in acht von zehn Fällen wird dieser Ort in der Kindheit gefunden, Combray, er entsteht erst, wenn man ihn verlassen hat, wieder betreten kann man ihn nicht. Ein Ort wie kein anderer und zugleich weiter in der Fremde als jeder andere denkbare Ort, unerreichbar. Cioran erlebt seine nach eigenen Worten überaus glückliche Kindheit in der verlorenen Heimat als besonderes Verhängnis, umso tiefer war dann der Sturz, la chute dans le temps, mit einem Henker als Vater, so denkt er, wäre es nicht so tief herabgegangen.

Die Muttersprache kann man als tragbare Heimat im Gepäck haben. Cioran hat als Schriftsteller seine Muttersprache aufgegeben, und von allen Seiten wird ihm bestätigt, erst das Französische habe seine Schriften hinreichend diszipliniert und damit lesbar gemacht, gleichwohl hat er sich außerhalb des Rumänischen zeit seines Lebens unwohl gefühlt. Sebald läßt in seinen Büchern wiederholt Gestalten auftreten, die die deutsche Sprache meiden, ihren Klang nicht mehr ertragen. Selbst aber hat er als Prosadichter offenbar nie daran gedacht, das Deutsche aufzugeben, er hat es in einem nicht von der schlimmen Zeit kontaminierten Zustand bewahrt und konnte daher auch auf die Reinigungsmaßnahmen des neuen Deutschland verzichten.

Sonntag, 5. November 2017

Sinn Féin

In einem Boot
Cioran schreibt: Der im MAN einbegriffene Plural und der offen eingestandene Plural des WIR bilden den bequemen Zufluchtsort allen unwahren Daseins und, könnte man hinzufügen, das Quellgebiet aller rechten und linken Faschismen, Rassismen und Klassismen. Das WIR, und nicht anders das MAN, ist kaum je zielgenau, es vereinnahmt über Gebühr und schließt andererseits willkürlich aus. Cioran fährt fort: Der Dichter allein verantwortet das ICH. Sebalds immer alleinreisender, niemals in einem WIR aufgehender Erzähler erfüllt dieses Postulat aufs beste, das Wort, die Vokabel WIR kann gleichwohl in einem längeren Prosatext ohne Künstelei nicht vermieden werden, das zeigt sich besonders deutlich bei Bootsfahrten.

Das Boot hob sich mit dem Bug aus dem Wasser, und in einem großen Bogen fuhren WIR in den Canale della Giudecca hinein. Das Boot hat Malachio und den Erzähler für eine gewisse Zeit vereinnahmt, dann wird man wieder auseinandergehen, ci vediamo a Gerusalemme. Auch die übertragene Rede vom Sitzen in einem Boot meint eine Notgemeinschaft auf Zeit, die sich sogleich trennt nach dem gelungenen Anlegen. Andererseits hört man in neuerer Zeit vermehrt, wir säßen allesamt in einem einzigen Boot und könnten es nie wieder verlassen, eine grauenhafte Vorstellung und für eingefleischte Landratten auf keine Weise akzeptabel. Vor uns lag der verglimmende Glanz unserer Welt, an dem WIR, wie an einer Himmelsstadt, uns nicht sattsehen können: das Verb in der Präsenzform zeigt an, es ist ein offenes Wir, wer die Empfindung kennt und teilt, ist angesprochen, ein jeder aber kann sich verweigern, ihm droht kein Unheil.

