Dienstag, 9. Februar 2021

Anfänge

Welten


Im August 1992, als sie Hundstage ihrem Ende entgegen gingen, machte ich mich auf eine Fußreise durch die ostenglische Grafschaft Suffolk in der Hoffnung, der nach Abschluß einer größeren Arbeit in mir sich ausbreitenden Leere zu entkommen. (Sebald, Ringe des Saturn)

Arrivai a Torino sotto l’ultima neve di gennaio, comme succede ai saltimbanchi e ai venditore di torrone. (Pavese, Tra donne sole)

Call me Ishmael. (Melville, Moby Dick)

Nichts ist einfacher als ein Buch zu schreiben, so Pavese, man schreibt den ersten Satz  und muß dann nur noch die Folgerungen aus ihm ziehen. Kein  Autor aber wird wohl einen ersten Satz hinschreiben, ohne zumindest schemenhaft eine weiterreichende Vorstellung seiner Arbeit im Sinn zu haben, den Leser hingegen trifft der erste Satz ohne Vorbereitung. In den drei gewählten Beispielen hat er es jeweils mit einem Icherzähler oder auch einer Icherzählerin zu tun. Nicht einsehbar ist zunächst die Stellung des Icherzählers, agiert er als Protagonist oder als Komparse wie Anton Lawrentjewitsch G-w in Dostojewskis Dämonen, tritt er vielleich nur zeitweise auf? In zwei der drei Beispiele wird eine Jahreszeit genannt, eine tiefgreifende Verwandtschaft ergibt sich daraus aber nicht. Wenige Sätze weiter, noch auf der ersten Seite, heißt es in den Ringen des Saturn: Mich beschäftigte in der nachfolgenden Zeit das lähmende Grauen, das mich verschiedentlich überfallen hatte angesichts der selbst in dieser entlegenen Gegend bis weit in die Vergangenheit zurückgehenden Spuren der Zerstörung. Offenbar handelt das Buch vom Menschen in der Welt und weniger von der Welt des Menschen. Wie das expandierende All könnte das Buch sich endlos erweitern, schon jetzt, so wie das Buch vorliegt, erleben wir China und Afrika, die Fische und die Seidenraupen, warum nicht auch Australien, Südamerika, die Raubvögel und die Echsen. Tra donne sole handelt, wie sich schon bald zeigt, ausschließlich von der Welt der Menschen und folgt einem schmalen Pfad, der von Rosettas Selbstmordversuch zum gelungenen Suizid wenige Monate später führt. Der Pfad ist asphaltiert mit Nichtigkeiten, Zeitvertreib, Lebensvertreib möchte man sagen, der Autor verweigert jede Skizzierung einer irgendwie gelingenden Lebensform. Es gibt keinen parallel verlaufenden und besser ausgebauten Weg, so als gebe es über die Welt der Menschen neben Tod und Nichtigkeiten nichts zu sagen.

Call me Ishmael. Einer der kürzesten Eingangssätze überhaupt und für viele der konkurrenzlos schönste. Wenn auch mit einem Handlungsverlauf versehen, ist Moby Dick zweifellos ein Buch über den Menschen in der Welt. Bücher dieses Genres haben oft eine mehr oder weniger ausgeprägte misanthropische Grundhaltung. Die Menschheit schrumpft zusammen auf die Mannschaft der Pequod, und am Ende ist Ishmael gar der einzige Überlebende. Der siegreiche Wal taucht ab in die Tiefe, er wird die Harpune abschütteln und fortan unbehelligt eins sein mit der Welt.

Montag, 8. Februar 2021

Niall

Tot und lebendig

Ende September 1970 fährt der Erzähler mit Clara erfolgreich auf Wohnungssuche nach Hingham hinaus, Mitte Mai 1971 dann verlassen sie die Mietwohnung wieder, Clara hatte eines Nachmittags kurzerhand ein Haus gekauft. Das läßt auf eine tatkräftige junge Frau schließen, über die man in den folgenden Jahrzehnten, den achtziger und neunziger Jahren, gern noch einiges mehr erfahren hätte. Abgesehen von zwei, drei kurzen Bemerkungen aber ist von Clara nicht mehr die Rede, und doch ist es viel, vergleicht man Clara mit der Frau, deren Tod das Buch Die Asche des Tages, die ein wenig freie Übersetzung des originalen Titels Fuioll Fuine, einleitet und im weiteren Verlauf bestimmt. Von ihr erfährt man rein gar nichts, nicht ihren Namen, nicht von ihrem Leben und nicht von ihrem Tod. Ihr Ehemann wird als N. eingeführt, die Zahl der männlichen gälischen Namen, die mit N. beginnen, ist begrenzt, nennen wir ihn Niall. Das Tor zur Vergangenheit ist geschlossen, wir bekommen die Frau nicht zu Gesicht, weder lebendig noch tot, wir hören kein Wort von Trauer oder Schmerz, auch nicht von Erleichterung. Seine Schwägerinnen, die Schwestern seiner Frau, kennzeichnet Niall als fies, hatte er seine Frau ähnlich eingeordnet? Aber es gibt keinerlei Beleg, daß Niall zuverlässig urteilt und nicht vielmehr er die charakterliche Schwachstelle ist. Die Frau muß unter die Erde gebracht werden, darin ist man sich einig, zielstrebige Handlungen in dieser Richtung aber unterbleiben. Niall irrt durch Dublin, eine weitgehend merkmalslose Stadt, die dem Dublin Leopold Blooms kaum ähnelt, von seinem Ziel entfernt er sich immer weiter. Vielleicht heißt seine tote Frau Caitríona, vielleicht liegt sie schon ohne Nialls Zutun unter der Friedhofserde, cré na cille, und nimmt teil am Gespräch der Toten, das wir nicht verstehen oder auch nur hören können. Unter den Lebenden hatte nur Máirtín Ó Cadhain diese Gabe, der an dieser Stelle aber keinen Gebrauch davon macht.

