Sonntag, 29. August 2010

Sport und Spiel

Le blanc et le noir


Selysses hat dauerhaft Wohnung genommen in England, der Heimat des neuzeitlichen Sports, definiert as an organized, competitive, and skillful physical activity requiring commitment and fair play, in which a winner can be defined by objective means. It is governed by a set of rules or customs. In a sport the key factors are the physical capabilities and skills of the competitor when determining the outcome: winning or losing.

Tiefen Eindruck hat das auf Selysses offenbar nicht gemacht, die Spiele des Norwich City FC hat er, nach allem was bekannt ist, nicht besucht, geschweige denn, er wäre nach London gefahren zu den Spielen der Premier League. Man steht schon an der Schwelle der Behauptung, Ballspiele träten nicht auf im Werk - ein Nichts weit draußen vor der Küste des erzählten Etwas -, und denkt im letzten Augenblick, gerade noch rechtzeitig, an Dafydd Elias, den jungen Austerlitz, der sich bald schon auf dem Rugbyfeld auszuzeichnen begann, weil er, vielleicht wegen einem dumpf in ihm rumorenden, ihm damals noch gar nicht bewußten Schmerz, mit gesenkten Kopf die Reihen der Gegner durchquerte wie keiner seiner Mitschüler sonst. - Selten wohl ist die Genese eines Spitzensportlers auf ähnliche Weise begründet worden, und es handelt sich wahrscheinlich um nichts anderes als die zur Raserei gesteigerte Bewegungsweise des durch Senken des Kopfes seines Augenlichts beraubten Selysses unter Menschen, traumwandlerisch, ohne anzustoßen oder gar festzuhaken. So findet und bewahrt Dafydd in den immer unter einem kalten Winterhimmel oder im strömenden Regen sich abspielenden Schlachten seine Einsamkeit und steigert sie zu einem dunklen Paroxysmus. Im schlimmsten Getümmel bleibt er im Inneren seines Kopfes, ein Lord Byron des Spielfeldes.

Der vermeintliche Sinn des Spiels, der eigenen Mannschaft zum Sieg und der gegnerischen zur Niederlage zu verhelfen, scheint vergessen. Genugtuung findet Dafydd nicht in dem Getümmel, und eine Leidenschaft für das Spiel stellt sich schon gar nicht ein. Sein Gewinn - winning or losing, wenn es darum geht - besteht darin, daß er Achtung gewinnt unter den Mitschülern und damit unbehelligte Einsamkeit auch außerhalb des Spielfeldes.

Leidenschaft stellt sich ein für die der Bodenhaftung entzogenen, himmelwärts gerichteten sportlichen Aktivitäten. Das sind die der Flieger und Bergsteiger. Offenbar, anders lassen sich die Motivfügungen nur schwer verstehen, ist diese Leidenschaft eng verschwistert mit einer Todessehnsucht, oder ist es so, daß unser aller Gegner außerhalb des Spielfeldes verharrt und nicht zu besiegen ist?

Das Gefühl der Befreiung, das ihn ergriffen habe, als er in einer Maschine des Fliegerkorps zum ersten Mal die Tragfähigkeit der Luft unter sich spürte, berichtet Gerald Fitzpatrick, sei unbeschreiblich gewesen. Die Sonne war eine Zeitlang schon untergegangen gewesen, aber sobald wir die Höhen gewannen, umgab uns wieder eine gleißende Helligkeit, die erst abnahm, als die Schatten aus der Tiefe des Meeres emporwuchsen und sich nach und nach über uns neigten, bis der letzte Glanz an den Rändern der westlichen Welt erlosch. Nie werde ich den vor uns wie aus dem Nichts heraufkommenden Mündungsbogen der Themse vergessen, ein Drachenschweif, schwarz wie Wagenschmiere, der sich ringelte durch die einbrechende Nacht. Daß er von einem dieser Flüge nicht mehr heimkehrte, war ihm wohl vorbestimmt.

Er sei die meiste Zeit im Oberland gewesen und dort mehr und mehr der Bergsteigerei verfallen, erzählt Henry Selwyn. Insbesondere habe er sich wochenweise in Meiringen und Oberaar aufgehalten, wo er einen damals fünfundfünfzigjährigen Bergführer namens Johannes Naegeli kennengelernt habe, dem er von Anfang an sehr zugetan gewesen sei. Überall sei er mit Naegeli gewesen, auf dem Zinggenstock, dem Scheuchzerhorn und dem Rosenhorn, dem Lauteraarhorn, dem Schreckhorn und dem Ewigschneehorn, und er habe sich nie in seinem Leben, weder zuvor noch später, derart wohl gefühlt wie damals in der Gesellschaft dieses Mannes. Naegeli ist kurz nach der Mobilmachung auf em Weg von der Oberaarhütte nach Oberaar verunglückt und seither verschollen. Es wird angenommen, daß er in eine Spalte des Aaregletschers gestürzt ist. - Soweit die Freiluftsportarten.

Sein Vorfahr habe in diesem von ihm eingerichteten Raum gegen sich selbst eine Partie nach der anderen gespielt, bis der Morgen graute. Seit seinem Tode am Sylvesterabend 1813 auf 1814 sei hier von niemandem mehr ein Queue in die Hand genommen worden, weder vom Großvater, noch vom Vater, noch von ihm selber, von den Frauen natürlich ganz zu schweigen. - Die skillful activity des Billardspiels hat der Dichter offenbar vor allem in der einsamen Variante des Spiels gegen sich selbst vor Augen. Wir kennen Photos von ihm als jungem Mann bei der Ausübung dieser Sportart.

Dem Billard einigermaßen verwandt, schon wegen des Merkmals der rollenden Kugel, scheint das Roulette, allerdings fehlt ihm für die Einordnung in die Rubrik Sport und sportnahe Spiele das definitorisch unverzichtbare Merkmal der skillful activity; Cosmo Solomon allerdings will das widerlegen, indem er in einer Art Selbstversenkung versucht, die inmitten einer sonst undurchdringlichen Nebelhaftigkeit jeweils nur für den Bruchteil eines Augenblicks auftauchende Ziffer zu erkennen, um sie dann ohne das geringste Zögern, gewissermaßen im Traum noch, entweder en plein oder à cheval zu setzen. - Nicht zuletzt auf die Anstrengungen der Verwandlung des Glücks- in ein Geschicklichkeitsspiel ist wohl sein bald dann eintretende Wahnsinn zurückzuführen.

Das Billardspiel muß eine lebenslange Leidenschaft gewesen sein, sicher aber von anderer Art als die der Flieger und Bergsteiger. Ein Bild von Jan Peter Tripp zeigt den schon weißhaarigen Selysses mit dem Queue in der Hand beim Spiel in einem Billardcafé in Tongeren. Diese Bild hat den Dichter zu einem seiner schönen Sätze mit rätselhaftem Sinn veranlaßt: Und die Malerei, was überhaupt ist sie, wenn nicht eine Art Prosekturgeschäft angesichts des schwarzen Todes und der weißen Ewigkeit? Verschiedentlich kehrt er wieder, dieser extreme Kontrast, beispielsweise in dem schachbrettartigen Bodenmuster des belgischen Billardbildes aus Tongeren, das nicht von ungefähr den Gedanken nahelegt, daß der Maler in dem Rahmen, den er sich jeweils vorgibt, auf ein risikoreiches Spiel sich einläßt, in dem mit einer falschen Bewegung alles vertan ist.

Da ist vieles zusammengenommen, der schwarze Tod und die weiße Ewigkeit, Billard und Schach, Malerei und Prosektur, alles auf prekäre Weise gehalten von der skillful activity, der keine falsche Bewegung unterlaufen darf, nicht in der Luft nicht am Berg, nicht auf dem grün bespannten Spieltisch und nicht auf der Erde. Solange die richtigen Bewegungen gelingen, bleibt das risikoreiche Spiel in Gang, ein Ende haben aber muß jedes Spiel.