Die beiden Segel waren im Westwind gebläht, und WIR setzten den Kurs so, daß unser Boot die Gezeitenströmung durchschnitt: der Eingangssatz der Erzählung Scomber scombrus ist im Rahmen des Prosawerks geradezu unerhört, der Erzähler ist als Teil eines eine ungenannte Zahl von Personen umfassenden WIR unterwegs auf einem Segeltörn, wir sehen hinter unseren gschlossenen Augen ein Dutzend wind- und wettergegerbter Frauen und Männer an Deck. Wenn der Westwind nur zwei Segel bläht, scheint das auf ein kleineres Boot zu verweisen, aber wer sagt, daß nicht aus dem einen oder anderen Grund nur zwei Segel eines umfänglichen Segelwerks gesetzt wurden. Am Ende der Erzählung sehen wir den Erzähler allein mit seiner Begleiterin, aber da ist man bereits wieder an Land, die Crew mag sich für einige Zeit getrennt haben und in kleineren Gruppen unterschiedlichen Beschäftigungen nachgehen, bevor man wieder zum gemeinsamen Abendbrot an Bord zusammentrifft. Kann das überhaupt der Erzähler sein, an den wir gewohnt sind? Wenn er es ist, so in einer bislang nicht beleuchteten Phase seines Lebens, als gemeinschaftsfroh, segeltauglich und dem Fischfang zugetan wurde er uns bislang nicht vorgestellt. Je est un autre.

Freitag, 3. November 2017

Château-Filhot

Schwarzlackierter Strohhut

Oscar Wilde sei zu jener Zeit, schreibt Jan Parandowski in Król życia (König des Lebens), der meistbewunderte und meistgehaßte Mensch in England gewesen, selbst aber habe er sich vergöttert. 1930, als das Buch veröffentlicht wurde, waren die grellen Reaktionen auf den irischen Dandy längst abgeflaut, Sebalds Gestalten, Austerlitz, Bereyter, Aurach u.a., hätten nur mit Befremden und Unverständnis auf seine Lebensweise schauen können. Den Aufwand bei Bekleidung und Raumausstattung überspringen wir, täglich gab es minutiöse und langandauernde Absprachen mit dem Maître d'hôtel, den Kellnern und dem Koch das Dinner betreffend, Trüffel mußten aus dem Périgord sein, Austern aus dem Rocher de Cancale, an Weinen kamen Château-Filhot, Johannisberg, Pichon Longville, Sparling-Moselle in Betracht, beim Sekt Perier Jouet oder Dagonet, Zigaretten wurden aus Konstantinopel oder Istanbul geordert, für jede Sorte lag eine eigene Spitze aus Gold, Silber oder Elfenbein bereit. Aurach nimmt allabendlich im Wadi Halfa eines der grauenhaften, von einem Massaihäuptling bereiteten halb englischen, halb afrikanischen Gerichte zu sich und fühlt sich auf eine sozusagen gegenläufig perverse, dem verständigen Sebaldleser ohne weiteres einleuchtende Art wohl dabei.

Das Paar Solomon und Adelwarth hat nur einen Anflug von Ähnlichkeit mit dem Paar Wilde und Lord Douglas, umso beeindruckender ist die Leichtigkeit, mit der sich der Dichter in die in Deauville tagende Welt der Dekadenz hineinträumt, so als sei es die seine. Eine regelrechte Welle des Exotismus brach über die Stadt hinein; des musulmans moldo-valaques, des brahmanes hindous et toutes les variétés de Cafres, de papous, de Niams-Niams et de Bachibouzouks. Immer zahlreicher wurde das Publikum, bald nur noch ein einziges Meer von wogenden Hüten, über denen die Reiherfedern schwebten wie Schaumkronen über dunkel dahinlaufenden Wellen. Der Maharadscha von Kaschmir fuhr vor in seinem inwendig vergoldeten Rolls und hinter ihm her eine zweite Limousine, der eine unvorstellbar korpulente Dame entstieg. Der Ambros hatte einen gelben Leinenanzug an und auf dem Kopf einen spanischen, schwarzlackierten Strohhut. Der Cosmo aber trug trotz des strahlenden Hochsommerwetters einen flauschigen Teddymantel und eine Fliegerhaube, unter der seine blonden Locken hervorschauten – die beiden sind Lord Douglas und Wilde im Habitus um einiges nähergerückt. Ein wunderbar rosarot leuchtendes Hummertier, das langsam manchmal eines seiner Glieder rührte, lag zwischen ihnen auf einer silbernen Platte. Von der wie von einem leichten Seegang bewegten Menge der dinierenden Gäste waren nur die glitzernden Ohrringe und Ketten der Damen und die weißen Hemdbrüste der Herren zu sehen.

