Freitag, 17. Oktober 2008

Dante kam bis Krummenbach

Purgativa

Ahi giustizia di Dio! Tante chi stipa
nove travaglie e pene, quant’io viddi?
Die Krummenbacher Kapelle ist so klein, daß mehr als ein Dutzend auf einmal gewiß nicht ihren Gottesdienst verrichten oder ihre Andacht üben konnten. Kapellen wie die von Krummenbach gab es zahlreiche um W. herum, und vieles von dem, was ich damals von ihnen gesehen und gespürt habe, wird in mir geblieben sein, die Angst vor den dort abgebildeten Grausamkeiten nicht weniger als in seiner Unerfüllbarkeit der Wunsch nach einer Wiederholung der in ihrem Inneren herrschenden vollkommenen Stille (SG 196).

Dantes Hölle und Paradies finden in der Krummenbacher Kapelle ihr bündigstes Fazit in der Sebaldschen Auslegung, auf kleinstem Raum Angst und Schrecken und andererseits Frieden als vollkommene Stille. Das Purgatorium, Dantes dritter Weltteil, ist entbehrlich, denn das ist der Ort, an dem wir ohnehin alle leben, wenn auch schon längst nicht mehr unter den anspruchsvollen Titeln des Auszugs aus der Unmündigkeit oder der Emanzipation, eine gleich zu Anfang schon nicht ganz gelingende Unformung des Erlösungsgedankens. Wir leben inzwischen unter weitaus bescheideneren Begriffen wie dem vom Philosophen Sloterdijk erfundenen der postdemokratischen Verbotsgesellschaft, der den oft kleinlichen purgativen Impuls hinter dem Geschehen deutlich macht. Auf Dantes Himmel haben wir weitgehend verzichtet, von seiner Hölle ist nur der im innersten Kern eingefrorene Satan geblieben, alle anderen Insassen konnten durch Toleranz, Therapie oder wissenschaftlich belegte Unzurechnungsfähigkeit gerettet werden. Satan hat einen neuen Namen, den Hitlers und seiner Belzebuben. Eine allzeit bereite Garde mit starrem Dogma und festen Verhaltensregeln achtet darauf, daß sie nicht wieder zur Oberfläche aufsteigen können.
In der Gestalt des Paul Bereyter hat sich Sebald wohl auch selbst vom alltäglichen Provinzkatholizismus im Allgäu losgesprochen: Dem Paul war nichts derart zuwider wie die katholische Salbaderei (AW 53). Gleichzeitig wird von Paul Bereyter aber berichtet, es ginge das Gerücht, er sei gottgläubig. Was Sebalds Gottgläubigkeit anbelangt, so mag sie dahingestellt bleiben, als tiefreichende geistige Schicht in Europa ist der Katholizismus dem Erzähler aber in jedem Fall wichtig geblieben. Dabei geht es ihm weniger um die Frohe Botschaft, das Paradies erreicht er allenfalls im Frieden seiner Prosa, der Katholizismus ist ihm unverzichtbar nicht zuletzt als Verwalter der Hölle und Lieferant des Schreckens: In der mir in zunehmenden Maße wichtig werdenden Bibliothek der Mathild gab es zahlreiche religiöse Werke spekulativen Charakters, Gebetbücher aus dem 17. und frühen 18. Jahrhundert mit zum Teil drastischen Abschilderungen der uns alle erwartenden Pein, so das Officium für die abgestorbenen Seelen im Fegfeuer (SG 244f). Mag über dieser Stelle auch milder Spott liegen, so fehlt er völlig in der Begegnung mit Grünewald, dem Maler der gemarterten Körper und Seelen in einer in den schönsten und schauerlichsten Farben ausgeführten Vergegenwärtigung (NN 22). Auch bei Dante fällt allen das Inferno ein, Purgatorio und Cielo können nur mit einiger Anstrengung erinnert werden. Schon für Gustave Doré hatten sich die Proportionen verschoben. Er hat fünfundsiebzig Illustrationen zur Hölle vorgelegt, zweiundvierzig zum Läuterungsberg und nur achtzehn Himmelsbilder.

Viele, die in der modernen Purgieranstalt mutig Gebrauch machen vom eigenen Verstand, haben die Vorstellung, der edle und angstfreie Wilde nach der Art Rousseaus sei vom mittelalterlichen Katholizismus ohne Not in Angst und Schrecken versetzt worden. Davon gelte es nun, ihn wieder zu befreien, mit einiger Mühe zwar aber nur umso entschlossener. Der Sache näher käme wohl die Annahme, der ständig von diffusen Schrecken gejagte Wilde habe durch Religion Platz und Umgang für seine Angst gefunden. Das ist jedenfalls die Idee, die die Lektüre von Dantes Divina Commedia nahe legen kann.

Das auffälligste Charakteristikum des Werkes ist sicherlich die penible Höllen- und Himmelsordnung. Angst und Schrecken haben ihren festen Ort, außerhalb muß niemand sich fürchten. Andererseits fehlt jeglicher melioristischer Ansatz. Es ist nicht abzusehen, daß irgendeiner der neun Cerchi, der drei Gironi im siebten, der zehn Bulgen im achten oder der vier Zonen im neunten Cerchio aufgrund einer Besserung im Verhalten des Menschengeschlechts keine Neuzugänge mehr zu verzeichnen haben würde. Die strenge Struktur der Anlage wird im Gedicht gelockert durch das Motiv der Wanderung in einer ausgedehnten Höllenlandschaft. Dante und Vergil begeben sich durch Täler und Schluchten, die, wären sie nicht so schrecklich, vielleicht lieblich sein könnten. Bäche rauschen, allerdings transportieren sie Feuerglut. Die Wanderung ist kein kurzer Marsch, sondern beansprucht ordentlich Zeit, Übernachtungen werden erwähnt, bleiben aber vom Realismus der Schilderung ausgeschlossen. Vermutlich bezieht man Nachtlager unterm freien Höllenhimmel, von dem nun allerdings, da er unerzählt bleibt, niemand weiß, wie er aussieht.

Dantes Jenseits ist auf allen Ebenen mit dem diesseitigen Geschick vor allem der Stadt Florenz verbunden. Dante findet, bei dem, was er hört und sieht auf der Wanderung, seine eigenen politischen Einschätzungen weithin bestätigt, und ausgeprägt ist auch das Interesse der Höllenbewohner an dem, was zu erleben in der realen Welt ihnen schon versagt war. Man kann sich allerdings fragen, welche Bedeutung die reale Welt für Dante noch haben konnte, nachdem er das göttliche Jenseits durchwandert hatte.

Unsere reale Welt ist Dantes Jenseitswelt diametral entgegengesetzt. Wo Dante ordnet, säuberlich separiert und anordnet, setzen wir vorbehaltlos auf Integration und Niederreißen aller Grenzen. Wo Dante fasziniert ist von der Macht und Gewalt, dove si puote ciò che si vuole, die unmittelbar Realität ist, wünschen wir uns demokratische Meinungsbildung und den zwanglosen Zwang des unendlichen Diskurses. Aber die Fanfare der Freiheit, die uns alles begründen soll, nicht zuletzt das stets wachsende Heer der purgativen Verbote, bleibt doch das Horn, das die Verlorenheit im Nebel nicht beheben kann.

Borges hat uns aufgefordert, die Divina Commedia ohne Scheu und ohne große philologische geschichtswissenschaftliche Vorbereitung einfach als das große Kunstwerk zu lesen, das sie ist. Und in der Tat, schließt man das Buch, scheint es einem, als sei man zurück aus einer fernen Heimat und als seien bis in unsere Tage alle großen Dichter auf die eine oder andere Weise dantesk, da sie den Phantomschmerz der Loslösung der Kunst von der Theologie mit sich tragen. Der danteske Charakter der Sebaldschen Erzählkunst jedenfalls ist nicht zu verkennen. Im Austerlitzbuch verwandelt sich der sebaldnahe Erzähler in Dante und wählt Austerlitz als seinen Vergil. Austerlitz hat in seiner unter falschen Vorzeichen verbrachten und insofern jenseitigen Kindheit Hölle und Himmel kennengelernt in den Predigten des Predigers Emyr Elias. Am Sonntag trat er im Bethaus vor die versammelte Gemeinde hin und führte ihr oft eine Stunde lang mit einer tatsächlich erschütternden Wortgewalt das allen bevorstehende Strafgericht, die Farben des Fegefeuers, die Qualen der Verdammnis sowie, in den wundervollsten Stern- und Himmelsbildern, das Eingehen der Gerechten in die ewige Seligkeit vor Augen (AUS 72). Der Prediger ist durchaus mit Sympathie und Verständnis geschildert und doch angeweht von der Eiseskälte Satans: Es hat mich immer gefroren in dem Predigerhaus (AUS 71). In Andromeda Logde hat Austerlitz dann auch selbst das irdische Paradies für eine kurze Zeit betreten, das nach der Überzeugung Dantes sich auf dem Gipfel des Läuterungsberges befindet. Und nicht zuletzt hat Austerlitz beim Schuster Evan, neben der walisischen Sprache, den Umgang mit den Verstorbenen gelernt, die das Los zur Unzeit getroffen hatte, die sich um ihr Teil betrogen fühlten und danach trachteten, wieder ins Leben zurückzukehren. Wer ein Auge für sie habe, der könne sie nicht selten bemerken (AUS 82 f).

Den modernen Purgierkünste konnten Sebald, der sich gern bis an sein Lebensende mit nichts anderem beschäftigen wollte als mit dem Studium der vergangenen und der vergehenden Zeit (CS 7), nichts abgewinnen. Die schönsten Photos von Christian Scholz zeigen ihn als Rauchrebellen mit der Zigarette, also im Widerstand gegen den innovativen abendländischen Zentralwert des Nichtrauchens. Es muß ihn amüsiert haben, daß eine Zivilisation, die nach seiner mehrfach erzählerische vorgetragenen Diagnose, einzig und allein auf Kombustion und Verglosen beruht und deren Untergang im Feuersturm er mehrfach halluziniert, außer Rand und Band gerät bei der Ächtung eines kleinformatigen Brennvorgangs, der einer frühen, noch von keinem Feuertod bedrohten Zivilisation entlehnt wurde, in der er einen kultisch-rituellen Platz hatte.

Natürlich wäre es eine Verharmlosung, das Harmlose als harmlos anzusehen, es ist der Weg, auf dem sich der Teufel anschleicht, und doch bleibt die Geschichte vom Rauchen die Beobachtung einer sehr kleinen Verweigerung am äußersten Rand des Purgatoriums, der überhaupt nur sichtbar wird im Licht der großen Sebaldschen Sprachverweigerung, eine Verweigerung im Reichtum, in einer Spätsommerfülle der Sätze, eine Verweigerung, die Sprache einer Welt zu sprechen, die so viel hat abstreifen müssen, um mit aller Mühe und aller Not zu dem zu werden, was sie ist. Souveräne Interpreten haben das dem Publikum als altväterliche Sprachhaltung oder, großzügig, als gepflegten Stil erläutert. Einige haben noch tiefer geschaut und weisen auf die jahrzehntelange Trennung des Dichters von der Sprachgemeinschaft hin, die zu einer Entfremdung vom lebendigen Deutsch geführt habe.

Auch die monothematische Naziresthölle, auf Ewigkeit versiegelt durch das Unvergleichbarkeitsdogma, das keinen weiteren Höllenzugang zuläßt, konnte Sebald offenbar nicht zufrieden stellen. Die Ringe des Saturns lassen sich lesen als ein Buch zurückgewonnene Höllenfülle, Leopold II, um nur ein Beispiel zu nennen, König von Belgien und verantwortlich für unendliche Greueltaten im Kongo, sieht sich unzweideutig in den Schlund der Hölle verwiesen. Austerlitz, weithin als Holocaustroman verstanden und tatsächlich Abstieg in den untersten Höllenkreis, wurde erst anschließend geschrieben.