Montag, 1. Februar 2021

Viscuvatu

Inselwelt


Gemessen an Grönland, mit mehr als zwei Millionen Quadratkilometern die größte Meeresinsel, ist Korsika mit weniger als neuntausend Quadratkilometern ein Zwerg, eine Riese aber im Vergleich zur Peterinsel im Bieler See, die weniger als zwei Quadratkilometer mißt, eine paradiesische Miniaturwelt mit den Worten des Dichters, in der der für kurze Zeit dort beherbergte Rousseau eine Regelung für die größere Insel, das Projet de constitution pour la Corse, entworfen hat. Das unbedachtes Einzäunen eines Gartengeländes und seine Erklärung als Eigentum habe gereicht, die ursprüngliche Gleichheit der Menschen nachhaltig zu stören, so Rousseau im Discours sur l’inégalité. Die Korsen aber seien fast noch im Naturzustand und gesund, heilbar jedenfalls, so urteilt er ohne viel Empirie. Von der Insel könne ein Neubeginn in Form einer Rückkehr zur wahren Menschlichkeit ausgehen. Dafür sei eine Isolation der Insel von der sündigen Außenwelt erforderlich, das Leben auf Korsika sei als umfassender nationaler Kibbuz zu organisieren. Il faut que tout le monde vive et que personne ne s’enrichisse, daher ist das Geld, als die Quelle allen Übels, wieder abzuschaffen. Rousseaus Leben fällt in die Zeit, als man sich daran machte, Gott zu entlasten und das weitere Geschick der Menschheit der Vernunft zu überantworten, was immer man darunter verstehen mochte. Gott ist nicht beiseite geschoben, bei seinem Namen schwören die Korsen unter Rousseaus Anleitung auf die Wege der Vernunft. Die soziologische und ökonomische Ahnungslosigkeit ist wahrhaft unbefleckt, erst gut zweihundert Jahre später ruft Luhmann: Nie wieder Vernunft! Mit den Worten des Dichters: Das Korsikaprojekt ist ein Traum, in welchem der immer mehr auf Warenproduktion, Handel und Akkumulation sich ausrichtende Gesellschaft die Rückkehr in unschuldigere Zeiten verheißen wird. Auch die moderneren Verfassungen, etwa das deutsche Grundgesetz, als Richtschnur menschlichen Verhaltens erreichen keineswegs die Stabilität des Dekalogs und müssen ständig neu justiert und ergänzt werden. Die Tendenz, alles Wünschenswertes ins Grundgesetz hineinzuschreiben, ist eine verkappte Rückkehr zur ohnehin hoffnungslos überlasteten Vernunft. Die unanwendbare Abkehr vom Kibbuz und die Hinwendung zum fortwährenden Fortschritt führen, wie Rousseau ahnte, an den Rand des Abgrunds. Alle Wege der Menschen führen gefährlich nah am Abgrund vorbei, auch wenn man immer wieder für längere Zeit glauben will, es sei nicht so.

Hat Rousseau selbst seinem Traum vertraut? Er war eingeladen, auf Korsika zu wohnen und zwar in Viscuvatu, einer kleinen, eng zusammengebauten Stadt, einer paradiesische Miniaturwelt, allerdings auf festem Boden, das Wasser kaum sichtbar. Ein Aufenthalt in Viscuvatu hätte dem von Verfolgung und Verfolgungswahn gleichermaßen Geplagten wohl gut getan, gleichwohl schlägt er die die Einladung aus, neben anderen Gründen wohl auch aus Zweifel an der Stichhaltigkeit seines Projekts. Die Constitution pour la Corse ist über vorbereitende Seiten nicht hinausgekommen. Stattdessen hatte Rousseau sich Experimenten zugewandt, die ihn überzeugten, daß der Mensch, wie im übrigen auch die Tiere, aus Glas hervorgegangen ist und nach dem Tode auch wieder zu Glas werden kann etwa in der Form schöner leuchtender, durchsichtiger Vasen. Auch dieser hoffnungsvolle, in seiner Bedeutsamkeit nicht zu unterschätzende naturwissenschaftliche Ansatz hat sich letzten Endes nicht bestätigt.