Montag, 14. Juli 2014

Commander Dalgliesh

From Norfolk

Der nicht mit dem Verfassen von Kriminalromanen befaßte Bevölkerungsanteil ist stark rückläufig, noch schneller schrumpfen die nicht dem Kriminalfach zuzurechnenden Teile der Literatur in Relation zu den Morderzählungen. Dabei sind die Grenzen nicht klar, Dostojewski etwa stand immer schon im Verdacht, Kriminalromane geschrieben zu haben. In den Brüdern Karamasow und den Dämonen wird gemordet, in Schuld und Sühne zudem eine reguläre Ermittlung durchgeführt. Stifters Nachsommer, um dieses Beispiel zu nennen, befindet sich dagegen alles in allem auf der verbrechensfreien Seite. Mit Kriminalromanen haben wir es in jedem Fall zu tun, wenn ein serieller Ermittler - Holmes, Marlowe, Maigret, Rebus - in einer Reihe von Büchern immer wieder auftritt. Nicht selten ist der fiktive Ermittler zugleich der fiktive Verfasser, Verfasser von Kriminalromanen werden aber auch als Opfer oder Täter angetroffen. P.D. James' Ermittler Commander Dalgliesh weist die Besonderheit auf, daß er im Zweitberuf Lyriker ist und allem Anschein kein Kriminallyriker, schon weil dieses Genre außerhalb von Moritat und Bänkelsang bislang wenig entwickelt wurde. Dalgliesh betont immer wieder, daß die Verbrechensaufklärung als Erfahrungshintergrund für seine Wortkunst dient, daß er hier die entscheidenden Einsichten in Welt und Gesellschaft gewinnt. Wie im einzelnen aber sich das Verhältnis von Ermittlung und Dichtung gestaltet, wird nicht deutlich, die poetischen Erzeugnisse des Kriminalisten werden dem Leser vorenthalten. Wer alle Bücher der Autorin gelesen haben sollte, wüßte, ob es einen Roman gibt, der von Dalgliesh dem Dichter handelt und von Dalgliesh dem Ermittler nur nebenbei. Man könnte sich einen Plot denken mit Dalgliesh bei einer ausführlichen Lesung seiner Werke, an der wir teilnehmen dürfen, und sodann einem Mordopfer unter den Zuhörern. Ohne entsprechende Einsichtsmöglichkeiten bleibt der Eindruck, die Autorin habe selbst keine detaillierte Vorstellung vom dichterischen Schaffen ihres Protagonisten. Ermittler und Dichter: offenbar soll eine große Entfernung zwischen den beiden Polen angezeigt werden, die sich als große Nähe erweist.

Eine breite statistische Untersuchung könnte belegen, daß gottgläubige Menschen im Schnitt weniger Kriminalliteratur konsumieren als gottlose. Die Aufklärung eines Verbrechens ist die Wiederherstellung einer gestörten Ordnung, Gott aber der Garant einer unverbrüchlichen Ordnung, die von einem Verbrechen nur sehr oberflächlich berührt werden kann. Das bedeutet allerdings nicht, der Weltenlenker könne ganz ohne menschliche Unterstützung auskommen. In der mittelalterlichen Literatur waren die Ritter fortwährend zugunsten der Bedrückten und Beleidigten unterwegs auf einer Queste, lexikalisch unmittelbar der Enquête verwandt, wie Maigret sie kennt. Bei ihren Unternehmungen bekommen es die Rauhreiter mit allerhand Wundern und Zauberkräften zu tun. Im englischen Sprachraum wird der Kriminalroman noch heute als Mystery bezeichnet, und im speziellen Fall des Locked Room Mystery scheint die Lösung ohne göttliche oder doch Merlins Hilfe nicht erreichbar. Als es schließlich gelungen war, das Böse mehr oder weniger zu verbannen aus Arthurs Reich, tritt an die Stelle der individuellen, fallbezogenen Queste die große Recherche du Saint Graal, sozusagen der Übergang vom Kriminalroman zur Literatur an sich, die sich allerdings von der Religion noch nicht getrennt hatte. Ob sie das in der Folge dann in bündiger Weise getan hat, mag dahingestellt sein, jetzt, bei funktionierendem säkularem Rechtswesen und zahllosen, vom Publikum mit Eifer beobachteten Ermittlern in Buch und Film, die alle Ordnungsverstöße schwerwiegenderer Art zuverlässig beseitigen, hat es aber den Anschein, als könne der Herr sein Richter- und Lenkeramt ablegen und sich ganz der angestammten Milde seines Herzens überlassen.
Dalgliesh stammt aus einem Pfarrhaus in Norfolk und erweist sich damit sozusagen als Landsmann Sebalds; vielleicht ist der sogar sein Wohnungsnachfolger im Rectory. Das mildert die Überraschung aber nur wenig, wenn Sebald, verkleidet als Selysses, sich im Gespräch mit Luciana Michelotti als Kriminalschriftsteller ausweist, wird er doch verbreitet als Geistesverwandter Stifters angesehen, dessen Nachsommer hier gerade als Beispiel für nichtkriminalistische Literatur gewählt wurde. Die Verwandtschaft besteht aber nicht. Wer bei Stifter und Sebald einen ähnlichen Klang der Sätze vernimmt, ist taub, und naturgemäß geht es bei Sebald nicht darum, eine für vollkommen erachtete Welt aufwendig abzusichern und unverändert, mit gewaschenen Bäumen und wohlerzogener Vogelwelt an die nachfolgende Generation weiterzureichen: gleichsam die frühzeitig erstarrte oder doch extrem verlangsamte Form der immer noch populären, wenn auch inzwischen arg auf die Probe gestellten Erwartung, alles würde immer besser. Selysses begibt sich auf eine seltsame Queste, die ihn von Wien aus nach Oberitalien und von dort schließlich ins Allgäu führt. Er kann dabei an die Schwermut der Ritter anknüpfen aber nur sehr begrenzt an ihre Erfolge. Als seinen bedeutendsten Sieg erlebt er selbst die Erringung eines Cappuccinos im Bahnhofsbuffet von Venedig, eine gestörte Weltordnung kann dadurch nicht wieder ins Lot gebracht werden. Die Enquête, die kriminalistischen Ermittlungen verlaufen im Sande, das Verbrechen des Jägers Gracchus bleibt so dunkel wie es war. In den folgenden Büchern, bis hin zu Austerlitz, wird dann immer deutlicher: die Lage ist verzweifelt weit über das hinaus, was ein irgendein Held oder ein Ermittler zu richten vermöchte. Alle Handlungen draußen führen zu nichts. Wenn der Ermittler zum Dichter wird und der Dichter zum Ermittler muß etwas Unbekanntes in der Mitte liegen, nach dem beide suchen. Sie begeben sich auf die Suche nach dem Gral im Inneren des Sprachkunstwerkes, der Suche nach der künstlerische Wahrheit, ebenso verborgen und unsichtbar wie das heilige Gefäß.

