Mittwoch, 27. Januar 2016

An tOileánach

Inselbewohner

Salvatore Altamura rettet sich in die Prosa wie auf eine Insel. Den ganzen Tag über sitze er in einer Lärmflut, am Abend aber setze er über auf eine Insel, wenn er die ersten Sätze anfange zu lesen, komme es ihm jedesmal vor, als rudere er weit aufs Meer hinaus. Nur Prosa kann offenbar in seinem Fall diesen Effekt zu erzielen, also nicht Lyrik und wohl auch keine Theaterstücke. Im Grunde teilt er eine Erfahrung mit jedem wahren Leser, nicht aber mit bloßen Zeitvertreibern. Sobald er, der Leser, den Salon der Anna Pawlowna Scherer betritt, ist die eigene Wohnung verschwunden. Schon als Kind, wenn er mit weiteren vier Karl-May-Romanen die Leihbücherei verließ, war er auf einen vierwöchigen Aufenthalt in fremden Weltgegenden eingestellt. An eine Insel hätte er vielleicht weniger gedacht oder allenfalls, als Robinson Crusoe anstand, und auch dann nicht in der gleichen Weise wie Salvatore Altamura.

Karl May könnte Salvatore Altamura im Erwachsenenalter nicht helfen, Tolstoi im Prinzip schon. Aber es ist ein akutes Verlangen, er braucht nicht tausend Seiten, sondern den Gang einiger weniger Sätze, so wie der Herzkranke das Nitrospray augenblicklich braucht. Schon die Lektüre der wenigen in diesem Augenblick noch nicht geschriebenen Sätze aus den Schwindel.Gefühlen, die sein Prosaverlangen schildern, würden ihn retten. Würde er dann umfänglicher in dieser Prosa unbestimmter Art, in dieser Prosa schlechthin lesen, so träfe er auf lauter der Lärmflut entkommene Inselbewohner. Aurach auf seiner Atelierinsel mitten in Manchester, im Innenhof ein blühendes Mandelbäumchen. Der Richter Farrar auf seiner Roseninsel, der Landwirt Garrad auf seiner Tempelinsel, die Ashburys auf der Insel der unnützen Tätigkeiten, der Major Le Strange auf seiner verborgenen Insel, die nur die spärlichsten Einblicke zuläßt, Oilean na mBeo im Südosten Englands. Fraglos würde er sich als weiterer dauerhafter Inselbewohner einrichten.

Wir denken an Tomás Ó Criomhthain, den leibhaftigen Inselmann, den Oileánach. Als einer der letzten Bewohner von Blascaod Mór* hat er sich, nicht vor der Lärmflut fliehend, sondern aus der Stille der Verlassenheit in die Prosa begeben und sein Buch vom Inselmann geschrieben. Sebalds Erzähler konnte den 1937 Verstorbenen nicht mehr aufsuchen. Blascaod Mór ist jetzt unbewohnt, auf Ó Criomhthains Prosainsel aber kann jeder reisen.


* Großartig der Bildband, Portráid Pictiúr: Daithi de Mordha, Michael de Mordha, The Great Blasket - An Blascaod Mór, 2013

Montag, 25. Januar 2016

Schattenfiguren

Emissär

Nimmt man das Alter als Richtschnur, so besteht Sebalds Personal überwiegend aus potentiellen Eltern und Großeltern ohne Kinder und Enkel. Es könnte scheinen, als hätten sich die verlorenen Kinder in Manchester versammelt. Wenn die Nacht sich herabsenkte, begannen an verschiedenen Stellen Feuerchen zu flackern, um die als unstete Schattenfiguren Kinder herumstanden und -sprangen. Überhaupt begegnete man auf dem kahlen Gelände immer wieder nur Kindern, die in kleinen Gruppen, scharenweise oder auch für sich allein dort herumzogen, als hätten sie nirgendwo sonst eine Wohnung. Der weiße Nebel hatte bereits begonnen, aus dem Boden zu steigen, als ich in der Ödnis von Angel Fields auf einen kleinen Knaben gestoßen bin, der in einem Wägelchen eine aus ausgestopften alten Sachen gemachte Gestalt bei sich hatte und der mich, also wohl den einzigen Menschen, der damals in dieser Umgegend unterwegs gewesen ist, um einen Penny bat für seinen stummen Gesellen.