Die durch purgative Anstrengungen erreichte Wendung zum Besseren, wenn nicht zum Guten in Deutschland oder auch Belgien bemerken Austerlitz und der sebaldnahe Wanderer, den wir hier wieder Sedante nennen wollen, ausdrücklich nicht. Sie sind auch nicht beeindruckt von der Ehrengarde an des neuen Satans Höllengrab, sondern müssen, schon in der Mitte ihres Lebens, hinabsteigen. Es ist für Austerlitz ein Abstieg vor allem in das eigene Innere, oder besser an die Stelle, wo sich nach einer Überlegung Luhmanns (gefunden bei N. Bolz) die beiden Ausgestoßenen, Gott und das Ich, in kommunikationsloser Verständigung verbünden. Es gibt aber auch ein leibhaftiges Einstiegstor zur Hölle, den Londoner Liverpoolbahnhof, der unzweideutig als Pforte zum Totenreich gestaltet ist: Aber es kommen ja immer neue nach, in unendlicher Folge, zu deren Unterbringung zuletzt, wenn alles belegt ist, Gräber durch Gräber gegraben werden, bis auf dem ganzen Acker die Gebeine kreuz und quer durcheinander liegen. Über die solchermaßen mit dem Staub und den Knochen versetzte Erdschicht hinweg war die Stadt gewachsen in einem immer verwinkelter werdenden Gewirr fauliger Gassen und Häuser. Um 1870 herum, vor Beginn der Bauarbeiten an den beiden nordöstlichen Bahnhöfen, wurden diese Elendquartiere gewaltsam geräumt und ungeheure Erdmassen, mitsamt den in ihnen Begrabenen, aufgewühlt und verschoben. Für mich war es, als kehrten die Toten aus ihrer Abwesenheit zurück und erfüllten das Zwielicht um mich her mit ihrem langsamen, ruhelosen Treiben (AUS 192 ff). Im Liverpoolbahnhof erinnert Austerlitz die Art und Weise und den Grund seiner Übersiedlung als Kind nach England und Wales, und von hier aus steigt er hinab in die Unterwelt der europäischen Vergangenheit.

Sedante folgt Austerlitz-Vergil auf seinen erzählten Wanderungen durch die europäische Unterwelt, die, sei es in Belgien, England, Frankreich, Belgien oder in der Tschechei eine fatale deutsche Einfärbung hat. Sedante hat aber auch seinen separaten Höllenzugang, die Unterwelt der Festung Breendonk. Wir finden ihn dort in der Eingangspassage des Buches und ganz zum Schluß. Wie vor dreißig Jahren war es ungewöhnlich heiß geworden, bis er in Willebroek ankam. Die Festung lag unverändert auf der blaugrünen Insel. Aus seinem Rucksack holt er ein Buch, das von der Suche des Autors nach seinem Großvater, dem Rabbi Yisrael Yehoshua Melamed, genannt Heschel, handelt. Es führt ihn zum Höllenschlund der Diamantengrube von Kimberley, die nicht eingezäunt war, so daß, wer es wagte, bis an den äußersten Rand dieser riesigen Gruben heranzutreten, hinabblickte in eine Tiefe von mehreren tausend Fuß. Wahrhaft schreckenerregend war es, einen Schritt von dem festen Erdboden eine solche Leere sich auftun zu sehen, zu begreifen, daß es keinen Übergang gab, sondern nur diesen Rand, auf der einen Seite das selbstverständliche Leben, auf der anderen Seite sein unausdenkbares Gegenteil. Er liest von dem berüchtigten Fort IX nahe der Stadt Kaunas, in dem zeitweise Kommandostellen der Wehrmacht sich einrichteten und wo in den folgenden drei Jahren mehr als dreißigtausend Menschen ums leben gebracht wurden. Am Wassergraben der Festung von Breendonk liest er das fünfzehnte Kapitel zu Ende, und macht sich dann auf den Rückweg nach Mechelen, wo er anlangt, als es Abend wurde.

Sebald kann nicht gleich Dante eine Beruhigung ableiten aus einer großen Weltenordnung, Himmel und Hölle sind nicht länger geschieden, Sedante wandert durch Landschaften einer Unterwelt, in der die Teufel und die unschuldigen Seelen ungetrennt beieinander hausen. Und doch stellt sich am Ende der Wanderung eine ähnliche Beruhigung ein. Offenbar entspringt sie der feinen Ordnung seiner Sätze.

Donnerstag, 16. Oktober 2008

Tulp

Von der Versenkung ins Bild

Ein Dichter ist jemand, der die Sprache in den Ausnahmezustand versetzt.

Rembrandt, der seinem Doktor Tulp, wie man heute vermutet, ein Präparat unterschob, einen in Spiritus aufbewahrten enthäuteten Unterarm aus der eigenen Raritätensammlung, entwirft ein Gruppenbild mit Ärzten und erneuert das Genre Anatomiebild im selben Atemzug, indem er das Problem der Darstellung selbst zur Sprache bringt. Das aufgeschlagene Anatomiebuch am Fußende des Seziertisches, das Skizzenblatt in der Hand des einen Zuschauers mit der Umrißzeichnung des Gliedermannes, das Zusammenspiel der beiden Hände der Hauptfigur, die mit der Linken vorführt, was die Rechte mit der Griffzange an einem Stück dargestellter roter Muskulatur aufzeigt, all das war zugleich als Feier wie Infragestellung der unmittelbaren Anschauung gedacht. Schon die ungewöhnliche veristische Leichenblässe des Delinquenten, dieses schrecklich wächserne, eisig blaue Inkarnat signalisiert: Hier begnügt sich einer nicht mehr mit leerer Gestik und der Rhetorik des Memento mori, die solchen Obduktionsbildern anhaftete. Es ging nicht auch darum, bloß anatomisch korrekt zu malen. Worauf es Rembrandt ankam war, zu zeigen, daß Gott im Detail steckt. Wie funktioniert, als Mechanik von Muskeln und Sehnen, eine gezielte Handbewegung? Und zwar nicht irgendeine, sondern genau jene Geste, die Doktor Tulp, sämtliche Blicke dirigierend, vorführt und die gemeinhin als Ausdruck für Konzentration und Fingerspitzengefühl gilt: die Berührung von Daumen und Zeigefinger? In einem Spannungsbogen, der die Dramatik der Szene ausmacht, demonstriert Rembrandt das Ineinandergreifen von Leib und Seele, zeigt er von innen nach außen und umgekehrt die Wechselwirkung der Körpermaschine, wobei ein Terminus wie dieser, der Descartes alles bedeutete, an seiner Malerei glatt vorbeiging. Durs Grünbein, Der cartesische Taucher, S.46 ff.

Zweifellos handelte es sich einesteils um eine Demonstration des unerschrockenen Forschungsdrangs der neuen Wissenschaft, andernteils aber, obzwar man das sicher weit von sich gewiesen hätte, um das archaische Ritual der Zergliederung eines Menschen, um die nach wie vor zum Register der zu verhängenden Strafen gehörende Peinigung des Fleisches des Delinquenten bis über den Tod hinaus. Daß es bei der Amsterdamer anatomischen Vorlesung um mehr ging als um die gründliche Kenntnis der inneren menschlichen Organe, dafür spricht der an Rembrandts Darstellung ablesbare zeremonielle Charakter der Zerschneidung des Toten – die Chirurgen sind in ihrem besten Staat, und Dr. Tulp hat sogar seinen Hut auf dem Kopf - ebenso wie die Tatsache, daß nach der Vollendung der Prozedur ein feierliches, in gewissem Sinne symbolhaftes Bankett abgehalten wurde. Stehen wir heute im Mauritiushuis vor dem gut zwei mal eineinhalb Meter messenden Anatomiegemälde Rembrandts, so stehen wir an der Stelle derer, die im Waagebouw seinerzeit dem Vorgang der Sezierung gefolgt sind, und meinen zu sehen, was diese gesehen haben: den grünlichen, im Vordergrund daliegenden Leib Aris’ Kindts mit dem gebrochenen Nacken und der in der Todesstarre furchtbar hervorgewölbten Brust. Und doch ist es fraglich, ob diesen Leib je in Wahrheit einer gesehen hat, denn die damals gerade aufkommende Kunst der Anatomisierung diente nicht zuletzt der Unsichtbarmachung des schuldhaften Körpers. Bezeichnenderweise sind ja die Blicke der Kollegen des Doktors Tulp nicht auf den Körper als solchen gerichtet, sondern sie gehen, freilich haarscharf, an ihm vorbei auf den aufgeklappten anatomischen Atlas, in dem die entsetzliche Körperlichkeit reduziert ist auf ein Diagramm, auf ein Schema des Menschen, wie es dem passionierten, an jenem Januarmorgen im Waagebouw angeblich gleichfalls anwesenden Amateuranatomen René Descartes vorschwebte. Bekanntlich lehrte Descartes in einem Hauptkapitel der Geschichte der Unterwerfung, daß man absehen muß von dem unbegreiflichen Fleisch und hin auf die in uns bereits angelegte Maschine, auf das, was man vollkommen verstehen, restlos für die Arbeit nutzbar machen und, bei allfälliger Störung, entweder wieder instand setzen oder wegwerfen kann. Der seltsamen Ausgrenzung des offen zur Schau gestellten Körpers entspricht es auch, daß die vielgerühmte Wirklichkeitsnähe des Rembrandtschen Bildes sich bei genauerem Hinsehen als eine nur scheinbare erweist. Entgegen jeder Gepflogenheit beginnt die hier dargestellte Prosektur nicht mit der Öffnung des Unterleibs und der Entfernung der am ehesten in den Verwesungszustand übergehenden Eingeweide, sondern (und auch das deutet möglicherweise auf einen Akt der Vergeltung) mit der Sezierung der straffälligen Hand. Und mit dieser Hand hat es eine eigenartige Bewandtnis. Nicht nur ist sie, verglichen mit der dem Zuschauer näheren, geradezu grotesk proportioniert, sie ist auch anatomisch gänzlich verkehrt. Die offengelegten Sehnen, die, nach der Stellung des Daumens, die der Handfläche der Linken sein sollten, sind die des Rückens der Rechten. Es handelt sich um eine rein schulmäßige, offenbar ohne weiteres dem anatomischen Atlas entnommene Aufsetzung, durch die das sonst, wenn man so sagen kann, nach dem Leben gemalte Bild genau in seinem Bedeutungszentrum, dort, wo die Einschnitte schon gemacht sind, umkippt in die krasseste Fehlkonstruktion. Daß Rembrandt sich hier irgendwie vertan hätte, ist wohl kaum möglich. Vorsätzlich scheint mir vielmehr die Durchbrechung der Komposition. Die unförmige Hand ist das Zeichen der über Aris Kindt hinweggegangenen Gewalt. Mit ihm, dem Opfer, und nicht mit der Gilde, die ihm den Auftrag gab, setzt der Maler sich gleich. Er allein hat nicht den starren Blick, er allein nimmt ihn wahr, den ausgelöschten, grünlichen Leib, sieht die Schatten in dem halboffenen Mund und über dem Auge des Toten. Sebald, RS 22 ff



Kein Sebaldianer, der bei der Lektüre von Grünbeins Buch zur Seite 47 gekommen ist, wird darauf verzichten zu tun, was hier getan wurde, nämlich die beiden Beschreibungsversionen des Rembrandtbildes von der anatomischen Vorlesung des Dr. Tulp, diejenige Grünbeins und die Sebalds, einander gegenüberzustellen, und wohl niemand kann angesichts dieser Gegenüberstellung vermeiden, ins Grübeln zu geraten. Wer je ein Portraitbild Rembrandts gesehen hat, sei es eines der Selbstbilder oder eins der unvorstellbar schönen Frauenportraits - und wer ist so arm, daß er noch nie eins gesehen hätte - kann sich nur schwer vorstellen, das in Auftrag gegebene Anatomiebild habe dem niederländischen Maler besondere Freude bereitet oder er habe wenigstens, wie Grünbein vermutet, weitgehenden Trost darin gefunden darzutun, daß Gott in den Details des geöffneten Körpers steckt. Rembrandt zählt ganz sicher zu den größten Erforschern des Menscheninneren ohne Verletzung der Epidermis, Sebalds Erwägung, er, Rembrandt, habe sich heimlich und doch mit einem gewissen, der Deutung zugänglichen Eklat aus dem Bild und der Gilde der anwesenden Anatomen verabschiedet, ist insofern ohne weiteres einleuchtend, und Grünbein tut sich und der Sache Descartes jedenfalls keinen Gefallen, wenn er zwar die ungewöhnliche veristische Leichenblässe des Delinquenten sieht, nicht aber das Antlitz des getöteten Menschen.

Grünbeins Absicht ist es, Descartes aus der Position des bestgehaßten Philosophen, des Urvaters aller Verirrungen der Moderne zu befreien, da mag er bei dem einen Leser mehr Bereitschaft finden für seine Unternehmung als beim anderen. Sebald, wäre ihm noch die Möglichkeit geblieben, das Buch zu lesen hätte sich wohl eher renitent verhalten. Seine Einschätzung des von ihm als Amateuranatomen apostrophierten Descartes scheint festgezurrt, allerdings gibt es auch keine Hinweise auf eine vertiefte Auseinandersetzung von seiner Seite mit dem französischen Philosophen. Leicht ist jedenfalls zu erkennen, daß Grünbein den Verheißungen der Neuzeit in spürbar größeren Maße vertraut als Sebald.