Le blanc et le noir:

Das schachbrettartigen Bodenmuster im Billardcafé;

die schwarze und die weiße Kugel;


die gleißende Helligkeit und schwarz wie Wagenschmiere die Themse;


der schwarze Fels und das weiße Schneefeld;


der dumpfe Schmerz und das helle Rugbywams.

Ist der Ritter Georg zu den Spielenden und Sporttreibenden zu rechnen? Gladiatorenkämpfe und Ritterspiele liegen dem gegenwärtigen Sportgeschehen voraus, und zumindest in der Auslegung Pisanellos teilt auch der heilige Georg das Tableau in einen Kontrast von hell und dunkel auf. Der Drache, ein geringeltes, geflügeltes Tier, ist besiegt, hat sein Leben bereits ausgehaucht. Alles Dunkle ist auf der linken Bildhälfte versammelt. Da steht, vor einem Saum dunkelgrüner Baumwipfel der Heilige Antonius. Er trägt ein tiefrotes Kapuzenkleid und einen weiten, erdbraunen Umhang. Alles Helle findet sich rechts, die glorreiche Erscheinung des Ritters in einer aus weißem Metall geschmiedeten, kunstreichen Rüstung, die allen Abendschein auf sich versammelt. Das ganz besondere aber an diesem Bild ist der außergewöhnlich schön gearbeitete, weitkrempige und mit einer großen Feder geschmückte hell leuchtende Strohhut, den der Ritter auf dem Kopf hat. San Giorgio nach dem Sieg con cappella di paglia. Alle Siege im Spiel aber sind sogleich vergessen, schon bald wird der Strohhut als unpassende, ja geradezu extravagante Kopfbedeckung erscheinen, der Helm, weniger hell und leuchtend, ist erneut aufzusetzen und zu befestigen mit dem Riemen unter dem Kinn.

Donnerstag, 26. August 2010

Jedes einzelne Blatt

Baum & Strauch

Si pudiéramos comprender una sola flor sabríamos quiénes somos y qué es el mundo.


Nicht allein die für die damalige Zeit ungeheuer hoch entwickelte Realismuskunst Pisanellos ist es, die mich anzieht, sondern die Art, wie es ihm gelingt, diese Kunst in einer mit der realistischen Malweise eigentlich unvereinbaren Fläche aufgehen zu lassen, in der allem, den Hauptdarstellern und den Komparsen, den Vögeln am Himmel, dem grün bewegten Wald und jedem einzelnen Blatt dieselbe, durch nichts geschmälerte Daseinsberechtigung zugesprochen wird. - Wenn wir hinter diesen Worten ein allgemeineres, nicht nur auf Pisanello beschränktes Programm sehen, so ist sogleich einzuräumen, daß die Umsetzung in Prosa und damit in die Sprache, der die Fähigkeit zur gleichzeitigen Darstellung des Vielfältigen fehlt, um einiges schwieriger ist als in der Malerei. Kafka versteht es, uns mitzureißen bei der Vorführung der Elf Söhne, einer nach dem anderen, des von ihm erdachten Vaters, aber auch er müßte wohl verzagen, wenn es darum ginge, elf Blätter an einem von Pisanello gezeichneten Zweig in fesselnder Weise erzählend vorzustellen, zumal, anders als bei den Söhnen, jede Dramatisierung der Unterschiede zwischen den einzelnen Blättern unangebracht wäre. Die Pflanzenwelt ist denn auch kaum gegenwärtig in Kafkas Werk.


Das ist bei Sebald erwartungsgemäß anders. Wenn man bei ihm schon die schiere Zahl der auftauchenden Tiere, der Motten, Heringe und Seidenwürmer, die der Menschen bei weitem übersteigt, so ist auch für ihre und der Menschen Einbettung in eine angemessene Flora gesorgt. Wir sehen den Dichter auf dem Abstieg von Oberjoch im Tirol in sein Heimatdorf W.: Nur zu meiner Linken schwebte ein wenig schütteres Licht. Astlose, gut siebzig- bis achtzigjährige Fichten standen die Abhänge hinauf. Selbst diejenigen, die zuunterst aus dem Tobelgrund hervorwuchsen, hatten erst weit überhalb des Niveaus, auf welchem der Weg fortlief, schwarzgrüne Wipfel. Als nach einer halben Wegstunde der Tobel zu Ende ging, blieb ich lang unter den letzten Bäumen stehen und schaute mir, aus dem Dunkel heraus, das wunderbare, weißgraue Schneien an, von dessen Lautlosigkeit die wenige fahle Farbe in den nassen, verlassenen Feldern vollends ausgelöscht wurde.

Noch grandioser als im heimatlichen Schattenwald ist das Baumleben auf der Mittelmeerinsel Korsika: Immense Waldungen steigen aus der blauen Düsternis des Solenzaratals über die steilsten Hänge und bis hinan zu den lotrechten Schroffen und Klippen, auf deren Vorsprüngen, Simsen und obersten Stufen kleinere Baumgruppen standen wie Federbusche auf einem Helm. Auf den ebeneren Flächen der Paßhöhe zu bedeckt ein dichtes Kleid der verschiedenen Kräuter und Sträucher den sanften Boden, und aus all den niedrigen Pflanzen heraus streben die grauen Stämme der Larizio-Pinien, deren grüne Schirme weit, sehr weit droben zu schweben scheinen in der vollkommen klaren Luft. - Aber das ist ein Bild aus der Vergangenheit, denn in der Tat, es war einmal eine Zeit, da war Korsika ganz von Wald überzogen. Stockwerk um Stockwerk wuchs er Jahrtausende hindurch im Wettstreit mit sich selber bis in eine Höhe von fünfzig Meter und mehr, und wer weiß, vielleicht hätten sich größere Arten herausgebildet, Bäume bis in den Himmel hinein, wären die ersten Siedler nicht aufgetreten und hätten sie nicht mit der für ihr Geschlecht bezeichnenden Angst vor dem Ort ihrer Herkunft, den Wald stets weiter zurückgedrängt.

In England erlebt Selysses nicht den Triumph, sondern nurmehr das Sterben der Bäume: Um 1975 hat die von der Südküste ausgehende Ulmenkrankheit Norfolk erreicht, und kaum waren zwei, drei Sommer vergangen, gab es in unserem Umkreis bald keine lebende Ulme mehr. Um dieselbe Zeit begann ich zu bemerken, daß die Kronen der Eschen sich mehr und mehr lichteten und daß das Eichenlaub schütterer wurde und seltsame Mutationsformen zeigte. Die Buchenbestände, die sich bislang einigermaßen gehalten hatten, wurden von einer Reihe extrem trockener Jahre stark in Mitleidenschaft gezogen. Schließlich, im Herbst 1987, fuhr ein Sturm über das Land hinweg, dem nach amtlicher Schätzung über vierzehn Millionen ausgewachsener Bäume zum Opfer gefallen sind. Ganze Waldstücke sind wie Kornfelder niedergedrückt worden. Es war im Morgengrauen, als der Sturm nachgelassen hatte, daß ich mich hinaustraute. Mit zugeschnürter Kehle stand ich lange da inmitten der Verheerung.

Das alles läßt weniger an Pisanello denken, denn an Grünewald diesen seltsamen Mann, dessen Weltsicht sich in den Farben ausbreitet wie eine Krankheit, an den Maler, dem die Schöpfung zum Bild unserer irren Anwesenheit auf der Oberfläche der Erde wird, wo sich hinter einer Gruppe der Klagenden eine so weit in die Tiefe hineingehende Landschaft erstreckt, daß unser Auge nicht ausreicht, sie zu ergründen, ein Stück brauner verbrannter Erde, deren Umriß wie der Kopf eines Walfisches oder Leviathans mit offenem Maul die fahlgrünen Wiesenplane, Senken und sumpfig schimmernde Breite des Wassers verschlingt. Darüber, verbannt hinter den Stufe um Stufe düstrer und dunkler werdenden Horizont, steigen die Hügel auf der Vorgeschichte der Passion, sieht man das Tor des Gartens Gethsemane derart verkleinert, daß aus der Flucht des Raumes spürbar wird die sich überstürzende Zeit.