Man kann die skizzierte Traumsequenz mit nicht erlahmenden Genuß immer wieder in ihrer Vollständigkeit nachlesen. Das Werk des Dichters deckt, wie jedes andere Werk auch, nur einen winzigen Teil der Welt ab, und doch hat man hier, stärker noch als sonst, das Gefühl er vermöchte, Deo aeternam quasi vitam dante, alle Nischen und Lücken ausfüllen, auch die ihm von Haus aus nicht leicht zugänglichen. Dem Cosmo Solomon bereitet er ein nicht weniger trauriges und schlimmes Ende, als Wilde es hatte.
*
Die Geschichte vom Untergang des Cosmo Solomon bei Sebald ist längst nicht so quälend wie die Erzählung vom Untergang des Oskar Wilde bei Parandowski. So wenig Sebald glauben kann an Hebels Welt des Gleichgewichts, in der jedes ausgestandene Unglück entgolten wird und jedes uns auf gegebene Rätsel eine Lösung hat, so unauslöschlich ist diese Welt seiner Prosa als Sehnsucht eingeprägt.

Mittwoch, 1. November 2017

Mordlust

Grande ville

Benn hat die Berufung des Menschen zum ζῷον πολιτικόν als eine bloße Balkanidee abgetan. Luhmann scheint selbst ein wenig verwundert, wenn er Organisationen die Fähigkeit bescheinigt, in ihrem Inneren auch eine größere Zahl von Menschen relativ konfliktfrei beisammen zu halten. Cioran geht das Thema am Beispiel der Stadt mit der ihm eigenen Verve an: Quelque soit la grande ville où le hasard me porte, j’admire qu’il ne s’y déclenche pas tous les jours des soulèvements, des massacres, une boucherie sans noms, un désordre de fin de monde. Comment, sur un espace aussi réduit, tant d’hommes peuvent-ils coexister sans se détruire, sans se haïr mortellement? Girard zufolge sind die Menschen schon an dem ersten Tag, nachdem sie das Affenkleid abgestreift und demgemäß die instinktgesteuerte Tötungshemmung verloren hatten, übereinander hergefallen, nur die willkürliche Bestimmung eines Gruppenmitglieds als Sündenbock und seine rituelle Opferung konnte immer wieder die Aggressionen für eine gewisse Zeit einhegen und die rapide Selbstauslöschung der menschlichen Gattung bis auf weiteres verhindern. Sebald löst das Problem, ohne es zuvor anzusprechen, seinerseits durch eine heimliche aber radikale Auslichtung der Menschenart. Manchester ist eine menschenleere Stadt, Wien ebenso, niemanden hat er dort, mit dem er sprechen kann, bloß mit den Dohlen in den Anlagen vor dem Rathaus hat er einiges geredet und mit einer weißköpfigen Amsel. In Prag ist die unmittelbar bevorstehende Entvölkerung abzusehen, die Menschen sehen sämtlich krank und grau aus wie chronische, nicht mehr weit von ihrem Ende entfernte Raucher. Wenn eben möglich trifft der Erzähler an einem Ort nur jeweils eine Person, in Venedig Malachio den Astrophysiker, in Verona Salvatore Altamura. Bei der englischen Wallfahrt sind sie, bei wesentlich kürzeren Distanzen, aufgereiht wie an der Perlenschnur, Farrar, Le Strange, Garrard, Hamburger. Trifft der Erzähler auf größere Menschenmassen, vorzugsweise in Form von Touristen, ergreift er die Flucht, offenbar um seiner aufkeimenden Mordlust vorzubeugen. So in Venedig, wo ein wahres Heer von Touristen in der Bahnhofshalle lagert hingestreckt wie von schweren Krankheit in ihren Schlafsäcken auf Strohmatten oder auf dem nackten Steinboden liegen oder in Limone, wo eine einzige buntfarbene Menschenmasse sich wie eine Art Zug oder Prozession durch die engen Gassen des zwischen den See und die Felswand eingezwängten Orts schiebt, lauter Lemurengesichter, die verbrannt und bemalt, unkenntlich wie hinter einer Maske, über den ineinander verschlungenen Leibern schwankten.