Kann Selysses überhaupt sicher erkennen, was er da sieht? Die mutmaßlichen Kinder haben unverkennbar Ähnlichkeit mit den immer kleinwüchsigen Toten, die herumziehen in Banden und kleinen Gruppen. Auf den ersten Blick sehen sie aus wie normale Leute, aber sowie man genauer hinschaut, verwischen sich ihre Gesichter oder flackern, gerade wie die Gesichter der Schauspieler in einem alten Film. In bunten Uniformröcken oder in graue Umhänge gehüllt hat man sie gesehen, wie sie zwischen den Feldmauern, die sie nur knapp überragten, mit leisem Rühren der Trommel hinaufmarschierten in die Hügel über dem Ort.

Der Dichter weiß, was er sieht, die herumstreifenden Toten kennt er ohnehin nicht aus eigener Erfahrung, sondern nur aus den Erzählungen von Fachleuten in Wales und auf Korsika. Nicht um die Alternative geht es, sondern um die schattenhafte Ähnlichkeit der Kinder und der Toten. Nicht nur der stumme Geselle ist stumm, alles geht offenbar lautlos vonstatten, wie es sich für Schatten gebührt. Kinder sind unsere Zukunft, der Werbespruch ist um jede optimistische Notation gebracht, ecce futurum, so wird es sein. Was will uns der Dichter sagen? - naturgemäß nichts. Man kann einen realen Erlebniskern vermuten, der dann Farbe und Gestalt der Prosaumgebung angenommen hat.

Vieleicht sind die um ein Feuer versammelten Kinder das Kernerlebnis, vielleicht ist es der Knabe mit dem Wägelchen und dem stummen Gesellen darin, vielleicht sind es beide. Die Schattenfiguren sind nur aus der Ferne zu betrachten, Annäherung scheint weder möglich noch erlaubt. Ist es voreilig und verwegen, in dem Knaben mit dem Wägelchen einen Emissär zu sehen? Womöglich will er mit der aus alten Sachen gemachten Gestalt etwas sagen, aber was? Gilt es, eine Bedeutung der ausgestopften Figur zu entschlüsseln? Man stellt sich nicht vor, daß zwischen dem Knaben und dem Erzähler Worte gewechselt werden, vielleicht hat der Knabe die Hand ausgestreckt, und die Annahme, er hätte um einen Penny gebeten, könnte ein Mißverständnis sein.

Dienstag, 12. Januar 2016

Astronomen

Himmelswirrwarr

Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir. - Nimmt man den berühmten Satz  für sich, verbreitet er eine vorauseilend biedermeierliche Atmosphäre, so als habe der vorkopernikanische Himmel wieder Einzug gehalten, die physikfreie Himmelskuppel, allein dem unmittelbaren Gestaltungswillen Gottes unterworfen, der zur Freude der Menschen die an Kristallschalen gehefteten Sterne um sie kreisen läßt. Wer nicht tiefer in Kants Gedankenwelt eingedrungen ist, und das sind, gemessen an der Erdbevölkerung, so gut wie alle, wird so oder so ähnlich denken. Das weitere Argument bestätigt dann aber den Aufenthalt in der Neuzeit, die freilich noch neu war: Beide verknüpfe ich mit dem Bewußtsein meiner Existenz. Das erste fängt von dem Platze an, den ich in der äußeren Sinnenwelt einnehme, und erweitert die Verknüpfung, darin ich stehe, ins unabsehlich Große. Der Anblick einer zahllosen Weltenmenge vernichtet gleichsam meine Wichtigkeit als eines tierischen Geschöpfs, das die Materie, daraus es ward, dem Planeten wieder zurückgeben muß, nachdem es eine kurze Zeit mit Lebenskraft versehen gewesen. Der zweite erhebt dagegen meinen Wert als einer Intelligenz unendlich durch meine Persönlichkeit, in welcher das moralische Gesetz mir ein von der Tierheit und selbst von der ganzen Sinnenwelt unabhängiges Leben offenbart.