Dem Maler Max Aurach in der gleichnamigen Erzählung ist, wie er bekennt, die Weltsicht dieses seltsamen Mannes Grünewald von Grund auf gemäß, aber er kennt naturgemäß auch anderes: In der Mitte seines Studios stand die Staffelei mit einem schwarzen, bis zur Unkenntlichkeit überarbeiteten Karton. Nach der an einer zweiten Staffelei angehefteten Vorlage zu schließen, hatte Courbets mir immer besonders liebes Bild Die Eiche des Vercingetorix Aurach zum Ausgangspunkt seiner Zerstörungsstudie gedient. - Zerstörung ist immer das innere Verfahren von Aurachs Schaffensprozeß, warum aber geht er aus von Courbets majestätisch ruhigem und menschenleeren Baumbild, warum wiederholen sich im Inneren der Kunst die Zerstörungen, mit denen wir in der Welt zu leben haben?

Als Folge der Baumvernichtung gerät Selysses in einen Sandsturm als den mineralischen Rückeroberungsangriff auf Fauna und Flora: In dem in der furchtbaren Orkannacht im Oktober 1987 größtenteils zu Bruchholz geschlagenen Wald von Rendelsham verdunkelte sich innerhalb weniger Minuten der gerade noch strahlend hell gewesene Himmel. Das restliche Tageslicht begann zu erlöschen, sämtliche Umrisse verschwanden in der graublauen, bald ohne Unterlaß von mächtigen Böen durchtobten, alles erstickenden Dämmerung. Sogar in nächster Nähe gab es bald nicht mehr die geringste Linie oder Gestalt. Das Staubmehl strömte von links gegen rechts, von rechts gegen links, von allen Seiten gegen alle Seiten, ein einziges Flirren und Flimmern.


Der ganze Südosten Englands scheint von alten, lange zurückliegenden Verheerungen bereits gezeichnet, höhere Pflanzenwuchs, wenn er auftritt, hat urweltlichen Charakter: Der Fußpfad führte um den Verhack herum, durch eine Ginsterböschung auf die Anhöhe einer Lehmklippe hinauf und dort in geringer Entfernung von dem stets von Einbrüchen bedrohten Rand des festen Landes zwischen Adlerfarnen hindurch, von denen die größten mir bis zur Schulter reichten.

Vollends eingekehrt ist eine öde und desolate Wildnis dort, wo der Wanderer auf die Hinterlassenschaft der unerschrockenen, zu blutiger Todesarbeit gewordene Forschungsdrang der neuen Wissenschaft trifft: Lange bin ich dann auf der Brücke gestanden, die hinüberführt in das Terrain des ehemaligen Secret Weapons Research Establishments. Weit hinter mir im Westen zeichneten sich kaum wahrnehmbar die leichten Anhöhen bewohnten Landes ab, nach Norden und Süden glänzte das von einem mageren Rinnsal durchzogene Schlammbett des toten Flußarms, und voraus war nichts als Zerstörung. Wie einem nachgeborenen Fremden, der ohne jedes Wissen herumgeht zwischen den Bergen von Metall- und Maschinenschrott, die wir hinterlassen haben, war es auch mir ein Rätsel, was für Wesen hier einst gelebt und gearbeitet hatte. - Schon Tschechow hatte im Onkel Wanja den Zustand des Waldes als Anzeige für den Zustand der menschlichen Zivilisation genommen, und auch in Sebalds Anwendung ergibt dieses Meßgerät, wie viele andere von ihm zum Einsatz gebrachte, keinen guten Wert.

Dem einzelnen Blatt, dem Pisanellos Aufmerksamkeit gilt, kommt Selysses an keiner Stelle näher, als beim heimlichen Belauschen der chinesischen Kaiserin: Mit besonderer Vorliebe saß sie, wenn es Nacht wurde, ganz für sich nur zwischen den Stellagen und lauschte hingebungsvoll auf das leise, gleichmäßige, ungemein beruhigende Vertilgungsgeräusch, das von den ungezählten, das frische Maulbeerlaub zernagenden Seidenwürmern kam. - Die durch nichts geschmälerte Daseinsberechtigung des einzelnen Blatts ist nicht der Natur als deren Gesetz oder Aussage abgeschaut, sondern entworfen als Aufgabe der Kunst, die sich als realistisch besonders bewährt, wenn sie den Augenblick des Verschwindens erfaßt. Schon der Maler Aurach hatte vermuten lassen, daß, wenn überall im Leben Tod und Vernichtung steckt, es in der Kunst nicht anders sein kann.


Mme Gherardi wurde von einem der Mineure ein zwar toter, dafür aber von Tausenden Kristallen überzogener Zweig zum Geschenk gemacht, an welchem die Strahlen der Sonne so vielfach glitzernd sich brachen wie sonst nur das Licht eines hell erleuchteten Ballsaals an den Diamanten der von den Kavalieren im Kreis herumgeführen Damen: Pisanellos Zweig ist erstorben, seine elf Blätter haben sich in Tausende Kristalle verwandelt und, ähnlich wie Stendhal dahinter einen verborgenen Sinn vermutet, mag man sich fragen, ob das der Weg der Kunst ist, undurchschaubar in ihren Verfahren, wie sich schon in Aurachs Arbeit an Courbets Eiche gezeigt hatte, ihren, der Blätter, durch nichts geschmälerten Daseinsanspruch um den Preis ihres Verschwindens zu behaupten.

Dienstag, 24. August 2010

Tote und Überlebende

Unter Menschen

Ay, zer consolatucotenau

Denkt man flüchtig an die Ringe des Saturn und an die eigenen Leseerinnerungen, so erscheint aus dem Inneren der Augen eine Welt voller Figuren, lebende und tote, zwischen denen sich ein einsamer Wanderer bewegt, traumwandlerisch, ohne anzustoßen oder gar festzuhaken. In dieser Welt voller Menschen - die dem Wanderer allerdings immer wieder als seltsam menschenleer erscheint und nurmehr bevölkert von den erbauten Artefakten der inzwischen Unsichtbaren – in dieser Welt verliert er seine Einsamkeit an keiner Stelle geschweige denn, daß er in ermüdende Beziehungsverhältnisse geraten werden, wie sie heute einen nicht geringen Teil der Literatur dominieren, so als würden die Verlorenen der Jetztzeit einander suchen mit giftigen Tentakeln. Liebesgeschichten vor allem anderen, sind ihm, bis auf wenige, beinahe metaphysische Ausnahmen, grundsätzlich absurd vorgekommen. Zugleich aber scheint die Begegnung mit Menschen und das Verstehen von Menschen sein hauptsächliches, wenn nicht einziges Anliegen. Leere und Freiheit der Bewegung sind Voraussetzung dafür, daß Selysses sich auf die sebaldtypische Recherche de l’homme perdu begeben kann. – Diese knappe Leseerinnerung ist nicht falsch, bedarf aber einer näheren Aufschlüsselung.