Um Fragen dieser Art soll es hier aber nicht vordringlich gehen und auch gar nicht um Descartes, dem Grünbeins leidenschaftlicher und beeindruckender Rettungsversuch gilt, sondern nur um die Spiegelung des Rembrandtbildes in zwei Prosastücken. Die Zielvorgabe ist, aus dem Kontrast heraus eine bessere Vorstellung von Sebalds Bildversenkungskunst zu gewinnen, wie er sie sein Werk hindurch an verschiedenen Objekten und Malern demonstriert hat, Grünewald, Pisanello, Giotto. Sebalds Sprache, der tiefblaue Samtton seiner Prosa, erweist ihren Sinn an diesen Stellen vielleicht in besonderem Maße.

Das Geheimnis dieser Sprache liegt, man darf das scheinbare Paradoxon nicht scheuen, in nicht geringen Maße in ihrer leichten Verständlichkeit. Dabei ist Verständlichkeit weniger das Ziel der sprachlichen Veranstaltung als Stilmittel zur Erreichung anderer Ziele. In Grünbeins Text muß der Leser innehalten, etwa wenn die Sprache darauf kommt, daß Gott im Detail steckt - wieso? Wird der Autor noch zusätzliche Hinweise geben, oder muß ich, der Leser, um zu verstehen, zurücksteigen in mein eigenes bisheriges Verständnis? Solche Augenblicke erspart Sebald seinen Lesern oder enthält sie ihnen vor, wie man will, wir befinden uns nicht auf einer absoluten Skala der Werte. Sebalds Text ist immer sozusagen synchron auf der Höhe seiner Verstehbarkeit oder enthält doch aus dem Satzbogen heraus das Versprechen, Verstehbarkeit werde sich unmittelbar einstellen. Obendrein enthalten die Sätze zahlreiche nichttragende, allein satzmelodiöse Teile, die innersyntaktische Stille und Muße für allfällige Aufmerksamkeit schenken. Für seine Gänge durch die Monstrositäten und durch die Schönheit der Welt gewährt Sebald sich und seinen Lesern Logis in einem komfortablen Landhaus. Er nimmt uns gleichsam die Bürde des Denkens ab und legt es still zugunsten einer anderen, größeren Aufmerksamkeit, für den Rembrandtblick durch die Epidermis der Welt. Im Landhaus seiner Sätze gewinnt Sebald den Ausgangspunkt für den Übergang von der Bildanalyse zur Versenkung ins Bild.

Natürlich kann man im souveränen Fortschritt der Sätze ein Trompe la raison-Element vermuten. Kann jemand sich und uns täuschen, der sich seiner Worte so sicher ist? Das ist, man muß es einräumen, möglich, die Worte sind nicht die Dinge. Will hier allein die Sicherheit des Schritts die Richtigkeit des Weges verbürgen? Ein Kritiker hat bemerkt, reduziert auf eine Sprache im Normalzustand sei das Austerlitzbuch voller wagemutiger und auch haarsträubender Annahmen, die seien aber nicht hörbar, da dem Dichter keinerlei Tonfehler unterläuft. Aber dann gibt es auch keine Täuschung, denn ohne Frage versetzt eine Sprache im Ausnahmezustand auch ihre Inhalte in einen anderen Aggregatzustand. Sprache im Ausnahmezustand, daran werden wir bei Sebald gründlich erinnert und haben es bereits gesagt, muß nicht Aufstand und Ekstase bedeuten, es kann auch in einem tiefblauen samtenen Gleichmaß jenseits aller Realität bestehen, und doch bereit für alle Realität.

Nicht Grünbein, sondern Sebald ist es denn auch, der die zweite Schicht sieht hinter dem der Wissenschaft, ganz offenbar aber auch der Eitelkeit dienenden Prosektur, er sieht das Mittelalter, das archaische Ritual der Zergliederung eines Menschen, um die nach wie vor zum Register der zu verhängenden Strafen gehörende Peinigung des Fleisches des Delinquenten bis über den Tod hinaus und letztlich sieht er, durch Rembrandt hindurch, den panischen Halsknick an den in Grünewalds Werk überall vorkommenden Subjekten, der die Kehle freigibt und das Gesicht hineinwendet oft in ein blendendes Licht, als den äußersten Ausdruck der Körper dafür, daß die Natur kein Gleichgewicht kennt, sondern blind ein wüstes Experiment macht ums andre und wie ein unsinniger Bastler schon ausschlachtet, was ihr grad erst gelang. Wenn man versucht ist zu sagen, daß Grünbein das Bild von der Anatomievorlesung des Dr. Tulp mit den Augen des Descartes, Sebald es dagegen mit den Augen Rembrandts selbst sieht, kann es letztlich nicht überraschen, wenn es wiederum Sebald ist, der, versenkt wie er sich hat in den Maler, den gewollten Fehler sieht, die krasseste Fehlkonstruktion der geradezu grotesk proportionierten, auch anatomisch gänzlich verkehrten sezierten Hand. Zugleich ist es eigentlich kaum denkbar, Grünbein habe das übersehen. Er führt aus, es sei ein unterschobenes Präparat, ein in Spiritus aufbewahrter enthäuteter Unterarm aus der eigenen Raritätensammlung, verschweigt aber zugunsten seiner Argumentation die provokant fehlerhafte Einpassung in das Gemälde, um Rembrandt auf die Seite Descartes’ zu ziehen. Sebalds Text kennt er wohl nicht, sonst hätte ihm womöglich der Mut gefehlt für diesen kleinen Roßtäuschertrick.

Rembrandts Portraits, der Frieden der über dem zerfurchten Gesicht älterer Frauen liegt, der bereits ganz nach innen gekehrte und doch so welthaltige Blick, die kostbaren, schweren, monochromatischen Samtstoffe, eher Rot- als Blautöne, die den Körper einhüllen – auch das in vielem ein geeignetes Bild für die Eigentümlichkeiten der Sebaldschen Prosa.

Mittwoch, 15. Oktober 2008

Portrait of the Artist as a Very Young Man

Bereiche der Kunst

A la Sigrid, llunyana i veïna

In meinem Elternhaus hingen keine Gainsboroughs,

dieses Motiv zieht sich durch das Werk Sebalds, allerdings in einem ganz anderen Tonfall. Benns elterliches Pfarrhaus in der preußischen Provinz Brandenburg mochte amusisch sein, die Theaterbesuche spärlich, es wurde aber doch gelesen, es gab ein Gedankenleben. Das läßt sich von Sebalds Elternhaus im Allgäu so nicht sagen, der Gedanke an einen Gainsborough als Teil der Wohnungsaustattung ließ sich vom Dichter auch rückblickend in keiner Weise und nicht einmal als Vakuum formulieren: Die Anschaffung einer standesgemäßen Wohnzimmereinrichtung, die nach einer ungeschriebenen Vorschrift akkurat den Geschmacksvorstellungen des für die damals sich formierende klassenlose Gesellschaft repräsentativen Durchschnittspaars entsprach, hatte für die Eltern nach einer in mancher Hinsicht nicht leichten Jugend wahrscheinlich den Augenblick markiert, in dem es ihnen vorkam, als gäbe es doch eine höhere Gerechtigkeit. Dieses Wohnzimmer bestand also aus einem massiven Wohnzimmerschrank, in welchem die Tischdecken, die Servietten und das silberne Besteck aufbewahrt wurden. Vermerkt werden muß außerdem noch, daß im Aufsatz des Schranks nebst dem chinesischen Teeservice eine Reihe in Leinen gebundener dramatischer Schriften ihren Platz hatten, und zwar diejenigen Shakespeares, Schillers, Hebbels und Sudermanns. Es waren dies wohlfeile Ausgaben des Volksbühnenverbands, die der Vater, der gar nie auf den Gedanken gekommen wäre, ins Theater zu gehen, und noch viel weniger auf den, ein Theaterstück zu lesen, in einer Anwandlung von Kulturbewußtsein eines Tages einem Reisevertreter abgekauft hatte (SG 210ff).

Die bekannten biographischen Stationen ausgehend von Wertach und Sonthofen, nach Immenstadt, Oberstdorf, Freiburg, Fribourg und schließlich nach Norwich sowie die begleitende Textproduktion würden Vermutungen zulassen hinsichtlich der künstlerischen Entwicklung, die Sebald dann in schon vorgerücktem Alter als Prosadichter ins Licht der Weltöffentlichkeit treten ließ. Da er selbst darüber aber kaum schreibt, ist das nicht der erste Gegenstand der Überlegungen, die hier angestellt werden sollen. Es geht zunächst um die anderen Bereiche der Kunst.

Wildenbruchs Haubenlerche, davon zehrten wir - Portrait of the Artist as a Very Young Dramaturg

An die Stelle von Wildenbruchs Haubenlerche treten bei Sebald, was die Einführung in die Theaterkunst anbelangt, Schillers Räuber. Den tiefsten Eindruck aber von allen Veranstaltungen im Engelwirtssaal hat in mir die Aufführung der Räuber hinterlassen. Sicher ein halbes dutzendmal bin ich in dem verdunkelten Saal unter der teilweise bis aus den Nachbardörfern herübergekommenen Zuhörerschaft gesessen. Immer habe ich damals in die Handlung eingreifen und die Amalia mit einem einzigen Wort darüber aufklären wollen, daß sie, um sich aus dem staubigen Kerker in das Paradies der Liebe zu versetzen, wie sie es sich doch wünschte, bloß die Hand hätte ausstrecken müssen (SG 206). Hier ist sicher eine aus einer Reihe von Geburtsstunden des Dichters zu sehen, der ja den Drang, vom realen Leben aus in die Dichtung einzugreifen, nur umkehren muß, um das falsche Leben in der Erzählung in das richtige zu verwandeln, das freilich dort eingeschlossen bleiben muß.

Die Einführung in das Musiktheater findet parallel dazu im Ochsenwirt statt. Angelockt von den in die Winterlautlosigkeit herausdringenden Klängen, bin ich in den Festsaal hineingegangen und dort, ganz allein im Halbdunkel, Zeuge geworden wie auf der Bühne gerade die letzte Szene der Oper geprobt wurde. Was eine Oper war, wußte ich damals nicht, noch konnte ich mir denken, was es auf sich hatte mit dem blinkenden Dolch, den zuerst der Schnapsbrenner Zweng, dann der Polsterer Gschwendtner und zuletzt die Tabakhändlerin Bella Unsinn in der Hand hielten, aber daß es sich nur um eine vor meinen Augen sich vollziehende Katastrophe handeln konnte, das hörte ich aus den verzweiflungsvoll ineinander verschlungenen Stimmen, noch ehe der Gschwendtner Franz sich entleibte und gleich danach die Bella ohnmächtig zu Boden sank (CS 232f). Die Tiefe dieses Erlebnisses ist in der Folge kaum noch übertroffen worden, nicht vom modernen Regietheater und jedenfalls nicht, soweit es eine Freude darin fand, alle mögliche Königsdramen in kruder Form auf Adolf Hitler zu drehen. Im Zuge der sogenannten Wiedergutmachung ist man bei einer Bregenzer Nabucco-Inszenierung Mitte der neunziger Jahre auf den Gedanken gekommen, aus den Sklaven richtige Juden in Zebraanzügen zu machen. Ich habe, was mich heute noch reut, teilgenommen an einer Veranstaltung des Festspielrahmenprogramms und bin, bis die letzten Besucher in den Eingängen verschwunden waren, unschlüssig auf dem Vorplatz herumgestanden, unschlüssig, weil es mir mit jedem vergehenden Jahr unmöglicher wird, mich unter ein Publikum zu mischen; unschlüssig, weil ich den Chor der verkleideten KZ-Häftlinge nicht sehen wollte, und unschlüssig weil ich hinter dem Pfänder ein großes Gewitter heraufziehen sah (CS 237). – Der Sebaldleser weiß, daß letztendlich nicht das Gewitter, sondern die Zebraleute das nicht zu überwindende Hindernis waren.

hingen keine Gainsboroughs - Portrait of the Artist as a Very Young Painter

Auch die Einführung in die Malerei fand am Heimatort statt. Es ist mir beim Nachdenken eingefallen, daß die Bilder des Kunstmalers Hengge, abgesehen von denen in der Pfarrkirche, so ziemlich die einzigen Bilder gewesen sind, die ich bis zu meinem siebten oder achten Lebensjahr gesehen habe, und es ist mir jetzt, als hätten sie, diese Holzhauer- und Kreuzigungsbilder und das große Gemälde von der Schlacht auf dem Lechfeld, einen vernichtenden Eindruck auf mich gemacht. Daß sie für mich durch die Wiederbegegnung weniger vernichtend geworden wären, kann ich nicht sagen (SG 227). Sowohl Hengge als auch die Pfarrkirchenbilder stellen einen späten flachen Abglanz der Alten Meister dar, zu denen Sebald den Weg zurück genommen hat, um die künstlerische Tiefe und den semantischen Gehalt der Bilder Grünewalds, Giottos und Pisanellos in Worte zu transponieren. Ein Weg in die moderne Malerei ist, sieht man ab vom Werk seines Freundes Jan Peter Tripp, im Werk nicht in gleicher Weise zu verfolgen. Ein nähere Betrachtung erfordert natürlich aber noch die Malererzählung im Buch von den Ausgewanderten. Dabei soll es, dem gewählten Thema entsprechend, nur um Max Aurach as a very Young Painter gehen.

