Sonntag, 28. November 2021

Glaubensfragen

Hilfe benötigt



Bereyter kann einerseits die, wie er sagt, katholische Salbaderei nicht vertragen, andererseits gilt er als gottgläubig. Der Dichter vertieft sich nicht in das Gerücht, geht ihm nicht nach. Vielleicht ist es tatsächtlich nichts als ein Gerücht. Jedenfalls bleibt die Ausprägung einer möglichen Gottgläubigkeit Bereyters im Dunkeln. Bei gottesdienstlichen Aktivitäten beobachten wir ihn nicht, daß er Katholik sei, ist wohl auszuschließen, auch wenn er gegen eine lateinische Messe als Kunstform, die Salbaderei nicht zuläßt, wohl keine Einwände hätte. Auch andere christliche oder sonstwie monotheistische Glaubensformen kommen eher nicht in Betracht. Möglich scheint eher eine gestaltlose, nicht artikulierte Religion. Die freien Stunden verbringt er vorzugsweise mit dem Schuhmacher Colo, der ein Philosoph und regelrechter Atheist gewesen ist.

Im Gegensatz zum weltarmen Tier ist der Mensch laut Heidegger weltbildend, alleingelassen mit dieser Aufgabe aber überfordert. G. Dux führt aus, daß die Geburt der Menschheit in eins fällt mit der Geburt der Religionen. Jedes Volk, jeder Stamm hatte alsbald seine Religion eigene mit einem dominanten kosmologischen Kern, der die Welt auf eine je eigene Weise erläutert. Wenn die Lakota-Autorin Delphine Red Shirt vom Leben ihrer Großmutter Keglezela Chaguwin (Turtle Lung Woman’s Granddaughter) erzählt, wird deutlich, daß die Schicht des Ominösen, Undurchsichtigen zu Lebzeiten der Ahnin noch deutlich massiver war als die des real Verständlichen. Das Mysteriöse aber ist unmittelbar das Heilige, wakan in der Sprache der Dakota, Lakota und Nakota. Nur eine Schar hilfreicher Geister und Götter kann bei dieser Lage der Dinge aushelfen. Selbst Heraklit, bereits griechisch-philosophisch geschult, läßt seine eingeladenen Gäste wissen, daß auch hier, bei ihm, in seinem Haus, Götter sind – man glaubt allerdings bei ihm einen Hauch von Ironie zu spüren.

Hans Erich Nossack erzählt vom Leben des fiktiven Lucius Eurinus, dessen Frau sich zur neuen christlichen Religion bekennt. Die sich auf einen einzigen Gott, wenn auch in der Gestalt der Dreieinigkeit, beschränkenden Christen sind in seinen Augen Atheisten. Wahre Religionen sehen hinter jedem Baum und Bach, im Krieg und im Frieden, in der Jugend und im Alter eine eigene für das jeweilige Ressort zuständige Gottheit. Als hoher römischer Beamter kann Lucius Eurinus sich den Verdacht des Atheismus nicht leisten, er wählt den Freitod. Die unterschiedlichen Standpunkte haben die Eheleute nicht diskutiert, die Frau kommt nicht zu Worte, in ihrem Schweigen mag die Wahrheit verborgen sein. 

Wo im endlosen Vorbeiziehen der durch Glaube verfestigten Religionen ließe sich die Bereyter unterstellte Gottgläubigkeit verorten?

Freitag, 26. November 2021

Unzulässige Fahrt

Zurück zum Anfang


Eine zu geringe Nutzung der Eisenbahn ist nicht zu beklagen, die Fahrt nach Wien wird kommentarlos übersprungen, bald schon geht es weiter nach Venedig, von dort aus nach Verona und zurück über den Brenner Richtung England. Einige Zeit später ist Venedig erneut das Reiseziel, von dort aus zum Gardasee mit dem für kleinere Strecken geeigneteren Bus, dann nach Mailand und wieder Verona, im Spätherbst schließlich nach Bruneck, von dort über Innsbruck ins Allgäu, die Stecke von Oberjoch dann nach W. zu Fuß, schließlich über Bonn wieder zurück im Zug gen England. Der Erzähler ist meistens allein unterwegs, nur auf der Strecke nach Milano und später nach Bonn hat er angenehme weibliche Mitreisende. Praderas Reiseroute ist übersichtlicher, er ist mit der Eisenbahn unterwegs zu seiner neuen Arbeitsstelle. Ähnlich wie der Erzähler bei der zweiten Venedigfahrt, sitzt er im Gang des überfüllten Waggons auf seiner Reisetasche, eine Zigarette geborgen in der Handfläche, um den vor ihm Stehenden keine Brandwunden zuzufügen. Junge Leute, die inmitten der inzwischen von der EU rauchbereinigten Menschheit aufgewachsen sind, können sich diese Situation kaum noch vorstellen, allenfalls erinnern sie sich an Raucher- und Nichtraucherabteile. Die Reisenden im Zug unterhalten sich nur über eines, den Unfalltod Zbigniew Cybulskis am frühen Morgen im Bahnhof Breslau, Pradera beteiligt sich nicht an den Gesprächen. Ist diese Fahrt weg von Breslau hin zur Arbeitsstelle überhaupt zulässig, müßte die Zeit nicht angehalten und zurückgestellt werden, sollte er, Pradera, nicht vom angefahrenen Zug aus dem verspätet aufspringenden Cybulski hilfreich die Hand reichen oder, besser noch, ihn schon auf dem Bahnsteig am Aufspringen hindern? Przeklęty bądz zegarze, w którym czas nie może być cofnione – verflucht seien die Uhren, die die Zeit nicht zurückstellen können. Vom Ankunftsbahnhof aus hätte Pradera noch eine längeren Fußmarsch vor sich, der Fahrer eines hoffnungslos überladenen Opel Blitz nimmt ihn aber für einen Gutteil der Strecke mit.