Die Menschen, denen Selysses begegnet, sind nicht gleichmäßig im Umfeld verteilt, sondern auf Ringen angeordnet ähnlich denen, die den Planeten Saturn umgeben. Vier derartige Ringe gewinnen, nicht ohne Zwischen- und Übergangsbereiche und verwirrende Überscheidungen, eine deutliche Struktur. Der innerste Ring, auf dem Verwandte und dauerhafte, ständig präsente Freunde sich bewegen sollten, ist seltsam leer. Die Eltern des Selysses treten nur einmal auf, zu Beginn der Erzählung Ritorno in Patria, und verschwinden gleich wieder in den Einrichtungsgegenständen ihrer Wohnstube. Selysses ist verheiratet, seine Frau treffen wir zweimal, einmal etwas ausführlicher, allerdings ohne sie näher zu Gesicht zu bekommen, noch in jungen Jahren in der Erzählung Dr. Henry Selwyn bei der Wohnungssuche und ein zweites Mal, wohl schon gereift, in den Ringen des Saturn: Von dort aus, der Bar in der Mermaid in Hedenam, konnte ich zu Hause anrufen, um mich abholen zu lassen. Als ich in der Mermaid auf Clara wartete ... – Claras Eintreffen erwarten wir vergebens, es liegt bereits außerhalb der Erzählung, und zu Gesicht bekommen wir sie nicht, obwohl es noch eine Reihe von Seiten sind bis zum Ende des Kapitels, die aber ausschließlich von dem Bericht dessen erfüllt sind, was Selysses durch den Kopf geht. Eine Tochter hat Selysses, soweit ersichtlich und anders als der ihm sonst in vielen andern Dingen sehr ähnliche Dichter W.G. Sebald, nicht. – Die schwache, kaum spürbare Besetzung des innersten Ringes ist offenbar Voraussetzung für seine Existenzweise, seine Bewegungsfreiheit, sein Wandern in der Welt und im eigenen Kopf. Der innere Ring ist der erste Ring der Einsamkeit des Selysses.


Der zu Beginn der Erzählung All'estero einsam und sprachlos durch den inneren Bezirk Wiens irrende Selysses kennt in dieser Stadt drei oder vier Personen, mit denen er hätte reden wollen. Sofern das ein Durchschnittswert für die europäischen Haupt- und Großstädte sein sollte, verfügt Selysses über ein beträchtliches Netz von Freunden und guten Bekannten, die wir als den zweiten ihn umgebenden Menschenring sehen. Woher er sie kennt, und wie tief die Freundschaft geht, erfährt man kaum jemals. Bei Michael Parkinson, der sich auszeichnet durch eine Bedürfnislosigkeit, von der manchen behaupteten, sie grenze ans Exzentrische, und auch bei Rosalind Dakyns, Herrin über eine wundersame Papiervermehrung und richtige Papierlandschaft mit Bergen und Tälern, die beide gleich zu Beginn der Ringe des Saturn auftreten und auch sterben, handelt es sich, das ließ sich nicht verbergen, um Kollegen im Beruf. Der Ursprung der Bekanntschaft mit Salvatore, um ein gegenteiliges Beispiel zu nennen, liegt dagegen vollkommen in Dunklen.

In Verona saß, als Selysses auf die Piazza herüberkam, Salvatore bereits vor der Bar mit der grünen Markise und las. Am Feierabend rette ich mich in die Prosa wie auf eine Insel – offenbar ein Punkt tiefsten Einverständnis zwischen ihm und dem reisenden Dichter, wie weit aber ihre Bekanntschaft geht und ob sie einander wiedersehen werden, erfahren wir nicht. Eine tiefere Bekanntschaft tut dem Erzählen vielleicht gar nicht einmal gut, der Besuch bei Michael Hamburger im Siebten Teil der Ringe des Saturn hat stellenweise ein leicht klebrigen Charakter.

Am äußeren Rand und fast schon auf dem dritten Ring, dem der flüchtigen Begegnungen, befinden sich Menschen, mit denen Selysses unversehens ins Gespräch kommt, so wie etwa in der Bar des Crown Hotels in Southwold mit einem Holländer namens Cornelis de Jong, der sich, nach wiederholten Aufenthalten in Suffolk, jetzt mit der Absicht trug, eine der riesigen, oft mehrere tausend Hektar umfassenden Liegenschaften zu erwerben, die hier nicht selten von den Immobilienagenturen ausgeschrieben werden.

Am entgegengesetzten Rand des zweiten Ringes, nahe noch dem ersten, sehen wir die Menschen, denen, vor allem in den Ausgewanderten, die Recherchen des Selysses gelten und die ihm nach Abschluß der Erkundungen näher stehen als kaum jemand sonst. Paul Bereyter und Ambros Adelwarth sind bei Aufnahme der Recherchen bereits tot, und den Onkel Adelwarth hat Selysses als Lebenden so gut wie gar nicht gekannt. Auf eine schwer abzubildende Art und Weise befinden sich diese Leute, die wir nahe dem inneren Ring sehen, zugleich auf dem vierten und äußersten, den wir den Toten vorbehalten.

Auf dem dritten Ring, dem der flüchtigen Begegnungen, finden wir die Empfangsdamen und Mitreisenden, denen eigene Kapitel gewidmet sind. Empfangsdamen und Wirtinnen warten auf Selysses am Ende seiner Reiseetappen, der Austausch von Blicken und Worten mit ihnen ist unvermeidlich und zugleich durch geltende Regeln des Verhaltens eng begrenzt. Mitreisende sind seltener und weniger zuverlässig zur Stelle als Empfangsdamen und Wirtinnen. Die erste große Reise des Selysses findet ohne Mitreisende statt, die ins Licht des Erzählten treten. Es befanden sich nur wenige Passagiere an Bord auf dem Nachtflug von Kloten nach Manchester, die, in ihre Mäntel gehüllt, weit voneinander entfernt in dem halbdunklen und, wie ich mich zu erinnern glaube, ziemlich kalten Gehäuse saßen. Sprechkontakt, unvermeidlich bei den Empfangsdamen und Wirtinnen, kann unter Mitreisenden unterbleiben, und in der nach England fliegenden Kabine kommt es nicht einmal zu Blickkontakt. – Jede dieser flüchtigen Personen ist wie eine einen Spalt nur geöffnete Tür zur Welt derjenigen, die keinen Zugang haben zur Erzählung, und bei einigen erfaßt uns ein Sehnen, als könne ein Engel warten hinter der Tür, als sei dieser Eingang zur Transzendenz, vor dem kein sichtbarer Türhüter steht, ein Eingang nur für dich bestimmt. Selysses selbst hat dieses Sehnen unzweifelhaft verspürt im Falle der in seinen den Rhein abwärts fahrenden Zug einsteigenden Winterkönigin, ist aber nur dumm und stumm dagestanden, bis sich dann die allein für ihn bestimmte Tür am Bonner Bahnhof unwiderruflich geschlossen hat.

Der vierte Ring, auf dem sich die Toten aufhalten, ist reichhaltiger besetzt als alle anderen. Wir treffen auf Tote aller Kategorien und Schattierungen, auf vom Dichter ins Leben zurückgerufene Tote wie Kafka und Stendhal oder Conrad und Swinburne, die dann lebendiger scheinen als die Lebenden. Wir stoßen, wie im Fall von Aris Kindt, auf tote Tote unter lebendenden Toten. Wir finden die mehr als Toten, Tote, die keine Erinnerungsspuren hinterlassen haben, auf den Beinfelder unter der Liverpool Street Station. Auf Korsika und in Wales ziehen Wandergruppen kleinwüchsiger Toter an uns vorbei, und wir werden verwirrt von Wiedergängern der Toten wie der schon erwähnten Winterkönigin Elizabeth, Tochter des englischen Königs James I, oder dem König Ludwig, die sich sozusagen auf dem Rücken schlichter Lebender befördern lassen.

Weil es ihm mit jedem vergehenden Jahr unmöglicher wird, sich unter ein Publikum zu mischen, trifft Selysses Menschen, seien sie nun tot oder lebend, immer nur als Einzelne oder allenfalls in kleinen Gruppen. Die Familie der Ashburys ist vielleicht schon der größte Verband, und seine Angehörigen gehen meistens jeder für sich seiner besonderen ziellosen Tätigkeit nach. Wie viele andere im Volk der Eremiten im Ruhestand wirken sie weniger wie Lebende und vielmehr wie Überlebende einer fortwährenden und nicht enden wollenden Katastrophe. Die Frage, ob die Überlebenden dem Tode näher stehen als die nur einfach Lebenden oder umgekehrt, läßt sich nicht beantworten. Diese Welt, in der die Toten oft voller Leben sind, während die Lebenden kaum nur überleben, erzwingt den besonderen, schwindelhaften Bewegungsmodus des Selysses unter den Menschen, traumwandelnd, schwere- und berührungslos. Der Bewegungsrahmen und die Bewegungsformen des Selysses sind aber in den verschiedenen Werken nicht gleich. Wie auch schon unter andern Gesichtspunkten herausgearbeitet, bilden die Schwindel.Gefühle und die Ringe des Saturn sowie die Ausgewanderten und Austerlitz je eine Gruppe.