Mein Vater ist Kunsthändler gewesen, sein Ausstellungsfundusbestand in der Regel aus zirka fünf Dutzend goldgerahmten Salonstücken niederländischer Art, beziehungsweise aus mediterranen Genreszenen im Stile Murillos und aus menschenleeren deutschen Landschaften (AW 256). Also auch hier der Beginn in der Trivialmalerei, es fehlt aber der über den Maler Hengge ausgegossene Sarkasmus. Auch Aurach steigt zurück zu den alten Meistern, insbesondere zu dem, den auch Sebald vor allen anderen bevorzugt hat. Ich hatte seit sehr langer Zeit den Wunsch gehegt, die mir in der Malarbeit so oft vorschwebenden Isenheimer Bilder Grünewalds und insbesondere das von der Grablegung in Wirklichkeit zu sehen (AW 252). Im Traum vollzieht sich dann aber noch ein weiterer Schritt: Frohmann erläuterte sodann, wie er den Tempel getreu nach den Angaben der Bibel eigenhändig erbaut habe. Sehen Sie, man erkennt jede Turmzacke, jeden Vorhang, jede Schwelle, jedes heilige Gerät. Und ich beugte mich über das Tempelchen und wußte zum ersten Mal in meinem Leben, wie ein wahres Kunstwerk aussieht (AW 262f). Nach der Kopie oder dem Imitat hat das Modell den geringsten, allein in der Größenordnung liegenden Abstand von seinem Vorbild. Nach verbreiteter Übereinkunft gilt es eher als kunstfremd. Bei Sebald könnte ein Weg zum Hyperrealismus Jan Peter Tripps führen, den er wohl tatsächlich geliebt und dessen Werk er tiefe Interpretationen gewidmet hat. Vor allem aber sind wir bei der Vorstellung von der winzigen, eigentlich nicht wahrnehmbaren Veränderung in der Kunst, die alles ganz anders macht.


 
wurde auch nicht Chopin gespielt - Portrait of the Artist as a Very Young Musician

Es gab ja in dem Dorf W. am Nordrand der Alpen in unmittelbarer Nachkriegszeit außer den gelegentlichen Darbietungen der stark dezimierten Jodlergruppe und dem feierlichen Spiel der gleichfalls nur mehr aus ein paar älteren Gesellen bestehenden Blaskapelle bei der Flurumgangs- und Fronleichnamsprozession so gut wie überhaupt keine Musik. Nachdem wir im Dezember 1952 mit dem Möbelwagen des Spediteurs Alpenvogel aus unserem Heimatort W. in die neunzehn Kilometer entfernte Kleinstadt S. umgezogen waren, begann sich mein musikalischer Horizont nach und nach zu erweitern. Ich hörte den Lehrer Bereyter verschiedene wunderschöne Stücke und Melodiebögen blasen, freilich ohne zu wissen, daß sie von Mozart stammten oder von Brahms. Begeistert, wie ich von dem Lehrer Bereyter gewesen bin, hätte ich damals selber am liebsten das Klarinettenspiel gelernt. Aber eine Klarinette gab es bei uns zu Hause nicht, sondern bloß eine Zither. Das Zitherspiel ist für mich eine schlimme Plage gewesen und die Zither selbst eine Art Folterbank, an der man sich vergebens verrenkte und die einem die Finger krumm werden ließ. Als ich dann viele Jahre später durch einen jener Zufälle, die es eigentlich nicht gibt, eines Nachts beim Heimfahren das Autoradio anstellte, wie gerade das von Bereyter so oft gespielte Thema aus dem zweiten Satz des Klarinettenquintetts von Brahms erklang und ich es über die ganze vergangene Zeit hinweg wiedererkannte, da wurde ich in diesem Moment des Wiedererkennens gestreift von der in unserem Gefühlsleben so seltenen Sensation einer fast vollkommenen Gewichtslosigkeit (CS 224ff).

Gedankenleben? - Portrait of the Artist as a Very Young Writer

Sebald ist kein Dramaturg oder Maler geworden und, wie er glaubhaft berichtet, schon gar kein Musiker. Als Maler hat er sich von Hengge zurück zu den alten Meistern begeben, nach der Meinung einiger, die ihn nicht von Stifter unterscheiden können, auch der eigene Weg als Schriftsteller. Als Dramaturg hat er es, soweit zu sehen ist, im wesentlichen bei den Aufführungen im Engel- und im Ochsenwirt belassen. Als Musiker führt ihn der Weg von den Rottachtalern zu Bereyters Klarinette, von dort zur Zither und wieder zurück zur Klarinette. Und der Weg als Schriftsteller?

Bereyter läßt in der Volksschule nicht aus dem Schulbuch, sondern aus dem Rheinischen Hausfreund lesen. Hebel wird mit anderen Alemannen bevorzugter Logisgast in Sebalds Landhaus. Bereyter führt eigenmächtig bereits in der Volksschule den Französischunterricht ein, auch Rousseau darf daraufhin einziehen, das Landhaus steht in seinem Fall auf der Petersinsel im Bieler See im alemannisch-französischen Grenzgebiet. Sebald ist als der Wanderer Selysses stets anwesend in seinen Erzählungen und zugleich weithin unsichtbar, ein Schatten, ein Reflex der jeweiligen Erzählgegenstände. Erhellend das Photo im Austerlitzbuch, der Spiegelreflex des Photographen über den Exponaten des ANTIKOS BAZAR (AUS 287). Leibhaftig wird nur das Kind in Wertach. Aber auch den Knaben sehen wir als ständigen Wanderer, unterwegs vom Engel- zum Ochsenwirt, zur Praxis des Doktor Rambousek, auf dem Weg am Lehrerhaus und am Kaplanhaus vorbei die hohe Friedhofsmauer entlang, unterwegs zum Café Alpenrose. Die engen Blutsverwandten sind, mit Ausnahme des Großvaters, abwesend, nie erleben wir den Wertacher Knaben im Haus in Combray in verzweifelter Sehnsucht und Erwartung des Gutenachtkusses der Mutter. Das Leben hat Selysses durch die Welt geführt, ohne daß er Wertach verlassen hätte, wo er nie zuhause war. Sebald ist der Dichter der großen Entfernungen, die die kleinen sind, und umgekehrt. Mit einem Schritt nur, aus dem Stand, hat er den Durchschnitt der deutschen Erzählliteratur verlassen und sich als Confrère an die Seite von Kafka, Proust und Bernhard gestellt. Ständig zieht in seiner Prosa die erzählte falsche Welt an uns vorbei und am selben Ort, ununterscheidbar nah, ist sie, erzählt, die immerfort richtige. Wir haben guten Grund, diese Welt nicht mehr verlassen zu wollen.

Dienstag, 14. Oktober 2008

Selysses an Land

Schiffe, Boote, Barken

Für Christian Wirth, Sebaldianer und Skipper

no fugis, sempre et tocarà
algun naufragi, perque tu pertanys
al boirós oceà del món real.

Selysses wird, anders als sein antiker Vorfahr, kaum je auf einem Schiff angetroffen. Angebot und Konkurrenz der Beförderungsmittel sind neuerdings erheblich gestiegen. Selysses reist mit dem Zug, dem Flugzeug, vereinzelt auch mit dem Auto, am liebsten aber zu Fuß. Noch besser aber wäre er eigentlich, wie er bekennt, zuhaus geblieben. Das bedeutet aber keineswegs, Schiffe, Boote und Blicke auf die Seefahrt in ihren verschiedenen Aspekten würden fehlen im Werk. Bereits das mittlere Abteil des Elementargedichtes Nach der Natur, Und blieb ich am äußersten Meer, ist der Seefahrt des Georg Wilhelm Steller gewidmet. Das Saturnbuch ist eine Wanderung am Ufer des Meeres mit zahlreichen Blicken auf Schiffe, Boote und die Seefahrt in ihren verschiedensten Formen. Joseph Conrad, als der vielleicht bekannteste Verfasser literarischer Seestücke, hat ein eigenes Kapitel, in der Adelwartherzählung fahren die Auswanderer mit dem Schiff über den Atlantik, Ambros Adelwarth und Cosmos machen eine Schiffreise von Venedig nach Griechenland und Stambul und dann auf dem Landweg weiter nach Jerusalem. In All’Estero macht Selysses selbst eine Bootsfahrt von Venedig zur Lagune und man verabredet mit dem Bootseigner ein Wiedersehen in Jerusalem. Nicht alles aber, was einmal floß, ist noch Wasser, und worauf man steht, ist nicht immer fester Grund.

In Tyumen holen sie ihn aus dem Schlitten, schleppen sie seinen zur Hälfte versteinerten Leib aus dem Eis hinein in das Feuer. Und blieb ich am äußersten Meer ist die Geschichte eines auf die Vorbereitung, die Durchführung und die Folgen einer Seefahrt - der vom dänischen Kapitän Vitus Bering im Auftrage Peter des Großen durchgeführten Großen Nordischen Expedition – geschrumpften Lebens. Tiefer betrachtet ist es aber weniger die Geschichte einer Seefahrt als die einer Vereisung. Man denkt an Bernhards Romanerstling Frost.

Das dem Seefahrer und Dichter Conrad gewidmete Kapitel in den Ringen des Saturns bestätigt diese Sichtweise. In der sibirischen Verbannung in Wolodga lernt er einen auf zwei Jahreszeiten, den weißen und den grünen Winter, reduzierten Jahresablauf kennen. Die Leichenstarre geht über in einen grauenhaften Marasmus. Im weißen Winter ist alles tot, im grünen Winter alles am Sterben (RS 128). Conrads Seefahrerleben, so wie in der Erzählung vorgestellt, spielt sich vorwiegend im grünen Winter der Tropen ab und es sind, zumal im Kongo bedrückende Bilder des Sterbens. Er kehrt dann noch einmal in den weißen Winter der Ukraine zurück. Als der Schlitten anruckte, begann für mich, begleitet von dem leisen gleichmäßigen Schellengeräusch, eine Winterreise zurück in die Kindheit. Wie früher, vor langer Zeit, sah ich die Sonne über die Ebene sich senken. Eine große, rote Scheibe, senkte sie sich in den Schnee, als ginge sie unter über dem Meer. Geschwind fuhren wir in die Dunkelheit hinein, in die unermeßliche, an den Sternenhimmel angrenzende weiße Wüste, in der wie Schatten die von Bäumen umstandenen Dörfer trieben (RS 140 f). – Das Schiff ist zum Schlitten geworden, oder umgekehrt.
Das Thema der Vereisung tritt in Sebalds Werk auch losgelöst von dem der Seefahrt auf. Neben Vernichtungsvisionen durch Feuer und Brand stehen solche durch Kälte. Wir denken daran, daß bei Dante im innersten Inferno Satan selbst eingefroren in einem Eisblock überdauert. Zurück zur Seefahrt, die nicht allein ins Eis und nicht nur in einen grünen Winter, sondern auch unmittelbar ins Feuer führen kann.

Der 28. Mai 1672, dieser denkwürdige Tag, an dem dort draußen die holländische Flotte aus dem über der See treibenden Dunst auftauchte und das Feuer eröffnete auf die in der Bucht von Southwold versammelten Schiffe. Später, als die Schlacht ihren Fortgang nahm, als die Pulvermagazine explodierten und einige der geteerten Schiffsleiber bis an die Wasserlinie herabbrannten, wird alles eingehüllt gewesen sein in einen beizenden, gelbschwarzen über die gesamte Bucht sich wälzenden Rauch. Selbst gefeierte Seeschlachtenmaler vermögen, trotz einer durchaus erkennbaren realistischen Absicht, keinen wahren Eindruck vermitteln, wie es auf einem der mit Gerät und Mannschaften bis zum äußersten überladenen Schiffen zugegangen sein muß, wenn brennende Masten und Segel niederstürzten oder Kanonenkugeln die von einem unglaublichen Leibergewimmel erfüllten Zwischendecks durchschlugen. Die erlittene Pein, das gesamte Werk der Zerstörung übersteigt um ein Vielfaches unser Vorstellungsvermögen, ebenso wie es nicht auszudenken ist, was für ein enormer Aufwand an Arbeit vonnöten gewesen sein muß, um die ja von vornherein größtenteils zur Vernichtung bestimmten Fahrzeuge zu bauen und auszurüsten (RS 94ff).

