Freitag, 15. September 2023

Kein neuer Tag

Tag und Nacht

 

Jeden Tag steht er in aller Frühe auf und wandert durch Wien, end- und ziellose Wege. Wo er am Morgen aufgestanden ist und wohin er am Abend zurückkehrt, erfährt man zunächst nicht. Schließlich liest man, daß er zu später Stunde im Hotel auf den Lift wartet und schließlich in seinem Zimmer verschwindet, über die restliche Nacht erfährt man weiterhin nichts. Schläft er irgendwann ein oder bleibt es eine schlaflose Nacht? Falls überhaupt, ist es sicher kein sogenannter guter Schlaf, immer wieder wacht er auf und kann den Morgen kaum abwarten, schon gar nicht die Öffnung des Hotelrestaurants, er verzichtet auf den Kaffee und rennt hinaus, aber wohin? Es ist ein weiterer Tag, aber kein neuer Tag, den man als solchen begrüßen könnte, vielmehr ein weiterer Tag ohne Konturen wie die Tage zuvor, aus bloßer Unrast ist er aufgebrochen, und nun weiß er nicht, was mit dem Tag anfangen oder gar mit den folgenden Tagen. In Wien ist für ihn kein Bleiben mehr, so viel ist klar.

Montag, 11. September 2023

Scharfe Rasur

Lebenszeit

Nach der Bahnfahrt und der Ankunft in Venedig unterzog er sich einer scharfen Rasur beim Bahnhofsbarbier und trat dann auf den Vorplatz der Ferrovia Santa Lucia hinaus. Man ist ein wenig überrascht, hätte man doch den gängigen Griff zum eigenen Rasiergerät erwartet, zumal zuvor und danach nie von einer scharfen Rasur die Rede war. Sollte mit der scharfen Rasur in Venedig ein neuer Beginn nach dem schlechten Verlauf der Tage in Wien eingeläutet werden? Vermutlich lag es einfach daran, daß er sein Reisegepäck nicht ausgepackt hatte und auch nicht auspacken wollte, eine gleichsam öffentliche Rasur mit dem Rasierapparat kam naturgemäß nicht in Betracht. Auch Pradera steigt aus dem Zug, nicht in Venedig, sondern in einer abgelegenen polnischen Gegend, und geht ebenfalls als erstes zum Frisör, nichts zwecks Haarschnitt, sondern auch er allein zwecks Rasur. Es ist ihm nur recht, daß der Salon leer und der Barbier für den Augenblick nicht anwesend ist. Er nimmt Platz in einem der Stühle, steckt eine Zigarette an und vertieft sich in Fortsetzung seiner Überlegungen zum Verlauf der Zeit. Vor wenigen Stunden noch, im Bahnhof Breslau, suchte er nach Möglichkeiten, die Zeit für einige wenige Minuten zurückzudrehen, um so das Lebens Cybulskis zu sichern, vergeblich, wie man weiß. Mit geringerem Anspruch aber gleichem Interesse verfolgt er jetzt die Möglichkeit eines immerwährenden Stillstands der Zeit bei fortwährendem Leben. Vor sich hat der das Bildnis eines Mannes von vielleicht dreißig Jahren, w trzydzesty rok życia, nel mezzo del cammin dell sua vita. Das Bildnis ist ein Spiegel, und der dreißigjährige Mann ist er selbst. Er kann sich nicht erinnern, daß er zuvor anders ausgesehen hätte als jetzt und weniger noch, daß er jemals anders aussehen würde als auf diesem Spiegelbild. Zur Hälfte seines Lebens hält er inne, er ist dreißig Jahre alt, und so wird es bleiben. Jetzt aber kommt der Frisör hinzu und mit ihm das banale Leben. Daß der Kunde nur die Rasur und nicht auch den Haarschnitt wünscht, überrascht ihn, auch in Polen habe der Rasierapprat die fachmännische Rasur so gut wie erledigt, die Rasur kostet fünf Zloty, die empfohlene hautfreundliche Rasiercreme ist kostenfrei. Zum Abschied rauchen beide noch eine Zigarette der Marke Sport. Das ewige Leben im Alter von dreißig Jahren hat sich nicht eingestellt, Praderas enger Freund Stachura hat sich 1979 im Alter von kaum mehr als vierzig Lebensjahren ohne weitere Erforschung von Zeit und Zukunft umgebracht. Pradera selbst ist womöglich schon unmittelbar nach der Siekierezada auf dem Weg zum Bahnhof in einem Schneetreiben umgekommen.