Eingangs sowohl der Schwindel.Gefühle als auch der Ringe des Saturn treffen wir auf einen aus der Bahn geratenen Selysses, seine Reisen und Fahrten scheinen ziellos und erratisch, in den Schwindel.Gefühlen kommt es auch zu plötzlichen Ortwechseln und Fluchten. Nur stellenweise treten Reiseziele hervor, ein Bild, ein Fresko, das es zu betrachten, eine Verabredung, die es einzuhalten gilt. In den Schwindel.Gefühlen wird eine kriminalistische Spur entlang der Unglückszahl Dreizehn verfolgt, in den Ringen des Saturn eine Region im Südosten Englands durchmessen. Dem Leser, der sich dem Reise- und Wanderrhythmus des Selysses anpaßt, erschließen sich unendliche Deutungsmöglichkeiten.

In den Ausgewanderten hat Selysses die Ebene der Schwindelgefühle verlassen und die Hochebene der ruhigen Betrachtung erreicht, Unruhe und Verzweiflung sind in die Personen verlagert, denen seine zwar planvoll durchgeführten, aber immer wieder unterbrochenen und sich so über einen langen Zeitraum erstreckenden Recherchen gelten. Der Rhythmus der vier Langen Erzählungen ist nicht so sehr geprägt von der Unruhe des Selysses als von häufigen Wechseln der Perspektiven sowie von wiederholten Unterbrechungen und Neuaufnahmen des Erzählfadens.

In Austerlitz ist Selysses auch aus der Rolle dessen gedrängt, der ein anderes Leben erkundet. Seine Reisen, gleich zu Beginn nach Antwerpen, dann in die Schweiz und zurück nach England, werden nur beiläufig erwähnt und sind in der Regel nicht vom zentralen Geschehen des Buches gefordert. Der Suchende und suchend Reisende ist der Titelheld selbst, der den Selysses aufgreift und als seinen Beichtsohn erwählt. Auch Paul Bereyter hatte bereits eine ähnliche Selbsterforschung betrieben, hatte aber keine Gelegenheit, selbst die Ergebnisse dem Selysses vorzutragen. Die Treffen der beiden, Selysses und Austerlitz, zwischen denen oft lange Jahre liegen, sind teils geplant und teils von einer derart unwahrscheinlichen Zufälligkeit, daß die Grenze des Unmöglichen bereits überschritten scheint. Auch lange Perioden des Getrenntseins trennen nicht den von Austerlitz verfolgten Erzählfaden. In einer von Toten und Überlebenden zu gleichen Rechten bewohnten Welt gelten für die Bewegungen und das Einanderfinden der menschlichen Monaden keine uns bekannten Regeln.

Dienstag, 17. August 2010

Mitreisende

Dumm & stumm

Die Verwechslung unter den Mitreisenden fand immer statt
Empfangsdamen und Wirtinnen warten auf Selysses am Ende seiner Reiseetappen, der Austausch von Blicken und Worten mit ihnen ist unvermeidlich und zugleich durch geltende Regeln des Verhaltens eng begrenzt. Selbst mit Luciana Michelotti, Königin der Wirtinnen im Werk, die im Hotel Sole in Limone auf Selysses wartet, werden bei Licht besehen nicht so sehr viele Worte gewechselt. Nahe Erzählverwandte der Empfangsdamen sind die Mitreisenden, diejenigen, die nicht am Zielort warten, sondern mit denen man während der Anreise eine kürzere oder längere Zeit zusammen ist. Beim der Fahrt nach Kissingen in der Erzählung Max Aurach gehen die einen gleichsam wie an einem Faden aufgereiht nahtlos in die anderen über, und es ist schwer zu sagen, welche die Schlimmeren sind. Im Zug trifft Selysses zunächst auf einen schwer vor sich hin schnaufende Mitreisenden, der in einem fort seine unförmige Zunge, auf der sich noch Essensreste befanden, in seinem halboffenen Mund herumwälzte. Die Beine gespreizt saß er da, Bauch und Unterleib auf eine grauenerregende Weise eingezwängt in eine kurze Sommerhose. Ich hätte nicht zu sagen gewußt, ob die Körper- und Geistesdeformation meines Mitreisenden ihre Ursache hatte in einer langen psychiatrischen Internierung, in einer angeborenen Debilität oder allein im Biertrinken und Brotzeitmachen. Ihm folgt, auch noch im Zug, die alte Frau, die mit ihrem Federmesser, das sie stets aufgeklappt in der Hand behielt, Schnitz um Schnitz ihren Apfel zerteilte, die abgeschnittenen Stücke zerkiefelte und die Schale in ein Papiertuch spuckte, das sie auf dem Schoß liegen hatte. In Kissingen erwartet den Selysses dann eine Empfangsdame, die etwas von einer Oberin an sich hatte, und ihn maß mit ihren Blicken, als befürchte sie von ihm einen Hausfriedensbruch, und schließlich trifft er, als sozusagen vor ihm eingetroffene Mitreisende, auf das gespenstische alte Ehepaar das ihn mit einem Ausdruck unverhohlener Feindseligkeit, wo nicht gar des Entsetzens anstarrte.


Mitreisende sind seltener und weniger zuverlässig zur Stelle als Empfangsdamen und Wirtinnen. Von der ersten großen, der Auswanderungsreise Reise des Selysses wird eingangs der Auracherzählung berichtet. Sie findet ohne Mitreisende statt, die ins Licht des Erzählten treten. Es befanden sich nur wenige Passagiere an Bord auf dem Nachtflug von Kloten nach Manchester, die, in ihre Mäntel gehüllt, weit voneinander entfernt in dem halbdunklen und, wie ich mich zu erinnern glaube, ziemlich kalten Gehäuse saßen. Sprechkontakt, unvermeidlich bei den Empfangsdamen und Wirtinnen, kann unter Mitreisenden unterbleiben, und in der nach England fliegenden Kabine kommt es nicht einmal zu Blickkontakt - sicher hätte Selysses gewünscht, auch auf der Fahrt nach Kissingen sei ihm, angesichts der Qualität der Mitreisenden, menschlicher Anblick erspart geblieben.

Auch die Tirolerinnen, die ihn auf der Busfahrt von Innsbruck nach Unterjoch begleiten wachsen dem Selysses nicht recht ans Herz. Bisweilen hielt der Bus und ließ eines der alten Weiber einsteigen, die in gewissen Abständen unter ihren schwarzen Regendächern an der Straße standen. Es kam auf diese Weise eine ganze Anzahl solcher Tiroler Weiber zusammen. Sie unterhielten sich in ihrem mir aus der Kindheit vertrauten, hinten im Hals wie eine Vogelsprache artikulierten Dialekt – unter einander verständigen sie sich ähnlich wie die Dohlen, heißt es bei Kafka von den Barbaren - vornehmlich, ja ausschließlich über den nicht mehr enden wollenden Regen. Die Sonne trat hervor, die Tirolerinnen verstummten eine nach der andern. Gegen Mittag - die Tirolerinnen waren längst alle in Reutte, in Weißenbach, in Haller, Tannheim und Schattwald ausgestiegen – erreichte der Bus mit mir als letztem Fahrgast das Zollamt von Oberjoch. – Offenbar fühlt sich Selysses wohl als einzig verbleibender Reisender im Bus, wir freilich möchten niemanden von den Mitreisenden missen, und zu Prosa geworden hat vielleicht sogar der schreckliche Brotzeitmacher das Wohlwollen auch des Dichters gefunden.