Anders als in Dantes Hölle ist das Feuer in der Sebaldschen Seefahrt doch die weitaus stärkere Qual. Das Eis und das Erfrieren scheinen sogar eine geheime Sehnsucht des Dichters zu sein. Schließlich identifiziert er sich über das Eis nicht nur mit Georg Wilhelm Steller, sondern in der schönstdenkbaren Weise auch mit seinem Namenspatron: Sand Sebolt entfacht im Herd eines um Holz geizenden Wagners ein Feuer aus Eiszapfen. Immer ist diese Geschichte von der Verbrennung der gefrorenen Lebenssubstanz für mich von besonderer Bedeutung gewesen, und ich habe mich oft gefragt, ob nicht die inwendige Vereisung und Verödung am Ende die Voraussetzung ist dafür, daß man, vermittels einer Art schwindelhafter Schaustellerei die Welt glauben machen kann, das arme Herz stünde noch in Flammen (RS 107). Auch sind die Schneeszenen weitaus weniger eindeutig als die von den Bränden und schwanken gleichsam zwischen Vernichtung und Schutz: Ich dachte an den Wunsch, den ich als Kind immer gehabt hatte, daß alles zuschneien möge, das ganze Dorf und das Tal bis zu den obersten Höhen hinauf, und daran, daß ich mir vorstellte damals, wie es wäre, wenn wir im Frühjahr wieder auftauten und hervorkämen aus dem Eis (AUS 58).

Ein verbindendes Element der Schiffahrt ins Eis zu Forschungszwecken und derjenigen in den Krieg und ins Feuer sind der gewaltige Aufwand und die gewaltigen jeweils notwendigen Vorbereitungen. Als Steller 1736 tatsächlich den ersehnten Auftrag erhielt, der Beringschen Expedition sich anzuschließen, war diese bereits zehn Jahre zuvor in die Wege geleitete Unternehmen in Jakutsk auf dem einhundertneunundzwanzigsten Grad östlicher Länge angelangt. Steller bewältigte die fünftausend Meilen im Ablauf der dreieinhalb Jahre, die Vitus Bering noch brauchte, um bis auf den letzten Nagel alles mit kleinen sibirischen Packpferden über das Jablonoigebirge ans Meer von Ochotsk zu bringen (NN 46f). Die zerstörende Kraft von Wissenschaft und Technik, auch schon besungen als Entfesselung der Produktivkräfte, und das Verschwinden des Menschen in seinen Artefakten werden von Sebald überall und nicht zuletzt auch im Umkreis der Schiffe aufgespürt.

Die frühe Auswanderung vor dem Hitlerkrieg erfolgte noch auf großen Seeschiffen, freilich nicht notwendig zum Entzücken der Passagiere. Der Onkel erzählte von seiner Überfahrt mitten durch die Februarstürme hindurch. Es ist zum Fürchten gewesen, wie die Wellen sich aus der Tiefe hervorhoben und wieder zurückgerollt kamen. Nur schwarzes Wasser, tagaus und tagein, und das Schiff, wie es schien, die ganze Zeit auf demselben Fleck. Wohler wurde mir erst wieder, als wir durch die Narrows in die Upper Bay hineinfuhren. Das Schiff war langsamer geworden. Ich spürte eine schwache Brise an meiner Stirn, und indem wir der Waterfront uns annäherten, wuchs Manhattan vor uns höher und höher aus den jetzt von der Morgensonne durchdrungenen Nebeln heraus (AW 119f). Seither aber sind die Seeleute und mithin die Seefahrt im eigentlichen Sinne abhanden gekommen. Der Sailor’s Reading Room, eine gemeinnützige Einrichtung, dient, seit die Seeleute am Aussterben sind, in erster Linie als eine Art maritimes Museum (RS 114). Dem gestrandeten Selysses aber ist der Sailor’s Reading Room bei weitem der liebste Ort. Besser als sonst irgendwo kann man hier lesen, Briefe schreiben, seinen Gedanken nachhängen oder, während der langen Winterzeit, einfach hinausschauen auf die stürmische, über die Promenade hineinbrechende See (RS 115).

Der Seefahrer an Land. Auf ernstliche Seefahrt verzichtet Selysses, ab und zu ein triviales Übersetzen mit der Englandfähre, das ist alles. Aber schon das schicksalhafte erste Übersetzen Austerlitz’ mit der Fähre PRAGUE wird, im krassen Gegensatz zum Aufbruch im Prager Bahnhof und zur Ankunft in der Liverpool Station, erzählerisch überhaupt nicht ausgeführt. Dabei war es womöglich die erste Seefahrt des Knaben Austerlitz überhaupt, die schon einen tiefen Eindruck und eine entsprechende Erzählspur hätte hinterlassen können.

Das verschüttete Seefahrerherz des Selysses schlägt aber noch, sei’s in Freude oder in Furcht, und so wird ihm immer wieder das Land zur See. Ich habe die Gare du Nord oder die Gare de l’Est aufgesucht, um das Einfahren der Dampflokomotiven anzuschauen oder das leise Davongleiten der hellerleuchteten, geheimnisvollen Pullmanzüge, die in die Nacht hinausfuhren wie Schiffe auf die unendliche Weite des Meeres (AUS 53). Das Martinsheim ist ein langgestrecktes massives Gebäude aus dem 17. oder 18. Jahrhundert. Durch die tief in das Mauerwerk eingelassenen, vergitterten Fenster konnte man auf die Kronen der Bäume hinabsehen, die das stark abschüssige Gelände an der rückwärtigen Seite des Heimes bestanden. Es war als blicke man auf ein wogendes Meer. Das Festland, schien mir, war bereits hinter dem Horizont versunken. Ein Nebelhorn dröhnte. Weiter und weiter zog das Schiff auf das Wasser hinaus. Aus dem Maschinenraum herauf drang das gleichmäßige Schüttern der Turbinen (SG 53). Insbesondere an Tagen, an denen der Wind, was nicht selten vorkommt, den Regen über diesen gänzlich ungeschützten Plan treibt, meint man, durch irgendein Versehen auf das Deck der Berengaria oder eines anderen Ozeanriesen geraten zu sein und wäre wohl nicht im erstaunt, wenn auf einmal, unter Aufdröhnen eines Nebelhorns, die Horizonte der Stadt Paris gegen den Pegel der Türme im Gleichmaß mit dem die Wellenberge durchquerenden Dampfer sich höben und senkten oder eine der winzigen Figuren , die sich unklugerweise an Deck gewagt haben, von einer Sturmböe über die Reling gefegt und weit über die atlantische Wasserwüste hinausgetragen würde AUS S. 393).

Der Gigantomanie der Architektur sind in Sebalds Werk lange und insbesondere das Austerlitzbuch geradezu bestimmende Passagen gewidmet, die Gigantomanie der Schiffe, Öltanker und Containerschiffe, riesige Kreuzfahrtschiffe, ist sozusagen schon jenseits der Seefahrt und der Menschheit angesiedelt und wird beschwiegen. Erwähnenswert sind nur die schwimmenden Pendants von Feldhütte, Häuschen des Schleusenwärters und Kindervilla, den bevorzugten Architekturerzeugnissen (AUS 31), also kleine küstennahe Schiffe, Segler, allenfalls Dampfsegler, Boote und Barken.

Der Übergang von der wohlgelittenen Architektur zur wohlgelittenen Seefahrt wird von der Krummenbacher Kapelle geleistet, die den Dichter rührt durch ihr winziges Ausmaß und durch die von einer ungeschickten Hand um die Mitte des 18. Jahrhunderts gemalten Kreuzwegstationen. Die Krummenbacher Kapelle ist so klein, daß mehr als ein Dutzend auf einmal gewiß nicht ihren Gottesdienst verrichten oder ihre Andacht üben konnten. Ich setzte mich eine Zeitlang hinein in dieses gemauerte Gehäuse, und bald kam es mir vor, als befände ich mich in einem Kahn auf der Fahrt und überquerte das große Wasser. Der feuchte Kalkgeruch verwandelte sich in Seeluft, ich spürte den Zug des Fahrtwinds an der Stirn und das Schwanken des Bodens unter meinen Füßen und überließ mich der Vorstellung einer Schiffsreise aus dem überschwemmten Gebirge hinaus (SG 195). Die imaginierte Fahrt über das Wasser wird zu einer Fahrt durch die Zeit zurück in die Kindheit. Die Türme und Türmchen der Allgäuer Kirchen und Kapellen waren für den very young writer für lange Zeit die einzigen Segel am Horizont. Kapellen wie die von Krummenbach gab es zahlreiche um W. herum, und vieles von dem, was ich damals von ihnen gesehen und gespürt habe, wird in mir geblieben sein, die Angst vor den dort abgebildeten Grausamkeiten nicht weniger als in seiner Unerfüllbarkeit der Wunsch nach einer Wiederholung der in ihrem Inneren herrschenden vollkommenen Stille (SG 196).
Schrecken und vollkommener Frieden, Attribute des Sakralen und der Seefahrt zugleich, verbunden im Begriff der Christlichen Seefahrt, im 17. Jahrhundert entstandener Ausdruck, erstmals belegt im Titel zweier in Kopenhagen erschienener Andachtsbücher für Seeleute, mit dem die Verbindung zwischen Christentum und Seefahrt in bewusster Unterscheidung zur heidnischen Seefahrt betont werden sollte. Das Menschenleben als Fahrt über die Meere, nicht ohne Grund folgt Selisse dem Ulisse vorzugsweise nur halluzinatorisch aufs Wasser. Dante läßt die letzte Seefahrt des Ulisse in der Katastrophe enden und schließt damit das Kapitel der vorchristlichen Seefahrt: Tre volte il fé girar con tutte l'acque; a la quarta levar la poppa in suso e la prora ire in giù, com'altrui piacque, infin che 'l mar fu sovra noi richius. Aber der Läuterungsberg der Christenheit kann, nur wenige Gesänge weiter, dann doch nur über die grausame See erreicht werden: Per correr miglior acque alza le vele omai la navicella del mio ingegno,che lascia dietro a sé mar sì crudele; e canterò di quel secondo regno dove l'umano spirito si purga e di salire al ciel diventa degno.

Kähne, Boote und Barken, allenfalls Dampfsegler: Den allmählich ausführlicher werdenden Eintragungen ist zu entnehmen, daß Ambros und Cosmos Ende August mit einem Dampfsegler in Richtung Griechenland und Konstantinopel von Venedig abgegangen sind. 6. September: Von Kérkyra aus über Ithaka und Patras in den Golf von Korinth. Die Heimat des Odysseus wird besucht, seine Reiserouten werden gekreuzt. Gestern am Vormittag ab Piräus. Große Schwärme von Kormoranen. Heute morgen durch die Dardanellen. Nach Auszahlung des Triestiner Kapitäns vorerst abgestiegen im Pera Palas. Pera, sagt der Empfangschef auf meine Frage, pera heißt jenseits. Jenseits von Stanbul. Die Reise mit dem Endziel Jerusalem wird dann auf dem Landweg fortgesetzt (AW188 ff).

Ich selber bin an jenem Abend des 31. Oktober mit einem Venezianer namens Malachio ins Gespräch gekommen. Gegen Mitternacht fuhren wir mit seinem Boot, das draußen vor der Mole lag, den Drachenschweif des Großen Kanals hinauf, an der Ferrovia und am Tronchetto vorbei, hinaus auf das offene Wasser. Vor uns lag der verglimmende Glanz unserer Welt. Er habe in der letzten Zeit viel nachgedacht über die Auferstehung und frage sich nach der Bedeutung des Satzes, demzufolge unsere Gebeine und Leiber von den Engeln dereinst übertragen werden in das Gesichtsfeld Ezechiels. Der Motor sprang wieder an, das Boot hob und senkte sich mit den Wellen. Malachio steuerte das Boot zu meinem Hotel zurück. Das Boot machte eine Kehre im Wasser. Malachio winkte noch einmal und rief: Ci vediamo a Gerusalemme (SG 69ff).

Jerusalem, zweimal gleichsam über See angesteuert, der Tempel der Heiligen Stadtzweimal in Miniatur nachgebaut, im neunten Teil des Saturnbuches und in der Auracherzählung, Disraeli nennt Manchester die wundervollste Stadt der Neuzeit ein himmlisches Jerusalem (NN S. 83), was aber folgt auf Manchester, dessen Niedergang wiederum in der Auracherzählung ausgeführt ist. – Das Jerusalemmotiv würde ein eigenes kleines Sebaldstück erfordern.