Chorioretinopathie

Endogenes Nocturama

In die französische Literatur sei neuer Schwung gekommen, heißt es in einem Zeitungsartikel zur Frankfurter Buchmesse, die Autorinnen und Autoren kämen nunmehr ohne Umschweife und schnörkellos zur Sache, u.a. eine Literatin namens Despentes dient als Beleg, Baise-moi ihr bekanntester Titel. Der Dichter verfehlt den kurzangebundenen Stil gänzlich, daß er kein Franzose ist, taugt nicht als Entschuldigung, helfen wir ihm so gut es geht auf die Sprünge.

In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre bin ich zu Studienzwecken von England aus wiederholt nach Belgien gefahren. Bei einer dieser Reisen habe ich im Bahnhof Antwerpen Austerlitz zum ersten Mal getroffen
: So ähnlich könnte in einer ökonomischen, auf Handlungsfortschritt bedachten Erzählweise die Eingangspassage von Austerlitz lauten. Nicht nur, daß der Dichter zu den Studienzwecken noch andere, ihm selber nicht recht erfindliche Gründe hinzufügt, die ebensowenig aufgeklärt wie die Studienzwecke erläutert werden, er führt uns zunächst ausführlich ins Nocturama. In Erinnerung geblieben ist ihn, daß etliche von den dort behausten Tieren auffallend große Augen hatten und jenen unverwandt forschenden Blick, wie man ihn findet bei bestimmten Malern und Philosophen, die vermittels der reinen Anschauung und des reinen Denkens versuchen, das Dunkel zu durchdringen, das uns umgibt. Wie das Nocturama, so der Wartesaal, versuche ich diesen Wartesaal heute mir vorzustellen, sehe ich sogleich das Nocturama, und denke ich an das Nocturama, dann kommt mir der Wartesaal in den Sinn. Nocturama und Wartesaal sind eins, damit ist auch Austerlitz ein weiterer Bewohner des Nocturamas, oder der, der am Ausgang des Nocturamas wartet.

In der Folge trifft der Erzähler bis in die siebziger Jahre hinein wiederholt mit Austerlitz zusammen, teils zufällig, teils verabredet, um ihn dann für zwanzig Jahre aus dem Auge zu verlieren, bevor er ihn durch eine, wie es heißt, eigenartige Verkettung von Umständen erneut trifft. Auch hier kann eine zielstrebige Kurzfassung der tatsächlich sich über sechs Seiten erstreckenden Erzählpassage ersetzen: Nicht wenig beunruhigt vom plötzlichen fast völligen Schwund der Sehkraft des rechten Auges fuhr ich an einem der folgenden Tage zur augenärztlichen Untersuchung nach London. Die Diagnose war eine wahre Erlösung, nur ein zeitweiliger, selbstheilender Defekt, Chorioretinopathie in der Fachsprache. Um die Zeit bis zur Rückfahrt zu überbrücken, suchte ich für einen Kaffee die Salon Bar des Great Eastern Hotel auf. Zu meinem nicht geringen Erstaunen saß Austerlitz an einem der Tische.