Den gewünschten Frieden jedenfalls und gnädiges Dunkel hat der reisende Selysses, ähnlich wie im Flugzeug nach Manchester oder am Ende der Reise nach Oberjoch, auf einer Fahrt in England, als er, im August 1992, mit dem alten, bis an die Fensterscheiben hinauf mit Ruß und Öl verschmierten Dieseltriebwagen, der damals zwischen Norwich und Lowestoft verkehrte, an die Küste hinunterfuhr. Die wenigen Mitreisenden saßen im Halbdunkel auf den abgewetzten lilafarbenen Sitzpolstern alle in Fahrtrichtung, möglichst weit voneinander entfernt und so stumm, als hätten sie noch niemals in ihrem Leben ein Wort über die Lippen gebracht. Übertroffen in ihrer schweigsamen Unaufdringlichkeit werden sie allenfalls noch von des Businsassen auf der Fahrt von Theresienstadt zurück nach Prag. Der Fahrer gab wortlos auf einen Hundertkronenschein das Wechselgeld heraus. Einmal, als ich mich umwandte während der Fahrt, sah ich, daß die Fahrgäste in den Schlaf gesunken waren, ausnahmslos. Mit verrenkten Leibern lehnten und hingen sie in ihren Sitzen. Dem einen war der Kopf nach vorn gesunken, dem anderen seitwärts oder in den Nacken gekippt. Manche röchelten leise. - Nature Morte, ein Stilleben Lebender, als seien sie Tote.

Wenn Blickkontakt meint, daß zwei Augenpaare sich treffen, so findet er nicht statt. Selysses schaut, und die Mitreisenden werden ihm, als Lebende oder als Tote, zu Sprachbildern, allein wir schauen zurück auf ihn. Nicht immer ist dem Reisenden seine unbemerkte Einsamkeit recht, bisweilen, zumal in Augenblicken der Verwirrung und der Schwindelgefühle, ist Selysses dankbar für Gesellschaft. In Rovereto steigt eine alte Tirolerin ein mit einer aus Lederflecken zusammengenähten Einkaufstasche. Sie ist in Begleitung ihres vielleicht vierzigjährigen Sohnes. Über die Maßen dankbar bin ich den beiden, als sie, obschon der Waggon ganz leer ist, sich hereinsetzen zu mir. Hin und wieder ergreift den Sohn ein Krampf in seiner Brust. Die Mutter macht ihm dann - und in eins auch dem Selysses, der sich, für einmal, als Sohn träumt - zur Beruhigung einige Zeichen in die Fläche seiner linken, wie ein unbeschriebenes Blatt offen in ihrem Schoß liegenden Hand. Nach und nach wird es mir besser. Wir sind in Bozen. Die Tirolerin steigt aus mit ihrem Sohn.

Nur wenige Seiten später, im Zug nach Mailand, ist Selysses erkennbar enttäuscht über den ausbleibenden Austausch von Blicken und vielleicht sogar Worten mit seinen Mitreisenden. Mir gegenüber saßen eine Franziskanerin von vielleicht dreißig oder fünfunddreißig Jahren und ein junges Mädchen mit einer aus vielen farbigen Flecken geschneiderten Jacke um die Schultern. Das Mädchen war in Brescia zugestiegen, die Franziskanerschwester hatte in Desenzano bereits im Zug gesessen. Die Schwester las ihr Brevier, das Mädchen, nicht minder versenkt, einen Bilderroman. Von vollendeter Schönheit waren sie beide, dachte ich mir, abwesend und anwesend zugleich, und ich bewunderte den tiefen Ernst, mit dem sie jeweils die Blätter umwendeten. Einmal blätterte die Franziskanerschwester um, dann das junge Mädchen und dann wieder die Franziskanerschwester. So ging es die ganze Zeit fort, auch nur ein einziges Mal mit der einen oder der anderen einen Blick zu wechseln. Ich versuchte mich also selber zu üben in einer ähnlichen Bescheidenheit und holte den Beredten Italiener heraus, ein praktisches Hülfsbuch der italienischen Umgangssprache.

Sofern der Blick nicht, wie beim Brotzeitmachenden, an einer allzu garstigen Front abprallt, ist das gemeinsame Reisen in einem Abteil eine Aufforderung zum Kontakt und zugleich seine Behinderung angesichts eines Gefühls des Ausgeliefertseins in der Enge des Raums. Man weiß nicht, was folgt und wie man sich nötigenfalls retten kann, wenn der erste Schritt getan ist und weitere folgen müssen. Der jäh heraustretenden, männlichen Blick des Selysses ist abgesetzt von der nur durch die geringfügigste Senkung der unteren Lidgrenze angedeuteten Beschlossenheit des weiblichen Auges. Die beiden jungen Frauen sind abwesend und anwesend, ansprechbar und auch wiederum nicht, nicht zuletzt das ist ihr Zauber. Ihre Uneindeutigkeit ist eine Aufforderung, sie zu verstehen, wobei wir Verstehen wiederum als behutsames Mitreisen deuten. Selysses flüchtet sich in den Beredten Italiener, beredter kann er seinem Wunsch, mit den beiden Italienerinnen ins Gespräch zu kommen, kaum Ausdruck verleihen. Und doch ist er womöglich erleichtert, daß das Schweigen nicht gebrochen und das schöne Bild im italienischen Stil nicht zerstört wird. Das Betrachten von Bildern hatte in Selysses vor Jahren schon den Wunsch erweckt, alles aufgeben zu können außer dem Schauen, ein Projekt, das aus verschiedenen Gründen, die man sich denken kann, von vornherein zum Scheitern verurteilt war, und unter den Gründen ist nicht der geringste der, daß im Blickfeld jederzeit, erwünscht und gefürchtet zugleich, Menschenaugen erscheinen können, die das eigene Schauen erwidern.



Mit der intensiven Betrachtung der beiden Mitreisenden geht Selysses bereits bis an die Grenze geltender Reiseetikette und vielleicht schon über sie hinaus. Der nächste Schritt, bestehend in dem Versuch, das flüchtige Augenblicksbild auf der Retina in ein Photo zu verwandeln, führt unmittelbar zum Fiasko: Kurz vor der Abfahrt stieg ein Junge von etwa fünfzehn Jahren ein, der auf die unheimlichste Weise, die man sich denken kann, den Bildern glich, die Kafka als heranwachsenden Schüler zeigen. Und als ob es damit nicht genug gewesen wäre, hatte er zudem noch einen Zwillingsbruder, der sich von ihm soweit ich in meinem Entsetzen feststellen konnte, nicht im geringsten unterschied. Als ich unter Aufbringung allen Mutes ein Gespräch mit ihnen anzuknüpfen versuchte, reagierten sie nur mit einem blöden gegenseitigen Sich-Angrinsen. Und als ich mich dem äußerst reservierten Ehepaar zuwandte, das meine seltsamen Bemühungen um seine Söhne bereits mit wachsender Besorgnis verfolgt hatte, gelang es mir nicht annähernd, ihnen klarzumachen, welcher Art mein Interesse an den unablässig vor sich hinkichernden Knaben war. Als ich zuletzt zur Zerstreuung jeden Verdachts sagte, es würde mir schon reichen, wenn sie mir ein Bild ihrer Söhne nach England schicken würden, war es ihnen, wie ich genau merkte, vollends klar, daß es sich bei mir um nichts anderes als um einen zu seinem sogenannten Vergnügen in Italien herumreisenden Päderasten handeln konnte.

Später in Verona weigert sich der Photograph in dem Laden nebenan von der Vorderfront der ehemaligen Pizzeria Verona ein Bild für ihn aufzunehmen, und auch die jungen Hochzeitsreisenden aus der Erlanger Gegend kommen seinen diesbezüglichen Wünschen des Selysses nur sehr ungenügend nach. Während im Fall der Kafkazwillinge das Scheitern gleichsam kausal begründet und dramaturgisch inszeniert wird, ist die strikte Weigerung des Berufsphotographen, ein Bild aufzunehmen, rätselhaft und von beklemmender Grundlosigkeit. Ein Fluch, der Nachhall eines schweren Verbrechens scheint auf der Pizzeria Verona zu liegen, aus der Selysses vor Jahren geflüchtet war, der auch das Photographieren zu einem schweren Frevel machen würde.