Vor hundert Jahren verschwand hier Edward Fitzgerald, der Übersetzer Omar Khayyams. In schon fortgeschrittenen Alter bestieg er eines Tages sein Boot, segelte mit festgebundenen Zylinder hinaus auf die Nordsee und ward nie mehr gesehen (NN S. 93). Die Leben FitzGeralds ist dann ausführlich im achten Teil des Saturnbuches geschildert. Selysses selbst ist ein Erdoberflächenmann, liebt aber die Erdoberflächenflüchtlinge, die Flieger, die gleich den Mauerseglern, den Boden am liebsten nie wieder berühren möchten, den Major Wyndham Le Strange, der, um sich nach unten zu verflüchtigen, in seinem Garten eine Höhle ausgehoben hat, in der er dann tage- und nächtelang gesessen ist gleich dem heiligen Hieronymus in der Wüste (RS S. 83), und eben FitzGerald, der die Erde endgültig auf dem Wasserweg verläßt.

Die Flieger haben ihre natürlichen Gefährten und Vorbilder in den Vögeln, die Seefahrer in den Fischen, aber es ist keine glatte Parallelität. Das immer aussichtslose Verhältnis von Mensch und Natur, von Mensch und Kreatur ist im Element des Wassers noch um einiges aussichtsloser für uns.
Die Vögel treffen wir hospitalisiert und im Zustand traurigster Verwahrlosung, wir treffen sie aber auch als Glorie um den Heiligen Major Wyndham Le Strange, und wir treffen sie als Teil des Paradieses Andromeda Lodge. Aber selbst das Paradies gründet auf einer zerstörten Meeresfauna: diese Pracht sei durch unsere Sammelleidenschaft und andere, gar nicht wägbare Störungen und Einflüsse nahezu völlig vernichtet (AUS S. 135). Im wohl als berühmt zu bezeichnenden Heringskapitel des Saturnbuches ist der scheinbare Sieg des Menschen über die Natur als unübersehbares Menetekel seines eigenen Verderbens an die Wand geworfen.

Der Herausgeber des Nachlaßbandes Campo Santo unterteilt in Prosa und Essays und geht dabei ein wenig unbedacht vor. Zumindest zwei der so genannten Essays gehören in die Abteilung Prosa verlegt, Moments musicaux und Scomber scombrus oder die gemeine Makrele. Die beiden Segel waren im Westwind gebläht, und wir setzten den Kurs – der Eingangssatz der Makrelenerzählung läßt geradezu aufschrecken: Wir kennen den einsamen Wanderer Selysses, wir kennen ihn im Zwiegespräch, wir kennen ihn auch in etwas größeren, zumeist flüchtigen Gruppen dann aber exakt benannter Individuen, wir kennen ihn nicht als Teil eines unbestimmten Wir. Es handelt sich um eine Seglercrew, das Meer, auf dem wir alle schwimmen, macht alles anders.

Und auch die Makrele, von der erzählt wird, ist ein ganz anderer Fisch als der Hering, sie gehört bekanntlich zu den gefräßigsten Fischen. Ihr steifer, torpedoförmiger Leib, dessen Hauptmerkmal eine hypertrophisch ausgebildete, die Wendigkeit stark einschränkende Muskulatur ist, treibt sie in gerader Bahn ständig voran. Auszurasten ist ihnen so gut wie unmöglich. Dadurch geraten sie offenbar auch an Land. Dank der semantischen Zweitbelegung des französischen maquereau finden wir die Makrele an der Kassa eines Bordells sitzend. Die bedrohlichen Bilder des Hieronymus Bosch mit ihrer Vermischung von Menschen- und Fischleibern treten vor Augen, die Erzählung selbst wechselt über zu einer Gravüre von Grandville, auf der ein halbes Dutzend besonders kaltblütiger Fische, angetan mit gestärkter Hemdbrust, Krawatte und Frack, an einer gedeckten Tafel sitzen, im Begriff, einen ihrer Artgenossen zu verspeisen oder, was kaum weniger furchtbar wäre, einen von uns. Die Erzählung ist insgesamt eine Phantasie über zwei Makrelenbilder Jan Peter Tripps.

Gegen Ende finden wir Selysses wieder auf seinem seemännischen Vorzugsplatz, den an Land mit Blick auf das Meer: Wir waren längst vom Fischzug zurückgekehrt und schauten am festen Land noch einmal auf das graue Meer, als es mir scheinen wollte, als glitte draußen etwas Dreieckiges dahin. Ein Segel or else the fin of that great fish? Der Große Fisch, der Große Weiße Wal, der Mensch im Kampf mit der übermächtigen Natur, der Leviathan, der Mensch im Kampf mit sich selbst. Bei noch so vielen Siegen, gewinnen kann der Mensch, können wir (auch am Ende der Erzählung wieder das alle umgreifende Wir) nicht: that great fish we will never net passing us far out at sea. Wir möchten uns aufschwingen wie die Vögel und am besten den Mauersegler gleich den Boden nie wieder berühren, aber der große Fisch draußen wird uns verschlingen vorab in der Weise unseres Todes. Die Heiligen erheben sich nicht mehr, und die Engel können nicht aufhören mit ihrem Weinen. – Eine kleine Turnübung im Motivgefüge.

Weitere Blicke auf die Seefahrt vom sicheren Land aus, weitere mythisch-mystische Momente: Als meine Augen sich an das sanfte Zweilicht gewöhnten, konnte ich das Schiff sehen, das aus der Mitte des Sonnenfeuers hervorgekommen war und jetzt auf den Hafen von Porto zuhielt, so langsam, das man meinte, es bewege sich nicht. Es war eine weiße Yacht mit fünf Masten, die nicht die geringste Spur auf dem reglosen Wasser hinterließ. Knapp war sie an der Grenze zum Stillstand und rückte doch so unaufhaltsam vor wie der große Zeiger der Uhr. Das Schiff fuhr, sozusagen, entlang der Linie, die das, was wir wahrnehmen können, trennt von dem, was noch keiner gesehen hat. Vielleicht eine Stunde lag das Schiff hell leuchtend in der Finsternis, als warte sein Kapitän auf die Erlaubnis, einlaufen zu dürfen in den hinter den Calanches verborgenen Hafen. Dann, als die Sterne schon über den Bergen hervortraten, drehte es ab und fuhr so langsam, wie es gekommen war, wieder davon (CS S. 49f). Wer es gelesen hat, kommt nicht umhin, an Aleksandr Grins Feenmärchen Alyje parusa zu denken, die Geschichte von dem Schiff mit den Purpursegeln, das den Prinzen bringt. Auch hier offenbar der Gesandte einer eher wohlwollenden Macht, un prince extraterrestre de quelque sorte, der Messias womöglich, der dann aber, da niemand ihn erkennt und empfangen will, wieder fort fährt. Auf der realistischen Ebene ist es ein Spiel mit Stillstand und Bewegung, das nur das Wasser mit uns spielen kann. Ein Spiel der Zeit, die stillzustehen scheint, und doch unaufhaltsam ihr Werk verrichtet.

Ähnlich, das gleiche Suggestionsmuster und doch anders: Draußen auf dem bleifarbenen Meer begleitete mich ein Segelboot, genauer gesagt schien es mir, als stünde es still und als käme ich selber, Schritt für Schritt, so wenig vom Fleck wie der unsichtbare Geisterfahrer mit seiner bewegungslosen Barke. Der Himmel verdunkelte sich zusehends. Wolkenbänke schoben sich weit hinaus über das jetzt von weißen Streifen durchzogene Meer. Die Barke, die solange sich nicht fortbewegen wollte, war auf einmal verschwunden (RS 84f). Nicht aus sprachlicherVerlegenheit, die er nicht kennt, wechselt der Dichter von Segelboot zu Barke, und nicht ohne Vorbedacht stattet er sie mit einem Geisterfahrer aus. Der Bezug ist hergestellt zur Barke des zugleich toten und lebendigen Jägers Gracchus, die die Schwindel.Gefühle von vorn bis hinten durchfährt. Und nun kreuzt Gracchus vor der Küste Ostengland, in seinem schweren alten Kahn, verhältnismäßig niedrig und sehr ausgebaucht, verunreinigt, wie mit Schwarzwasser ganz und gar übergossen, noch troff es scheinbar die gelbliche Außenwand hinab, die Masten unverständlich hoch, der Hauptmast im obern Drittel geknickt, faltige, rauhe, gelbbraune Segeltücher zwischen den Hölzern kreuz und quer gezogen, Flickarbeit, keinem Windstoß gewachsen (Kafka, Tagebücher, 6.4.1917). Gracchus, ambivalent wie der Schnee, grauenhaft für ewig aufgehängt zwischen Leben und Tod und doch auch zu beneiden um seine immerwährende Fahrt über das Wasser.

Nur die kleine Seefahrt ist zu retten, die große ist verdammt wie so vieles, fast alles. Die Arche, die uns retten sollte, hat ihrerseits den Zustand eines zwergenhaftenen Hausboots angenommen: Eine Kuh und einen Ochsen gab es, zwei Gänse und so weiter. Weiße Tauben umflogen das kleine Haus, das mit seinem geschindelten, vielfach geflickten, für die Gegend ganz ungewöhnlichen Walmdach einem auf der Hügelkuppe gestrandeten Schiffchen gleichsah. Und jedesmal, wenn ich dort vorbeikam, schaute grad der Vater der Romana, der ein verschmitzter Mensch gewesen ist, wie der Noah aus der Arche zu einem der winzigen Fenster heraus (SG 257).

Nicht vergessen werden darf schließlich das älteste geschichtlich belegte Miniaturbeispiel der bemannten vorchristlichen Seefahrt, Moses, mit dem alles begann, wie er in seinem Kästchen nilabwärts durch das Schilf treibt, yn yr hesg ar fin yr afon, wie Austerlitz es in der kymrischen Sprache wiedergibt, die er als Kind erlernt hatte. Wir nutzen die Gelegenheit zum erweiterten Ruhm der keltischen Sprachen, ein bitter nötiges Preislied angesichts ihres traurigen und zutiefst zu beklagenden Niedergangs: chuir i measc na n-eilestram ar bhuach na habhann é, so heißt die gleiche Stelle, etwas großzügiger ausgeschnitten, in der irischen Bíobla Naofa.

Flieger

Due Geraldi e un Douglas sull’ali dorate
i en Joan, verwegener Freund & sicherer Flieger

Je mehr einzelne Motivfäden man im Werk Sebalds verfolgt, desto schwieriger wird es, sie auseinander zu halten. Sie auseinander zu halten, kann natürlich auch gar kein ernsthaftes Ziel sein, denn die Dichte der Textur beruht nicht zuletzt darauf, daß die gleichen Erzählelemente verschiedenen Motivreihen angehören. San Giorgio con capello di paglia ist zugleich Heiliger und Kunstwerk, Tauben sind Tiere und Flieger. Irgendwann im Verlaufe fortgesetzter Betrachtung der Prosawerke Sebalds ist der Punkt erreicht, an dem das Interesse an Überschneidungen dieser Art und an der Fügung der Motivketten in den Vordergrund tritt. Die im Marbacher Katalog zur Sebaldausstellung Wandernde Schatten erstmals veröffentlichten Fragmente zum Anflug auf Korsika (S. 159 bis 175 des Katalogs) erlauben vor dem Hintergrund der Wiederaufnahme und Weiterverarbeitung verschiedener Motivreihen im Austerlitzbuch einen tiefen Einblick in die Motivverknüpfungsarbeit des Dichters.


Der Pilot im ersten Anflug auf Korsika (S. 159 bis 166) heißt Gerald Ashman, er zerfällt im Austerlitzbuch anstandslos in Gerald Fitzpatrick und James Mallord Ashman. Der Pilot im zweiten Anflug (S. 166 bis 175) heißt Douglas X. Er hat bei Licht besehen gar keinen Namen, Douglas war ein seinerzeit bekannter Flugzeughersteller und ist insofern neben X eine weitere abstrakte Chiffre für einen Flieger. Douglas X ist noch im Zustand blasser Planung, sein Nachfolger ist die Figur mit dem instabilen Namen im Austerlitzbuch, zunächst Dafydd Elias und dann eben Austerlitz. Die Flieger Gerald Ashman, Gerald Fitzpatrick und Douglas X haben nur wenige alle drei verbindende Motive, eins besteht im Broterwerb an einem Institut in Genf. Für Gerald Ashman und Douglas X liegt diese Tätigkeit in der Vergangenheit, sie sind im vorgerückten Alter und können mit dem Verdienten ihre Flugleidenschaft finanzieren. Gerald Fitzpatrick ist jung und kommt während der Zeit am Institut in Genf bei einem Absturz mit seiner Cessna als Liebling der Götter ums Leben.