Sebalds zwei Astronomen erweisen sich nicht als Kantianer im strengen Sinne. Malachi, der Venezianer, sieht alles aus der größten Entfernung, nicht nur die Sterne. Ob er bei dieser Sichtweise das moralische Gesetz in uns gemäß Kants Auslegung, als von der Tierheit und der ganzen Sinnenwelt unabhängig, entdecken kann, muß bezweifelt werden, ohnehin ist inzwischen auch dem extremen Nahblick die Entfernung zur Tierheit so gut wie abhanden gekommen, überall die gleichen Gene. Seinem Fernblick verschwimmen offenbar auch der neue und der alte Himmel zu einem. Von astrophysikalischen Forschungen erfahren wir nichts, stattdessen hat er sich wieder dem ursprünglichen Herrn des Sternengewölbes und seinen Helfern zugewandt. In letzter Zeit habe er viel nachgedacht über die Auferstehung und zumal über den Satz, demzufolge unsere Gebeine und Leiber von den Engeln dereinst übertragen werden in das Gesichtsfeld Ezechiels. Antworten habe er nicht gefunden, aber es genügten ihm eigentlich auch schon die Fragen. Anders Gerald Fitzpatrick, für den Himmel der Astrophysik findet er ähnlich begeisterte Worte wie die, mit denen Dante den Gotteshimmel ausgemalt hatte, dort, im Sternennebel, möchte er sein. Als Kind schon, in Andromeda Lodge, hatte ihn nichts so gefesselt wie die Flugkünste der Tauben, vom ausgezahlten Erbteil hatte er sich sogleich eine Cessna gekauft, um jeden freien Augenblick hoch über der Erde zu verbringen und der vorgeblich vom moralischen Gesetz geleiteten Menschheit zu entkommen. Mit dem Absturz im Hochgebirge ist er seinem Ziel so nahe gekommen wie auf Erden möglich. Wenn Gott das schwierige Stück der Auferstehung und der Wiedererweckung der Gebeine und des Leibes gelingt, müßte ihm der anschließende Transfer zum Andromedanebel, als der endgültigen Unterkunft, ein Leichtes sein.

In der Familie des schwäbischen Astronomen Kepler war der Vorname Sebald überdurchschnittlich verbreitet. Astronomische Begabung oder Neigung ist bei den Namensträgern nicht aufgetreten.

Mittwoch, 6. Januar 2016

Nußschale

Sebalds Blick


Mein Großvater pflegte zu sagen: Das Leben ist erstaunlich kurz. Jetzt in Erinnerung drängt es sich mir so zusammen, daß ich zum Beispiel kaum begreife, wie ein junger Mensch sich entschließen kann, ins nächste Dorf zu reiten, ohne zu fürchten, daß - von unglücklichen Zufällen ganz abgesehen - schon die Zeit des gewöhnlichen, glücklich ablaufenden Lebens für einen solchen Ritt bei weitem nicht hinreicht. - Man könnte meinen, alles was Kafka sonst noch geschrieben hat, sei in dieser gnomenhaften Erzählung enthalten und würde, wenn man nur will, zwanglos aus ihr auftauchen. Eine ähnliche Potenz schreibt Jakob Hessing* einem ebenso knappen frühen Gedicht Sebalds zu: Schwer zu verstehen / ist nämlich die Landschaft, / wenn der D-Zug von dahin / nach dorthin vorbeifährt, / während sie stumm / dein Verschwinden betrachtet. Der Dichter spreche hier dieselbe Sprache wie in der Prosa, frei schwebende, weit ausholende Wortfügungen, deren Inhalt und Rhythmus sich gegenseitig die Waage halten. Das Motiv des Verschwindens sei eine poetische Metapher für den Untergang der Menschheit, für ihre Selbstauflösung, die mit der industriellen Revolution und ihrem Symbol, der Eisenbahn, längst begonnen hat.

Man kann dem zustimmen und kann es ergänzen. Der Satz, aus dem das Gedicht besteht, ist karg und abweisend, der Leser ist nicht eingeladen, er findet einen Platz weder im Zug noch in der Landschaft. Halten wir den Einleitungssatz von Austerlitz dagegen, der sich auch mit dem Reisen beschäftigt: In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre bin ich, teilweise zu Studienzwecken, teilweise aus anderen, mir selber nicht recht erfindlichen Gründen von England aus wiederholt nach Belgien gefahren. - Dieser Satz hat einen dunklen und geheimnisvollen und zugleich leichten und übermütigen Klang, eine verborgene Heiterkeit. Was verbreitet als Sebalds Sound bezeichnet wird, ist über den Wohlklang hinaus das stilistische Auspendeln eines nuancierten Weltgefühls. Der Leser ist schon überredet, ist selbst schon unterwegs nach Belgien. Er verspürt ein Versprechen von Reichtum, einmal in der Modulation des Satzes selbst, vor allem aber als Versprechen des unendlichen Reichtums einer unendlichen Reihe von Sätzen, die geeignet sind, die Welt und jede Einzelheit in ihr neu zu fassen. Im Fazit möchten man mit Leibniz von der wohnlichsten aller bewohnbaren Prosawelten sprechen. Salvatore Altamura, der sich in die Prosa rettet wie auf eine Insel, könnte es nirgends besser antreffen.