Was bedeuten diese photographische Scheitern für die nichtsdestoweniger dichte Photobebilderung der Werke Sebalds? Offenbar besteht ein Dilemma zwischen der Gier, den flüchtigen Augenblick – die Begegnung unter Mitreisenden ist ein Augenblicksabenteuer – festzuhalten und ihnen vermittels dieser neuzeitlichen Vitrifikation der Photographie einen Anteil am ewigen Leben zu sichern, und dem Wissen, ihm damit tödliches Unrecht zu tun. Sind alle Bilder im Text gescheiterte Bilder? Sind allein die läppischen Bilder von Eintrittsbillets und Fahrkarten unschuldig aufgrund ihrer minimalen Fallhöhe? Stehen die durch Knopfdruck entstandenen Bilder der Kamera in einem Gegenstrom zur aufwendigen Rekonstruktion des Augenblicks in der Prosa?

Auf der Fahrt durch die Normandie teilt Selysses das Abteil mit einer einzelnen und, wie es scheint, ein wenig exzentrischen Dame. Daß auch sie sich fremd bleiben, ist zurückblickend vielleicht nicht der größte Verlust, den er verschmerzen muß: In meinem Abteil saß eine gefiederte Dame mit einer Menge verschiedener Hutschachteln. Sie rauchte eine große Brasilzigarre und sah durch den blauen Qualm manchmal auffordernd zu mir herüber. Ich wußte aber nicht, wie ich sie ansprechen sollte, und starrte in meiner Verlegenheit fortwährend auf die weißen Glacéhandschuhe mit den vielen Knöpfen, die neben ihr auf dem Sitzpolster lagen.

Blickkontakt zwischen Selysses und seinen Mitreisenden stellt sich mühelos und andauernd her während einer Autofahrt in den Vereinigten Staaten. Die Überholvorgänge verliefen so langsam, daß man, während man Zoll für Zoll sich nach vorn schob oder zurückfiel, sozusagen zu einem Reisebekannten seines Spurnachbarn wurde. Beispielsweise befand ich mich einmal eine gute halbe Stunde in Begleitung einer Negerfamilie, deren Mitglieder mir durch verschiedene Zeichen und wiederholtes Herüberlächeln zu verstehen gaben, daß sie mich als eine Art Hausfreund bereits in ihr Herzgeschlossen hatten, und als sie an der Ausfahrt nach Hurleyville in einem weiten Bogen von mir sich trennten, da fühlte ich mich eine Zeitlang ziemlich allein und verlassen. - Jeder reist unbedrängt in seinem eigenen Gehäuse und weiß, der Reisekontakt wird ohne, und dann möglicherweise widrige, Folgen bleiben.

Die letzte der neuzugestiegenen Fahr­gäste war eine junge Frau mit einem braunen Samtbarett und lockigem Haar, in der ich auf den ersten Blick und, wie ich mir sagte, ohne den allergeringsten Zweifel, Elizabeth, die Tochter James I, erkannte, die als die Winterkönigin bekannt geworden ist. Diese junge Frau aus dem englischen siebzehnten Jahrhundert war, kaum hatte sie Platz genom­men und in ihrer Ecke sich eingerichtet, auf das tiefste versenkt in ein Buch, welches den Titel Das böhmische Meer trug und verfaßt war von einer mir unbekannten Autorin namens Mila Stern. Ich trat hinaus auf den Gang. Als nun ein allmählich eintretendes Schneetrei­ben diesen im Vorbeigleiten fortwährend sich verschiebenden, im wesentlichen aber unver­ändert bleibenden Prospekt mit einer feinen, fast waagrechten Schraffur überzog, war es mir auf einmal, als seien wir auf dem Weg hinauf in den hohen Norden, als näherten wir uns bereits der äußersten Spitze der Insel Hokkaido. Die Winterkönigin, von der ich insgeheim vermutete, daß sie diese Verwandlung der Rheinlandschaft bewirkt hatte, war gleichfalls auf den Gang herausgekommen und stand, das schöne Schauspiel betrachtend, bereits eine längere Weile neben mir, bis sie mit einem kaum wahr­nehmbaren englischen Tonfall in der Stimme und, wie es mir schien, ganz für sich allein die folgenden Zeilen sagte: Rosen weiß verweht vom Schnee, Schleier schwärzer als die Kräh’, Handschuh weich wie Rosenblüten, Masken das Gesicht zu hüten. Daß ich darauf damals nicht zu erwidern wußte, nicht wußte, wie er weiterging, dieser Winter­vers, daß ich, aller inneren Bewegung zum Trotz, nichts herausbrachte, dumm und stumm nur stehenblieb und weiter hinausschaute auf die nahezu vergangene Dämmerwelt, das hat mich seither schon oft sehr gereut und gedauert. Bald weitete das Rheintal sich aus, in der Ebene erschienen die glitzernden Wohntürme, und der Zug rollte hinein nach Bonn, wo die Winter­königin, ohne daß ich noch etwas zu ihr hätte sagen können, ausgestiegen ist. Seither habe ich immer wieder und bislang vergebens versucht, wenigstens das Buch Das böhmische Meer ausfin­dig zu machen; es ist aber, obschon zweifellos für mich von der größten Wichtigkeit, in keiner Bibliographie, in keinem Katalog, es ist nirgends verzeichnet.

Die Winterkönigin ist ohne jeden Zweifel die Königin der Mitreisenden des Selysses. Sie hat vermutlich ein reales, im weiteren aber umgehend verzaubertes Substrat, und es ist nicht eindeutig auszumachen, wo das eine aufhört und das andere anfängt. Nicht völlig auszuschließen ist auch nur, daß es sich bei der ganzen Episode um ein Traumbild handelt, hatte Selysses doch bereits zu Beginn der Schwindel.Gefühle auf der Zugfahrt von Wien nach Venedig einen Traum voller Schnee- und Wintereindrücke geträumt: Glühend, transparent, feuerspeiend und funkenstiebend die Spitze des Schneebergs, hineinragend in die letzte Helligkeit des Himmels, an dem die seltsamsten graurosafarbenen Wolkengebilde trieben und zwischen diesen die Winterplaneten und die Sichel des Mondes. Es bestand für mich im Traum keinerlei Zweifel, daß es sich bei dem Vulkan um den Schneeberg handelte. – Mit großer Wahrscheinlichkeit aber können wir annehmen das eine recht beliebige Frau den Zug besteigt, um sich ohne Umschweife aufgrund einiger eher äußerlicher Attribute für den Dichter in die englische Königstochter Elizabeth zu verwandeln. Sie vertieft sich in Erfüllung ihrer Rolle als Königin von Böhmen in ein allem Anschein nach nichtexistentes Buch einer nichtexistenten Autorin betreffend den fiktiven Handlungsort in Shakespeares Komödie Ein Wintermärchen. - Mila bedeutet im Slawischen liebe, apostrophiert der Dichter Ingeborg Bachmann mit ihrem Gedicht Böhmen liegt am Meer als den lieben, hellen Stern der Poesie und verbirgt sie unter diesem Namen? Kann andererseits gerade in dem Augenblick, als von Böhmen die Rede ist, der sonst im Buch durchgängig anwesende Kafka abwesend sein, schimmert vielleicht hinter der Bachmann Milena Jesenska hervor, der liebe Herbststern im Leben des Dichters, der Winterkönigin nur wenig voraus im Jahresablauf, denn ihr Name klingt wie von Jesen, Herbst, abgeleitet. - Man kann und soll es nicht wissen.*

Der Dichter betrachtet die Winterkönigen beharrlich aber ohne jedes Photographiergelüst. Die lesende Winterkönigin erwidert seine Blicke nicht. Dafür richtet sie auf dem Gang des Waggons, allerdings indirekt, das Wort an ihn, ganz gemäß ihrer Rolle mit englischem Akzent und mit Worten ihres Zeitgenossen Shakespeare in umstrittener deutscher Übersetzung, wie sie sie offenbar gerade ihrem Buch über das böhmische Meer entnommen und memoriert hat. - Grenzt hier ein Wort an mich, so laß ich's grenzen.