Was berechtigt zu der wagemutigen Behauptung, Douglas X sei der Vorläufer des Austerlitz? Die Verwandtschaft ist mit bloßem Auge kaum zu erkennen. Douglas ist der Flug- und damit Wegbegleiter des Selysses und redet die gesamte Flugstrecke belehrend auf ihn ein. Eine auch nur annähernd eintönige und unattraktive Erzählstrecke findet sich im veröffentlichten Werk Sebalds nicht - ein Geschenk besonderer Art für den Sebaldianer, zeigt sie ihm doch, daß er dem Autor, an dessen veröffentlichten Werk er kaum einen Makel findet, gleichwohl nicht verblendet gegenübersteht. Die Veränderungen auf dem Weg zum Austerlitz sind frappierend. Austerlitz ist nicht der Wegbegleiter des Selysses, die Wege der beiden kreuzen sich nur immer wieder auf das Überraschendste, sie sind gründlich aus der Monotonie ihrer Flugzeugzelle befreit. Belehrung findet auch im Austerlitzbuch statt, Selysses bezeichnet Austerlitz ausdrücklich als den ersten Lehrer überhaupt, dem er zuhören konnte seit seiner Volksschulzeit. Es ist mir bis heute gegenwärtig, mit welcher Leichtigkeit seine von ihm sogenannten Denkversuche mir eingingen (AUS 52). Tatsächlich aber ist Austerlitz nur selten belehrend, meistens erzählt er ohne jede didaktische Absicht von Stationen seines Lebens in Bala, Stower Grange und Andromeda Lodge in Wales, aus Prag und Theresienstadt in Böhmen und aus London und Paris.

Austerlitz hat die Flugfunktion aufgegeben, Gerald Fitzpatrick und James Mallord Ashman stehen ihm aber als jetzt separate Flugnachfolger zur Seite, Selysses gerät dadurch gleichsam in die dritte Erzählreihe. Douglas ist praktisch vergangenheitslos, Austerlitz ist erdrückt von seiner Vergangenheit. Das sehr einfache Erzählschema des zweiten Anflugs auf Korsika, bei dem es nicht bleiben konnte, ist zum Austerlitzbuch hin also gewaltig aufgearbeitet. Schließlich waren Takt und Rhythmus des Erzählvorgangs, die in den Schwindel.Gefühlen und den Ausgewanderten durch den vierfach neuen Einsatz, in den Ringen des Saturn durch die zehn in sich unterschiedlichen Kapitel zu erheblichen Maß vorgeprägt waren, im Austerlitzbuch mit komplizierteren Mitteln zu erreichen.

Douglas beschränkt seinen Vortrag während des Flugs im wesentlichen auf flugnahe Themen, er erwähnt die Luftpioniere Amelia Ehrhart, Lindbergh und Exupéry, den Adlersternennebel, und er geht auf die Vorzüge des Nachtflugs ein. Es ist klar, daß er ausschließlich mit Themen dieser Art sich als Begleiter und Lehrer des Selysses auf Dauer nicht bewähren konnte. Zugleich ist Douglas aber eine erzählerische Reaktion auf Gerald Ashman, den Piloten des ersten Anflugs auf Korsika, der beschwert von den gebündelten, im Austerlitzbuch dann auf Gerald Fitzpatrick und James Mallord Ashman verteilten Motiven keine Höhe gewinnen konnte.

Gerald Fitzpatrick erbt von Gerald Ashman die Anfänge der Flugleidenschaft in dem Interesse für Fluginsekten und Vögel und er erbt vor allem die Bewunderung für die Tauben: Die Tauben rangierten immer obenan, nicht nur aufgrund der Geschwindigkeit, mit der sie die längsten Strecken zurücklegen, sondern auch aufgrund der vor allen anderen Lebewesen sie auszeichnenden Kunst der Navigation. Bis heute wisse niemand, wie die in einer solchen Leere auf die Reise geschickten Tiere, denen gewiß in der Vorahnung der ungeheueren Entfernung, die sie überwinden müssen, beinah das Herz vor Angst zerspringt, den Ort ihrer Herkunft anpeilen (AUS 168f). Er erbt ferner das zum Paradies erhobene Andromeda Lodge Er erbt von Douglas den Adlernebel, der in Austerlitz mit einem grandiosen Einblick in das kosmische Geschehen zu einem Höhepunkt der Erdabgehobenheit ausgebaut wird.

James Mallord Ashman bekommt anstelle von Andromeda Lodge Iver Grove zugewiesen mitsamt dem Billardzimmer, in dem die Zeit stillsteht, und dem Glockenturm, in dem sie vernichtet wird, ein Motivhöhepunkt des Uhrenthemas: Eine stumme Wut sei in ihm aufgestiegen, und ehe er auch nur wußte, was er tat, habe er draußen auf dem hinteren Hof gestanden und mehrmals mit seiner Flinte auf das Uhrentürmchen der Remise geschossen, an dessen Zifferblatt man die Einschläge heute noch sehen könne (AUS 157ff).

Wiederholt schon ist in den bisherigen Betrachtungen eine Verwandtschaft des Flieger- zum Lehrerthema angeklungen. Die leidenschaftlichen Flieger Gerald Ashman, Gerald Fitzpatrick und Douglas X ähneln in ihrer Begeisterung den leidenschaftlichen Lehrern Paul Bereyter und André Hilary. Zugleich werden Gerald Ashman und Douglas unterrichtend und unterweisend tätig, Gerald Fitzpatrick macht als Schüler in Stower Grange die Bekanntschaft Dafydd Elias’ alias Austerlitz.

Douglas spricht während des Flugs in einigermaßen aufdringlicher, gänzlich sebalduntypischer Weise vom Abbruch der Prokreation: Die einzig wirkliche Freiheit, die wir, vom Selbstmord abgesehen, vor anderen Tieren haben, ist ja die, uns nicht fortzupflanzen, & es wundert mich ständig, wie wenig sie wahrgenommen wird. Die Regungen des Sympathicus sind anscheinend unkontrollierbar. Mir selbst sind Liebesgeschichten, bis auf wenige, beinahe metaphysische Ausnahmen, grundsätzlich absurd vorgekommen. Was mich betrifft, so lebe ich nur, um von der Erde abheben zu können (172 f). Die Elemente dieser Suada sind im Austerlitzbuch sämtlich in das Innere des Erzählvorgangs gedrückt und dort ohne Verlust aufbewahrt. So sind Austerlitz' Liebesgeschichten sowohl mit Adela Fitzpatrick als auch mit Marie de Verneuil wohl zu den genannten beinahe metaphysische Ausnahmen zu rechnen.

Wir gehen dem Motiv der Prokreation anhand des Lehrerthemas nach und wollen es hier nicht wiederholen. Ein spezielles Luftfahrtthema der Fortpflanzung kommt im Austerlitzbuch noch hinzu. An einer Stelle ist von den Mauerseglern die Rede (AUS 144), die, einmal aufgestiegen, nie wieder zur Erde zurückkehren. Das ist biologisch einigermaßen korrekt, wenn man von der Prokreation absieht. Kopulationen, immerhin, erfolgen auch in der Luft. Die evolutionäre Bedeutung solcher Begattungen „on the wing“ ist schwer zu erklären, da es nachgewiesenermaßen auch zu Kopulationen in der Bruthöhle kommt und sich die Frage stellt, welchen Grund es haben kann, dass sich die Vögel dabei einem solchen Risiko aussetzen. Fliegende Nester aber kennen auch Apus apus und die anderen Apodidae nicht. Die Brutdauer kann zwischen 18 und 27 Tagen liegen. Die Partner wechseln sich beim Brüten ab und brüten offenbar zu annähernd gleichen Teilen. - Im Austerlitzbuch wechselt der Mauersegler also aus dem Bereich der Biologie in den der Symbolik. Sie tun es den Fliegergestalten gleich und leben nur, um von der Erde abheben zu können.

Wird die Prokreation des Unbelebten zum Hohngesang auf die ausbleibende im Menschenleben? Gerald sprach von riesigen Regionen interstellaren Gases, die sich zu gewitterwolkenartigen, mehrere Lichtjahre in den Weltraum hinausragenden Gebilden zusammenballten und in denen, in einem unter dem Einfluß der Schwerkraft ständig sich intensivierenden Verdichtungsprozeß, neue Sterne entstünden, dort draußen gebe es wahre Kinderstuben von Sternen (AUS 171). Der metaphysische Auslaß führt, wie in der Tradition, nach oben und findet nur die Leere der Physik. Das metaphysische Verlangen wird zu einer Frage des Stils: Wenn er, mitsamt seiner Fracht, auf den Kreisen seiner Prosa höher und höher getragen wird wie ein Segler auf den warmen Strömungen der Luft, dann ergreift den Leser ein Gefühl der Levitation (RS 30).

Montag, 13. Oktober 2008

Lehrer

Kaum Schüler, keine Kinder

Hurt once and for all into silence.
A long pain ending without a song to prove it.
Über Sebalds Leben ist wenig bekannt in der Öffentlichkeit, er wurde im Allgäu geboren, war nach der Einschulung, wie die meisten von uns, längere Jahre Schüler auf den verschiedenen Stufen des Bildungswesens und dann lange Zeit Hochschullehrer in England, wo er auch, noch im Lehramt wenngleich wohl schon mit dem Gedanken, es aufzugeben, bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen ist. Eigentlich hatte er sich aber bereits auf spektakuläre Weise aus dem Lehrberuf verabschiedet, denn längst wissen wir ja, daß der Dichter, anders als früher angenommen, der Antipode des Lehrers ist. Aber muß man Dichter werden, um als Hochschullehrer kein Lehrer zu sein?

Der sebaldnahe Erzähler des Austerlitzbuches, Selysses, bekennt: Zu Beginn meines Studiums in Deutschland hatte ich von der seinerzeit dort amtierenden, größtenteils in den dreißiger und vierziger Jahren in ihrer akademischen Laufbahn vorangerückten und immer noch in ihren Machphantasien befangenen Geisteswissenschaftlern so gut wie gar nichts gelernt (AUS 51f). Dieser Student zumindest hatte keine Lehrer an den Hochschulen. Eingangs des Saturnbuches werden liebevoll zwei Hochschullehrerportraits gezeichnet. Michael Parkinson zeichnete sich aus durch eine Bedürfnislosigkeit, von der manche behaupteten, daß sie ans Exzentrische grenzte. In der Sommervakanz machte Michael regelmäßig lange, mit seinen Ramuzstudien in Verbindung stehende Reisen zu Fuß durch das Wallis und das Waadtland. Oft, wenn er von einer solchen Reise zurückkam oder wenn ich den Ernst bewunderte, mit dem er stets seine Arbeit verrichtete, schien es mir, als habe er, auf seine Weise das Glück gefunden in einer inzwischen kaum mehr denkbaren Form von Bescheidenheit (RS 15). Janine Rosalind Darkyns wird in ihrem Arbeitszimmer von Papier überwuchert. Vor Jahren bereits war Janine von den immerfort anwachsenden Papiermassen auf ihrem Schreibtisch gezwungen gewesen, an andere Tische auszuweichen. Diese Tische, auf denen sich in der Folge ähnliche Akkumulationen vollzogen hatten, repräsentierten sozusagen spätere Zeitalter in der Entwicklung des Papieruniversums Janines (RS 18). Janine Darkyns ist Romanistin und vor allem Flaubertforscherin: In einem Sandkorn im Saum eines Winterkleides der Emma Bovary hat Flaubert die ganze Sahara gesehen, und jedes Stäubchen wog für ihn soviel wie das Atlasgebirge (RS 17).

Zwei Hochschullehrer, wie es scheint, ohne Schüler, jedenfalls bleiben sie unsichtbar. Oder macht das den wahren Hochschullehrer aus, die einsame geistige Leidenschaft, die die Schüler aus der Distanz mitreißt? Wir wären nahe beim traditionellen deutschen Hochschulideal, das in diesen Tagen gerade in den Gully gegossen wird. Austerlitz hat eine Dozentur inne an einem Londoner kunsthistorischen Institut, die er dann für seine privaten Recherchen aufgibt. Für den Austerlitzerzähler wird er seit seiner Volksschulzeit der erste Lehrer überhaupt, dem er zuhören konnte. Es ist mir bis heute gegenwärtig, mit welcher Leichtigkeit seine von ihm sogenannten Denkversuche mir eingingen (AUS 52). Hier ist eine Lehrer-/Schülerkonstellation ganz ohne pädagogisches Gefälle dargestellt, während der ebenfalls angesprochenen Volksschulzeit muß es ein wenig anders gewesen sein.

Die Volksschulzeit ist in der Erzählung Paul Bereyter festgehalten. Er ist einfach zum Unterrichten von Kindern geboren gewesen – ein echter Melammed, der aus einem Nichts heraus die schönsten Schulstunden halten konnte (AW 83). Die Unterrichtsmethodik entspricht weitgehend dem, was auch die neuere Pädagogik empfiehlt: Offene Fenster, frische Luft, Anschauungsunterricht, Förderung der Schwachen, das letztere allerdings in unorthodoxer Form: Nach einem stillschweigenden Blickwechsel führte ich geschwind sein fragmentarisches Werk zu Ende, wie ich in den zwei Jahren, die wir von diesem Tag an noch nebeneinander saßen, einen Gutteil seiner Rechen-, Schreib- und Zeichenarbeiten erledigt habe. Der Paul hat an unserer Kooperation nichts auszusetzen gehabt (AW 47). In der Erzählung fließen diese Unterrichtselemente freilich unmittelbar aus der Empathie des Paul Bereyter: auch wir in der Schule hatten ausschließlich nur vom Paul gesprochen wie von einem vorbildlichen ähnlichen Bruder (AW 43), - während die offizielle Pädagogik die gleichen Elemente als technisierbar und persönlichkeitsunabhängig verstehen muß.