Dienstag, 23. November 2021

Nur schon älter

Unverändert schön


Sie habe, so Mme. Landau, in ihrem nicht unbeträchtlichen Leben eine ziemliche Anzahl von Männer des näheren, wie sie mit einem spöttischen Gesichtsausdruck hervorhob, kennengelernt. Nicht nur wegen dieser Einlassung sehen wir Mme. Landau als Schönheit, oder, ausführlicher, mit den Worten des polnischen Dichters: Bardzo ladrą ma twarz, chociasz nie jest młoda, tylko starsza: Eine Frau mit einem sehr schönes Gesicht, obwohl sie nicht jung ist, nur schon älter. Der Satz klingt so, als würde das Altern die Schönheit nicht mindern, sondern eher steigern. In der Erzählung Płynięcie czasu (Vergehende Zeit), der dieser Satz entnommen ist, trifft ein junger, kaum zwanzig Jahre alten Mann, der ordnungswidrig in einem abgestellten Eisenbahnwaggon übernachtet, auf eine nicht ganz so junge, schöne Reinigungsfrau, die ihn weckt und mit ihm ihr Frühstück teilt. Bereyter hingegen ist älter als Mme. Landau. Verschiedenen Zeitangaben zufolge war er knapp sechzig, als er Mme. Landau kennenlernt, sie um einiges jünger, gegen Ende vierzig. Zwölf Jahre hat Bereyter dann in Yverdon, also in Mme. Landaus Nähe gelebt. Als der Erzähler nach Bereyters Freitod des längeren mit ihr spricht, ist sie wohl in den frühen Sechzigern, unverändert schön, schöner noch als je zuvor.


Freitag, 5. November 2021

Band der Straße

Coś śię pali


Endlich, endlich, man wagte kaum noch zu hoffen, steigt der Fahrer ein, setzt sich in seinem Sitz zurecht, zündet den Motor, legt den Gang ein und fährt los. Ruhe kehrt ein unter den Fahrgästen, aber nicht für lange. Irgendetwas brennt, coś śię pali, es riecht nach Gummi, hörte man aus dem hinteren Wagenteil. Die Fahrgäste sind zunehmend beunruhigt, eine Panik bricht aber nicht aus, der Brandgeruch ist eher schwach. Immerhin geht jemand zum Fahrer, der im vordersten Teil des Busses bislang nichts mitbekommen hat. Ohne die Geschwindigkeit zu verringern dreht er den Kopf nach hinten. Wenn der Qualm zunimmt, würde er anhalten, sagt er. Die Mitteilung beruhigt die Fahrgäste im hinteren Wagenteil. Der Bus fährt und fährt. Mit verrenkten Leibern lehnen und hängen nun einige in ihren Sitzen. Dem einen ist der Kopf nach vorn gesunken, den anderen seitwärts oder in den Nacken gekippt. Mehrere röcheln leise. Nur der Fahrer blickte weiterhin gerade voraus auf das im inzwischen eingesetzten Regen glänzende Band der Straße.

Montag, 1. November 2021

Telephrenie

Holiker

Am Abend des zweiten Tages nach der Ankunft in Southwold brachte die BBC eine Dokumentation über den im Jahre 1916 in einem Londoner Gefängnis wegen Hochverrats hingerichteten Roger Casement. Obwohl ihn der Film sogleich in den Bann schlug, ist er in dem grünen Samtfauteuil, den er an den Fernseher gerückt hatte, bald schon in einen tiefen Schlaf gesunken. Einen Verfallenheit an das Fernsehen läßt sich bei ihm mithin nicht diagnostizieren. Über Roger Casement hat er sich dann auf andere Weise informiert. Die Fernsehsendung wäre eh nur eine Vorbereitung auf die Lektüre gewesen.

In Redlińskis Romangroteske Awans (Aufschwung) lehnt die Landbevölkerung die Einführung der Elektrizität zunächst strikt ab, die Bekanntmachung mit dem Fernsehen aber führt zu einer abrupten Wende bis hin zu Überlegungen, eine Święta Elektra als ranghöchste Heilige nach der Gottesmutter selbst einzuführen. Im Roman Telefrenia  greift Redliński das Thema erneut auf, die Fernsehsucht hat epidemisches Format eingenommen, zu den Anonymen Alkoholikern haben sich längst die Anonymen Teleholiker gesellt. Inzwischen machen die Kompuholiker den Teleholikern das Terrain streitig. Angesichts der Lage und des entfesselten Fortschritts führt Redliński vorsorglich den Wszystkoholik, den Rundumholiker ein.

Cioran urteilte, die Menschheit hätte nicht über das Niveau eines Hirtenvolks hinauswachsen dürfen, mit der Erfindung des Transistors sei ein menschengrechtes Leben vollends unmöglich geworden. Der Dichter bestätigt seinerseits den Untergang des menschlichen Lebens, wie wir es kennen. Aus dem Getöse der Technik entstehe jetzt das Leben, das nach uns kommt und das uns langsam zugrunde richten wird. Aber was kommt noch nach uns? Hat er nicht immer wieder darauf hingewiesen, daß alle Zivilisation auf Verbrennung beruht, brucia continuamente, wissen wir nicht inzwischen, was das bedeutet?