Das Buch, den Reiz der knappen Fassung mißachtend, berichtet zunächst umfänglich von den Symptomen der aufgetretenen Augenerkrankung des Erzählers. Sozusagen über Nacht war die Sehkraft des rechten Auges fast gänzlich geschwunden. Es war ihm, als müsse er sein Augenmerk nur ins Abseits lenken - der Lehrer Hilary hatte in allgemeiner Weise vermutet, daß die Wahrheit in einem von keinem Menschen noch entdeckten Abseits liegt – um die vermutlich hysterisch bedingte Sehschwäche zum Verschwinden zu bringen. Das bewahrheitet sich nicht. Eine Vision der Erlösung erfüllt ihn, in der er im Garten sitzt, befreit vom Lesen- und Schreibenmüssen, umgeben von einer konturlosen, nur an ihren schwachen Farben noch zu erkennenden Welt, ein endogenes Nocturama gleichsam. Bereyter hatte in ähnlicher Lage von einem grauen Prospekt gesprochen. Während der Bahnfahrt nach London scheint die Augenmisere vergessen, im Wartezimmer erinnern ihn einige vor dem Fenster vorbeischwebende Schneeflocken an den Kindheitswunsch, alles möge zuschneien, das ganze Dorf und das Tal bis in die obersten Höhen hinauf. Die günstige Diagnose, Chorioretinopathie, ruft keine erkennbare Euphorie hervor. Eher begeistern ihn bei der anschließenden Untersuchung des Augenhintergrunds die kleinen Lichtpunkte, die bei jedem Druck auf den Auslöser des Untersuchungsgerätes in seinen weit aufgerissenen Augen zersprangen, so als seien die Augen Teil einer optischen Anlage geworden; man denkt an Austerlitz‘ photographische Unternehmungen. Unversehens und ohne Überleitung oder Begründung sitzt der Erzähler eine halbe Stunde später in der Bar des Great Eastern Hotels, die ganze ophthalmologische Pathogenese ist damit unter dem Gesichtspunkt des erzählerischen Handlungsziels, nämlich Austerlitz zu treffen, überflüssig. Von daher ließe sich das Geschehen noch kürzer fassen: Als ich wieder einmal in London war, suchte ich aus mir selbst nicht recht erfindlichen Gründen die Bar des Great Eastern Hotel auf. Zu meinem nicht geringen Erstaunen saß Austerlitz an einem der Tische.

Können wir das Erstaunen auch noch streichen? Der Erzähler gibt kein Erstaunen zu erkennen, und Austerlitz ist offenbar nicht im geringsten erstaunt, ohne auch nur ein Wort zu verlieren über das nach solch langer Zeit rein zufällig erfolgte Zusammentreffen, nimmt er das Gespräch mehr oder weniger dort wieder auf, wo es einst abgebrochen war. Auch der vom Erzähler ins Feld geführten Verkettung von Umständen müssen wir kritisch gegenüberstehen. Abgesehen davon, daß er, diesmal aus einem erfindlichen Grund, den Zug besteigt, gibt es eigentlich keine Verkettung von Umständen, die Versuche der Selbsttherapie, das Gefühl der Erlösung, der Schnee im Alpental sind keine Kettenglieder, die zu Austerlitz führen, wir können zur Freude der zahlreichen Anhänger eines  schnörkellosen Stils noch weiter kürzen: Wieder einmal in London, suchte ich die Bar des Great Eastern Hotel auf und sah Austerlitz an einem der Tische sitzen.
*
Es ist Zeit, sich zu besinnen und Mme Despentes nicht kampflos das Feld zu überlassen. Die Streichungen haben nicht das Überflüssige entfernt, sondern das Eigentliche, das Eigenleben der Motive. Wenn man aus dem Dunkel des Nocturamas tritt, begegnet man Austerlitz, ist eine auf dieser Ebene abzuleitende Aussage, keine Aussage im Sinn einer Aussagenlogik naturgemäß, und über ihre Bedeutung kann aber muß man nicht nachsinnen. Resonanzen von Erlösung, Abseits, Lichtpunkten wurden schon erwähnt. Den Text beherrscht eine Ordnung, die am besten mit halbgeschlossenen Augen wahrzunehmen ist. Der Zufall ist in einer solchen Ordnung um seine Zufälligkeit gebracht.