Das kleine Gedicht läßt keinen zweiten Satz zu, die Prosa verlangt immer nach dem nächsten. Das kleine Gedicht ist die Seidenraupe, die geerntet wurde, bevor sie als Seidenvogel auffliegen konnte, die Prosa ist die volle Pracht, die Spanischen Fahnen und Schwarzen Ordensbänder, die Messing- und Ypsiloneulen, die Jungfernkinder und Alten Damen, die wir in Andromeda Lodge treffen. Naturgemäß dürfen wir nicht die toten Falter vergessen, die Austerlitz in kleinen Bakelitdosen verwahrt.

Dienstag, 5. Januar 2016

Freigefegt

Sebalds Blick

Beckett und Proust verwahren wir in unterschiedlichen Schubladen unserer Vorstellung, imgrunde sind wir verwundert, daß der eine über den anderen geschrieben hat. Beckett schickt seinem Aufsatz eine resolute Klarstellung voraus. Sein Buch handle weder von dem legendären Leben und Sterben Marcel Prousts noch von dem geschwätzigen alten Weib der Briefe noch von dem Verfasser der Essays. Es wäre jedem Prosawerk von Format zu wünschen, es fände jemanden, der es so entschlossen freifegt. Wenn Sergio Chejfec davon spricht, daß wir Sebald mit Bewunderung und in reiner ästhetischer Freude lesen, hat er eine vergleichbare Bereinigung vollzogen, denn die Arbeiten über Sternheim und Döblin und andere Arbeiten dieser Art wird er bei seinem Urteil nicht im Sinn gehabt haben. In den Arbeiten über Sternheim und Döblin ist Sebald selbst eindeutig nicht den Weg von Beckett und Chejfec gegangen. Im werkimmanenten Verstehen sieht er einen Trick der Nachkriegsgermanistik, der Wahrheit nicht ins Auge zu blicken, und fordert, die damals dominante sogenannte kritische Theorie vor Augen, eine soziologische Herangehensweise. Ohne sich von der aggressiven Weise des jungen Sebald anstecken zu lassen, zeigt Jakob Hessing*, daß der kritiko-soziologische Zugriff in der Hand Sebalds letztlich nicht erfolgreich war.

Man könnte meinen, Sebald habe als Prosadichter ein ähnliches Schicksal, wie er es Sternheim und Döblin mit dem soziologischen Zugriff bereitet hatte, zu vermeiden versucht, indem er die Erde vorsorglich entvölkerte. Die Großstadt Manchester ist so gut wie menschenleer, die Bewohner Prags, sämtlich chronische Raucher, sind nicht mehr weit von ihrem Ende entfernt, in Terezín ist lediglich ein Geistesgestörter in einem zerrissenen Anzug noch unterwegs, bevor auch er urplötzlich vom Erdboden verschluckt wird, und auch Brüssel, die europäische Hauptstadt, ist vornehmlich nurmehr von einigen Buckligen und Irren bewohnt. Zwar besteht die Gesellschaft, folgt man Luhmann, nicht aus Menschen, der Mensch ist der Gesellschaft äußerlich, andererseits aber gibt es keine Gesellschaft ohne das humane Substrat. Bei Sebald treffen wir nur auf vereinzelte Exemplare des Homo Sapiens, Malachi in Venedig, Salvatore Altamura in Verona, Aurach in Manchester, Selwyn, Garrad, Hamburger, Le Strange in Südostengland und einige andere mehr über die Welt verstreut, eine Gesellschaft ergibt sich daraus nicht. Keine Gesellschaft, keine Soziologie sollte man meinen, die Vorsichtsmaßnahme hat allerdings Fridolin Schley nicht daran hindern können, den geballten soziologischen Zorn, nunmehr in der Machart Bourdieus, auf Sebald niederfahren zu lassen.