Im Austerlitzbuch finden wir Paul Bereyter wieder, zum Sekundarschullehrer avanciert und unter dem Namen André Hilary. Die walisische Erziehungsanstalt, in die Dafydd Elias geschickt wird, heißt Stower Grange, der Direktor, ein gewisser Penrith-Smith, der in seinem verstaubten Talar ohne Unterlaß, vom Morgen früh bis spät in die Nacht ziellos in den Schulgebäuden herumwanderte, war ein hoffnungslos zerstreuter, vollkommen geistesabwesender Mensch, und auch die übrige Lehrerschaft setzte sich zusammen aus den absonderlichsten Existenzen, die größtenteils über sechzig waren oder an irgendeinem Gebrechen litten. Das Schulleben hielt sich mehr oder weniger von selber in seinem Gang, eher trotz als dank der in Stower Grange wirkenden Pädagogen (AUS 88f). Dem jungen Dafydd Elias alias Austerlitz taugt dieser Stand der Dinge alles in allem nicht wenig, gleichwohl aber ist auch André Hilary ungemein wichtig für ihn. Hilary ist von einer ähnlichen pädagogischen Leidenschaft beseelt wie Bereyter, die sich freilich, dem Wechsel von Primar- zur Sekundarschule entsprechend, schon weniger auf die Zöglinge als auf den Unterrichtsstoff richtet und daher eher, fast schon wie bei den beiden Hochschullehrern, als wissenschaftliche Leidenschaft zu charakterisieren ist. Die Empathie für seine Schüler ist allerdings nicht geringer als die des Paul Bereyter. Im Fokus der wissenschaftlichen Leidenschaft Hilarys befindet sich die Gestalt Napoleons, das Glanzstück war dabei zweifellos die Schlacht von Austerlitz. Den meisten von uns haben sich die von Hilary gehaltenen Geschichtsstunden nicht zuletzt deshalb tief eingeprägt, weil er des öfteren, wahrscheinlich wegen eines Bandscheibenleidens, an dem er laborierte, auf dem Rücken am Fußboden liegend seinen Stoff vortrug, was wir in keiner Weise als komisch empfanden, denn Hilary sprach gerade dann mit besonderer Deutlichkeit und Autorität (AUS 106). Das Liegen am Boden symbolisiert offenbar unter anderem eine Umkehr der pädagogischen Situation, die gleichwohl unbeschadet fortbesteht.

Grundschule, Sekundarschule, Hochschule: Das allmähliche und möglichst schleunige Schwinden der Pädagogik als Grundvoraussetzung einer humanen Existenz, durchaus kein umstürzlerisches Konzept, sondern eher das, was alle dachten, bevor es dann ganz anders kam und letztendlich zum Transfer der einzig verbleibenden seriösen Strafandrohung aus dem Justiz- in das Bildungssystem im Begriff des Lebenslangen Lernens, ohne Schuld, ohne Proceß und ohne Vergebung, so wie Kafka es sich schon gedacht hatte.

Pädagogische Theorien sind aber nicht die Aufgabe der Dichter und nicht das Interesse ihrer Leser, wir müssen die Angelegenheit noch um einiges tiefer legen. Lehrer stehen zwischen den Generationen, den Eltern und den Kindern, und ein nicht geringer Teil ihrer Aufgabe besteht darin, den sich unweigerlich auftuenden Bruch zu mildern. Sebald selbst, dafür gibt es zahlreiche Hinweise im Werk, hat den Bruch besonders heftig erlebt, umso wichtiger wurden ihm Großvater und Lehrer. Austerlitz hat dreifache Eltern, die paradiesischen in Prag, die es gilt, aus der Erinnerung rückzugewinnen und dort zu bannen, die gutmeinenden, auf ihre Art aber höllischen Pflegeeltern in Bala, Wales, und die wiederum paradiesische Adela, Herrin von Andromeda, die freilich angesichts ihres geringen Altervorsprungs zwischen Mutter und Geliebter changiert.

Nicht zuletzt bedingt durch den gewaltigen Generationsbruch zwischen Kriegs- und Nachkrieggeneration ist die Prokreation in Sebalds Werk praktisch zum Erliegen gekommen. Das ist besonders auffällig beim Lehrpersonal, das von seiner Aufgabe her in besonderem Maße auf die jeweils nächste Generation angewiesen ist, damit aber auch besonders tief in den Verhängniszusammenhang gerät, und bei Sebald an seiner Aufgabe verzagen muß. Michael Parkinson und Janine Rosalind Darkyns sind als Erzählfiguren, wie immer es um ihre realen Vorbilder bestellt gewesen sein mag, kinderlos. Bereyters Leben schien auf die Verbindung mit Helen Hollaender aus Wien und eine traditionelle Familiengründung zuzulaufen, das Dritte Reich ließ es dann aber nicht zu. Bei Austerlitz hätte sich allenfalls die „Adoption“ Geralds noch enger gestalten lassen können. Beide, Austerlitz und Bereyter, sind im weiteren Verlauf mit einer „vornehmen Französin“ in der Tradition des Minnesangs liiert, Damen, die zugleich aber über die unerläßliche Erdenschwere verfügen. Die eine heißt Marie de Verneuil und kommt aus dem französischen Kernland, die andere ist Mme. Landau aus der Welschschweiz. Das Thema der Lady in Distress ist auf den Kopf gestellt, die Ritter sind in Not und die Damen können lindern aber nicht wirklich helfen. Im Austerlitzbuch kommt es in Marienbad zu einer Nacht in Liebe, unklar bleibt, ob es eine Liebesnacht im üblichen Sinne wurde. In Marienbad ist selbst Goethe, wenn auch wider sein Erwarten und Hoffen, unfruchtbar geblieben, nach Sebalds Einschätzung im übrigen auch als Literat: Die berühmte drei & zwanzigstrophige Elegie, mir aber wollte es nicht recht gefallen, dies herrliche Geflecht verschlungener Minnen (LW 81). Nur wenig entfernt, in der nordböhmischen Stadt Dux, im Schloß des Grafen Waldstein wird ein anderer Roué und wahrer Priap der beginnenden Moderne in traurig sterilem Zustand aufgefunden: Die Puderperücke hatte er beiseite gelegt, und sein eigenes, schütteres Haar schwebte als Zeichen gewissermaßen der Auflösung seiner Körperlichkeit, wie ein kleines weißes Wölkchen über seinem Haupt. Die linke Schulter ein wenig hochgezogen schrieb er ununterbrochen fort. Man hörte nichts als das Kratzen der Feder, das nur aussetzte, wenn der Schreiber ein paar Sekunden lang aufschaute und die wäßrigen, für die Ferne schon halb blinden Augen nach der Helligkeit richtete (AUS 292). Die Helligkeit schlägt unvermittelt um in das Dunkel der Vernichtung: Nur an der nachtfahlen Seite des Firmaments zeigten sich ein paar Sterne, rußig blakende Lichter. Südwärts, in einem weiten Halbrund, erhoben sich die Kegel der erloschenen böhmischen Vulkane, von denen ich in diesem böhmischen Traum wünschte, daß sie ausbrechen und alles ringsum überziehen möchten mit schwarzem Staub (AUS 293f).

Ajaccio und Moskau

Eine haltlose Spekulation

Die Marbacher Ausstellung Wandernde Schatten ist eine große Freude für den Sebaldverfallenen, mehr vielleicht noch als die Ausstellung selbst aber der in allen seinen Einzelheiten tadellose Katalog, enthält er doch, neben vielem anderen, so umfangreiche Entwürfe des aufgegeben Korsikabuches, daß es möglich wird, seine Umrisse zu erahnen. Die an verschiedenen Stellen deutlich nur vorläufigen Entwürfe erfordern auch eine gewisse Korrektur der Vorstellung, man würde sich in Sebalds Prosa immer gleich wohl fühlen, ganz gleich wie und worüber sie geht. Mancher, der unvorbereitet die Lektüre des Austerlitzbuches aufgenommen hatte, konnte zunächst mutmaßen, es sei ein Buch ausschließlich über Bahnhöfe und wäre es zufrieden gewesen. Einige der nicht fertiggestellte Prosatexte geben jetzt aber eine Vorstellung davon, welche Mühe es war, die fertigen an die Oberfläche zu heben.

Michael Niehaus weist in seinem sehr schönen und allseits erhellenden, ebenfalls im Marbacher Katalog enthaltenen Aufsatz darauf hin, daß Sebald, der der Romanform aus dem Weg ging, seine Prosastücke gleichwohl überzeugend figurieren mußte mit Personen, die eine hinreichende Distanz zur Erzählstimme ausweisen. In der Tat sind die Erzählpassagen, in denen die Stimme des Selysses allzu sehr mit der eines Gleichgesinnten in eins fließt, oft die weniger befriedigenden. Das betrifft etwa den siebten Teil der Ringe des Saturn mit dem Besuch bei Michael Hamburger. Die größte Distanz und oft auch ein besonderes Erzählglück ergeben sich sozusagen von selbst bei historischen Personen, zumal wenn es sich um solche handelt, die in China wohnen und dort herrschen.

In den Aufzeichnungen aus Korsika, Zweite Fassung wird Gerald Ashmann als ausdauernder Flugbegleiter des Selysses in eine Position gebracht, die schon ein wenig auf die des Austerlitz vorbereitet, und es ist klar, dabei konnte es nicht bleiben. Mit seinem Hintergrund, der im wesentlichen aus seiner unbändigen Fluglust besteht, konnte er nicht der Vergil sein, der Dante-Selysses durch Hölle und Himmel führt. Einsperrt, wie die beiden sind, in die enge Flugzeugzelle fließen die gleichgerichteten Ansichten der beiden Flieger sozusagen rettungslos zusammen. Niehaus erwähnt, daß in den in Campo Santo veröffentlichten Korsikatexten nur ephemere Gestalten wie die der Kassiererin in der Casa Bonaparte figuriert sind, freilich aber ist an der enormen, rhythmusgebenden, die Augen und Ohren immer wieder neu öffnenden Bedeutung ephemerer Gestalten in Sebalds Prosa festzuhalten. Irgendwie sind sie ja auch alle ephemer, die Reise- und Wanderbekanntschaften, nicht nur die Empfangsdamen, sondern auch Conrad, Swinburne und die Kaiserin inmitten ihrer Seidenraupen, so daß man von den kleinen und den großen Ephemeren sprechen müßte. Der Zutritt zu einem kleinen Flugzeug, das bereits auf Reisekurs ist, bleibt ihnen jedenfalls verwehrt, sie können nicht helfen. Im Austerlitzbuch finden wir Gerald wieder, angenehm reduziert, zersplittert und zugleich angereichert um eine konkrete Jugend, eine Familie u.a. - Einzelheiten des Übertrags vom fallengelassenen in das veröffentlichte Buch sind in dem gleichfalls im Katalog enthaltenen und gleichfalls sehr schönen Aufsatz Ulrich von Bülows ausgeführt.

Mit dem Austerlitzbuch kommt Sebald der selbstgezogenen Grenze, wonach sein Medium die Prosa und nicht der Roman ist, bis zur Verletzung nahe, und die gewiß müßige Frage, ob er nicht vielleicht doch besser beim Korsikabuch geblieben wäre, meldet sich auf lästige Weise. Der auf Seite 218 erscheinende Kapitelplan ist kaum vollständig, man kann schwer glauben, daß Sebald nicht die Gestalt Napoleon Bonapartes zur Raumgewinnung genutzt hätte, und daß er, dem in den Ringen des Saturn eine Spielzeugeisenbahn für die Fahrt nach China reichte, nicht bis Moskau gelangt wäre, um dort Tolstoi und andere Russen zu treffen. Tschechow war er ja bereits auf sehr schöne und traurige Art in Deutschland begegnet, mit einer allerletzten Sehnsucht nach Rußland im Herzen:


Wie der Morgen graut,
legt ihm der Arzt
Eis auf das Herz,
gibt ihm Morphium
und ein Glas Champagner.
Ans Heimreisen dachte er (LW 70)


Müssen sich vielleicht die Freunde der russischen Literatur, ohne daß sie es schon wissen oder jemals mit Sicherheit wissen würden, mehr noch als andere grämen über das liegengelassene Projekt?