Der Dichter aber steht nur dumm und stumm da. Die Schwindel.Gefühle sind das Buch eines mehr oder weniger Stummen, gleich zu Anfang erfahren wir bereits vom Zustand seiner anhaltenden Sprachlosigkeit, ein Zustand, der sich bis zum Ende nicht ernstlich bessert. Stumm geblieben zu sein in diesem Augenblick habe ihn seither schon oft gereut und gedauert, aber wer sagt uns, daß die Reue nicht noch größer gewesen wäre, hätte er das Wort an sie gerichtet, an sie, die so sang- und klanglos in Bonn aus dem Zug gestiegen war. Hätte ein Austausch von Worten mit der Winterkönigin ihr Bild nicht gründlicher noch zerstört als eine Photographie? Ist nicht allein das nachholende, aufgeschriebene Wort ihr angemessen?

Die Winterkönigin erscheint wie die Verdichtung des ganzen Buches zu einer Miniatur. Die Schwindel.Gefühle sind ein Buch voller Klarsicht und Nebel, Schlaflosigkeit und Traum, reale und erdachte, wahrgenommene und halluzinierte Gestalten reisen mit. Ein Buch voll schwindelerregender Verwandlungen, Stendhal trifft in Begleitung der körperlosen Mme Gherardi den Jäger Gracchus, bevor ihn Kafka noch erfunden hat, der Jäger wandert, dabei das Bahnhofspissoir in Desenzano aufsuchend, nach W., wo er sich als Hans Schlag ausgibt, als den ihn der junge Selysses kennenlernt und auch Zeuge wird, wie der Doktor Piazolo ihm, der nicht sterben kann, den Totenschein ausstellt.

Was bedeutet das für uns, die wir uns als Mitreisende des Dichters sehen. Er wird uns nicht weniger rätselhaft bleiben als ihm die Winterkönigin, und wir müssen Sorge tragen daß wir in der Begegnung mit ihm nicht dumm und stumm dastehen. Zu einer Verwechslung zwischen dem Dichter und dem mitreisenden Leser wird es nicht kommen, auch wenn beim fortwährenden Lesen schon einmal ein übermütiges Gefühl aufkommen mag ähnlich dem, das sich einstellte, als man vor langen Jahren auf dem Schoß des Großvaters sitzend, weit über das wirkliche Vermögen hinausgehend, das Steuerrad des fahrenden Autos betätigen durfte. Auch eine Verwechslung zwischen den mitreisenden Lesern wird nicht stattfinden, denn wie auf den amerikanischen Highway reisen wir beim Lesen ein jeder in seinem separaten Fahrgehäuse, das unterscheidet uns, denen es mit jedem vergehenden Jahr unmöglicher wird, uns unter ein Publikum zu mischen, von den Besuchern der Theater und Lichtspielhäuser.

*Christian Wirth billigt die phantastische Crew und komplettiert sie aus seemännischer Sicht: Mir schwebt - wie kann das bei Odysseus anders sein - noch ein anders nettes Bild vor. Stern heißt im Tschechischen wie auch im Englischen Heck. Die Winterkönigin, Ulysses, Selysses, Kafka, Bachmann, Susi Ahoi und James Joyce sitzen dort auf dem Dreimaster (mit Kurs auf Innerfern) vor Korsika im Böhmischen Meer ...

Sonntag, 15. August 2010

Verstehen

Mitschweben

Herkömmliche literaturwissenschaftliche Zugriffe auf die Werke der schönen Literatur bestehen in der Hinzuziehung der Biographie des Dichters oder in der Erkundung von Einflüssen anderer Dichter und Literaturen. Zahlreiche andere literaturwissenschaftliche Herangehensweisen sind im Zuge der wissenschaftlichen Entwicklung hinzugekommen, die soziologische, die psychoanalytische &c. Allen ist gemeinsam, daß sie versuchen, das Kompliziertere mit dem Einfachen, das Flüchtige mit den Handfesten zu erklären. Es sind Demonstrationen des unerschrockenen Forschungsdrangs der neuen Wissenschaft, bei der zwar, anders als bei der Prosektur, nicht das archaische Ritual der Zergliederung eines Menschen bis über den Tod hinaus zu erkennen, die aber sehr wohl beim lebendigen Leib beginnen und oft beim toten enden.

Dem Aufspüren von Einflüssen bietet Sebald einen mehr als reichen Boden und führt das Verfahren zugleich ad absurdum, besteht sein Werk, extrem ausgedrückt, doch nur aus dem spielerischen Umgang mit Einflüssen, die allerdings vom Dichter bereits immer gründlich bedacht sind. Dem Forscher bleibt weithin nur das bloße Vorzeigen, Bescheid wußte der Dichter schon selbst. Was die Biographie anbelangt, so gilt immer die Kindheit als besonders ergiebig. Die Wehrmachtsvergangenheit des Vaters sei beim Sohn mit dem germanischen Namen Winfried in Selbsthaß umgeschlagen, dieser wiederum habe dann zu einer heillosen Geschichtsphilosophie geführt, kann man etwa lesen – welche Erkenntnis hat der Leser davon?

Lesen ist nicht das Betreiben von Wissenschaft, auch der Leser aber möchte verstehen. VERSTEHEN ist, beim Wort genommen, einigermaßen rätselhaft. Ver-stehen kann man nur die Zeit, so wie man sie vergeuden kann, die Zeit, von der nun gerade niemand behaupten kann, er verstünde sie. Eigentlich sollte VERSTEHEN im konkreten Sinne ein nur um ein Geringes aktiveres Synonym des Verliegens sein, der Zeitpunkt und die Weise des Abhebens der uns vertrauten metaphorischen Wortbedeutung von der konkreten sind, folgt man den etymologischen Wörterbüchern, offenbar nicht bekannt. Wir wollen die Chance nutzen und Ausschau halten nach weniger aggressiven Formen des Verstehens, die der Leser nutzen kann, ohne beim Buch als Leichnam zu landen.

Es mag sich lohnen, zum vermuteten Ausgangspunkt des VER-STEHENS zurückzukehren. Dabei kann es aber nicht bleiben, das Stammverb ist zu statisch. Tauschen wir es aus gegen GEHEN, so wäre mit VERGEHEN erkennbar die Richtung verfehlt. Wenn in Korrektur der Korrektur auch noch die Vorsilbe ausgetauscht wird, ist womöglich nur noch in eine andere Sprache zu wechseln: walk by me again, geh mit mir, lies mich wieder, versuche mit mir in den gleichen Wanderschritt zu fallen, vielleicht wird, wenn es sich um Sebald handelt, schon bald des noch fernere Ziel erahnbar: fly by me. Wir lassen und von den Kreisen seiner Prosa höher und höher tragen wird wie ein Segler auf den warmen Strömungen der Luft und geben uns einem Gefühl der Levitation hin. Zur Erinnerung die Stationen: VERSTEHEN – VERGEHEN – MITGEHEN - MITSCHWEBEN. – Muß man argwöhnen, daß die Literaturwissenschaft bei ihren Versuchen zu verstehen demgegenüber Gefahr läuft, die Vorsilbe in ein ZER und das Stammverb in TRETEN zu verwandeln?

Das Lesen führt zu einer Sprach- und Lebenssymbiose mit dem Dichter. Wir gehen auf den Wegen seiner Sätze und versuchen, unseren Schritt anzupassen. Wir können auch die Wege gehen, die der Dichter gegangen ist, nicht in der Erwartung, seine Fußspuren noch zu finden, sondern in der Hoffung, Aufnahme zu finden in die Einheit von Landschaft und Sprache, die ihm gelungen ist. Wir gehen nicht so sehr zurück auf das, was leichter scheint als der Text, die Leiden des jungen Winfried etwa, und halten uns vielmehr an das noch Schwierigere, berätseln die Schriftzüge des Dichter, schauen auf Dinge, die er gesehen hat, bedenken sein Antlitz.