Hessing hält sich im wesentlichen in dem Bereich, den Beckett bei seinem Blick auf Proust umstandslos beiseite geschoben hat, und wirft von da aus vorsichtige Blicke auf das Prosawerk. Im Zentrum steht dabei das Thema des deutschsprachigen Judentums, das, beginnend mit Sternheim und Döblin, zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten und Essays dominiert und unübersehbar auch in die Prosa vordringt. Weniger auffällig ist es in den Schwindel.Gefühlen und den Ringen des Saturn, wenn man absieht von dem Italienreisenden Kafka, der, ganz und gar Jude, aufgrund seiner übergroßen Qualität das paulinische Universalismusgebot erfüllt, hier ist kein Jude noch Grieche &c. Sebald betont demgegenüber in einem seiner Aufsätze Kafkas Judentum, indem er durch eine raffinierte linguistische Operation den Landvermesser K. in den Messias verwandelt. Er stellt diese Wandlung als unzweifelhaft hin, nach Hessings Einschätzung ist sie nichts weniger als das. Vielleicht ist es unter anderem die Freude an kühnen Behauptungen, die Sebald von der Literaturbetrachtung zur Literatur gebracht hat. Hier kann er versteckt hinter einer vorgeblich schwach fiktionalisierten dokumentarischen Haltung ungeahndet auch übermütig-dreiste Fiktion betreiben, indem er etwa den Erzähler eine Passage aus Conrads Kongotagebuch wortwörtlich erinnern läßt und sie auch wortwörtlich mitteilt, obwohl keines dieser wortwörtlichen Wörter im Tagebuch auftaucht. Wer ist nicht der Zeitungsnachricht vom Tode des Majors Wyndham Le Strange auf den Leim gegangen. In den Ausgewanderten ist das jüdische Thema so dominant, daß wiederholt von den vier jüdischen Protagonisten zu lesen war, offenbar unter Einbeziehung des Großonkels Adelwarth und damit auch seines Großneffen, dem Erzähler, und letztlich also auch des Autors. Hessing stellt demgegenüber zum in dieser Weise judaisierten Sebald bündig fest: Das Judentum ist  ihm immer fremd geblieben. Es wäre demnach ein Fremdkörper im Werk. Man denkt an Tolstoi, dessen flach rationalistisch-christliches Moralisieren, wie man heute sagt: nervt. Man kann sich aber nicht sicher sein, was der Prosa widerfahren wäre, hätte man diesen Teil, diesen Impetus operativ entfernt.

Hessings Aufsatz schließt mit einem schönen Blick auf Mathild Seelos, Sebalds bevorzugte Heroine, seine weibliche Inkarnationsfigur, die als solche gleichsam ein Paar bildet mit dem Major George Wyndham Le Strange (GWS).

*Jakob Hessing . Verona Lenzen, Sebalds Blick, 2015

Freitag, 1. Januar 2016

Krümmung des Ringfingers

Schwermut

Als dominanten Bestimmungen für Sebalds Werk gelten Melancholie und ein defätistisches Geschichtsverständnis. Bei K.H. Bohrer liest man, die Grundatmosphäre der Melancholie, die Struktur einer alles handelnde Verhalten in Erinnerung zurücknehmenden Redeweise sei die Auflösung des geschichtsphilosophisch-utopischen Motivs, die Kündigung der Zusammenarbeit mit Geschichtsphilosophie und Utopie aber sei das allgemeine Signum der Kunst in der Moderne. Die Kunst ist aus Hegels großem Raumschiff des Zeit- und Geschichtsverlauf ausgestiegen, das Futur ist gestrichen. Die beiden Bestimmungen, Melancholie und zukunftsloses Geschichtsbild wären mithin nur die zwei Seiten eines einzigen Merkmals, und dieses Merkmal wäre in keiner Weise spezifisch. Daraus ergibt sich keine moderne Einheitskunst, auch Bohrer unterscheidet, wie jeder andere, in seinen Detailausführungen mühelos zwischen Samuel Beckett, Franz Kafka und Virginia Woolf, allesamt Melancholiker auf ihre je eigene Weise. Das besondere bei Sebald ist, daß Melancholie und Geschichte fortwährend an die thematische Oberfläche getragen werden. Die Entdeckung der beiden Motive ist keineswegs ein Kunststück, eher schon stellt sich die Frage, wie tief unter die Oberfläche es denn geht.

Janine Rosalynd Dakyns habe er, so Selysses, gelegentlich gesagt, sie gleiche, zwischen ihren Papieren, dem bewegungslos unter den Werkzeugen der Zerstörung verharrenden Engel der Dürerschen Melancholie. Zuvor hatte er mit liebevollem Spott die in ihrem Arbeitszimmer entstandene Papierlandschaft geschildert. Auch der Teppich war seit langem schon unter mehreren Lagen Papier verschwunden, ja das Papier hatte angefangen, vom Boden, auf den es fortwährend aus halber Höhe hinabsank, wieder die Wände emporzusteigen, die bis zum oberen Türrand bedeckt waren mit einzelnen teilweise dicht übereinandergehefteten Papierbögen und Dokumenten. Es ist eine lächelnde Melancholie, Schwermut erscheint als ein Feld der Leichtigkeit. Eine heitere Melancholie ist die äußerste Heiterkeit, die der Zustand der Welt zuläßt. Die heitere Schwermut erweist sich als Begegnungsstätte, als Bezirk der Freundschaft, gar der Liebe.

Die eigentlich resolute und lebensfrohe Luciana Michelotti machte an diesem Tag, ihrem 44. Geburtstag, einen schwermütigen, wo nicht gar untröstlichen Eindruck. Dieser leichte melancholische Anfall ist die unverzichtbare Voraussetzung für die sich anschließende in jeder Hinsicht zarte Romanze. Luciana, die hinter der Theke wirtschaftete, blickte immer wieder zu ihm hinüber. Sie brachte ihm auch in regelmäßigen Abständen einen Expreß und ein Glas Wasser. Einmal ist es ihm gewesen, als spüre er ihre Hand auf seiner Schulter. Es ist die Hand, die gerade noch einen Cappuccino oder eine Schokolade gemacht, ein Bier oder ein Glas Wein ausgeschenkt hatte, eine verwandelte Hand. Auf Stendhals Schreibtisch lagt, zum Andenken an Métilde, ein Gipsabdruck ihrer linken Hand, den sich zu verschaffen ihm kurz vor dem Debakel in Volterra noch gelungen war. Diese Hand bedeutete ihm nun beinahe ebensoviel, wie Métilde ihm je hätte bedeuten können. Insbesondere die leichte Krümmung des Ringfingers verursachte ihm Emotionen von einer Heftigkeit, wie er sie bisher noch nicht erfahren hatte. Ein ähnliches, Luciana betreffendes Memorial wird nicht erwähnt.
Wie ein Wolkenschatten zieht die vergehende Zeit über dem Land, aus der vergangenen Zeit wird Geschichte. So nennen wir das Vergangene, wenn wir glauben, es verstehen zu können. Hilary weiß von jedem Windhauch über dem Schlachtfeld Austerlitz, wenn man aber alles zusammenfaßt, wovon man nichts weiß, bleibe als Zusammenfassung aber nur der lachhafte Satz: Die Schlacht wogte hin und her. Die Wahrheit liege irgendwo anders, in einem von keinem Menschen noch entdeckten Abseits. Man kann die Zeit anhalten, aufrecht stellen und in den tiefen Grund der Vergangenheit rammen, es wird nicht besser. Es ist Gründonnerstag, der Tag der Fußwaschung und das Namensfest der Heiligen Agathon, Papylus und Hermengild. Auf den Tag genau vor dreihundertsiebenundneunzig Jahren wurde von Heinrich IV das Edikt von Nantes erlassen; wurde in Dublin, vor zweihundertdreiundfünfzig Jahren, das Messias Oratorium Händels aufgeführt; Warren Hastings vor zweihundertdreiundzwanzig Jahren zum Gouverneur von Bengalen ernannt; in Preußen, vor einhundertunddreizehn Jahren die antisemitische Liga gegründet; &c. bis in die nahe Vergangenheit. Eine milde, lächelnde Melancholie erlaubt die liebevolle, wenn nicht liebende Begegnung zweier Menschen, die für einen Augenblick Schutz finden vor dem Übermaß der Dinge und Geschehnisse, die keinen Sinn ergeben.