Donnerstag, 10. Juli 2014

Sprachfülle

Lord Phi. Chandos

Die Gestalt des Major Le Strange wirkt auf den ersten Blick so vollendet und klar wie eine Einstrichzeichnung Picassos, eigentlich aber besteht sie nur aus Fragen und Rätseln. Florence Barnes hat er unter der ausdrücklichen Bedingung verdingt, daß sie die von ihr zubereiteten Speisen mit ihm gemeinsam aber wortlos einnimmt. Ist das Redeverbot nun allgemein oder beschränkt es sich auf die Essenszeit; kann sie sich abends erkundigen, nach welcher Speise ihm tags darauf der Sinn steht; wenn das Redeverbot, wie anzunehmen, durchgehend gilt, kann er seinerseits sich mit Worten an sie wenden; schreiben sie einander Zettel wie Jean Gabin und Simone Signoret; hat das Redeverbot, was Florence bestreitet, sich vielleicht im Verlauf der Jahre gelockert oder gar verflüchtigt; wohnt Florence Barnes ständig auf dem Gut, oder kommt sie nur für die Stunden ihrer Arbeit; hat sie Anspruch auf Jahresurlaub, und wie überbrückt Le Strange dann diese Zeit; hat Le Strange anderweitig Kontakt mit der Sprache, liest er das Tagblatt, verbringt er lange Stunden in der Bibliothek; verfolgt er Radio- und Fernsehsendungen; oder hat er das Sprachvermögen ganz eingebüßt?
Eine kürzere Sprachabstinenz kann sich nur vorteilhaft auf das Sprachvermögen auswirken. Alleinreisende sind in der Regel dankbar, wenn sie, nach manchmal tagelang nicht unterbrochenem Schweigen, eine Ansprache finden und können sogar bereit sein, sich einem fremden Menschen rückhaltlos zu öffnen. Bei Austerlitz war es dabei erstaunlich, wie er seine Gedanken beim Reden verfertigte, wie er sozusagen aus einer Zerstreutheit heraus die ausgewogensten Sätze entwickeln konnte. Man muß sich dabei vor Augen halten, daß der Erzähler Austerlitz ständig dolmetscht. Austerlitz ist ein vierhundertseitiges Fest der deutschen Sprache, bei dem, schaut man genau hin, so gut wie kein Deutsch gesprochen wird. Austerlitz und Selysses unterhalten sich zunächst in französischer Sprache und wechseln dann ins Englische. In seiner Jugend hat Austerlitz zudem die walisische Sprache, wie er sagt, im Fluge erlernt, ein Geschehnis, um das ihn jeder, der sich lustvoll mit dieser oder einer anderen keltischen Sprache plagt, nur beneiden kann. Nid dy fyd di ydi fy lle i: schwer zu glauben, daß sich Menschen am äußersten westlichen Rand unseres Kontinents tatsächlich auf diese wundersame Weise verständigen, man könnte meinen, wie sie uns mit diesen acht kurzen, sich verwirrend ähnlich sehenden Worten auch selbst versichern, ihre Welt sei nicht die unsere. In der tschechischen Sprache hat Austerlitz mühselig einen Begrüßungssatz einstudiert und mit unsicheren Schritten wie aufs Eis findet er, ausgehend von der Zahlenreihe, zurück in die ihm, wie er glaubte, unbekannte Sprache. Er, der während seiner walisischen Zeit auch im entferntesten nicht auf den Gedanken gekommen war, vom Tschechischen je berührt worden zu sein, verstand nun wie ein Tauber, dem durch ein Wunder das Gehör wieder aufging, so gut wie alles. Beides, das Französische und das Tschechische, hatte er in der frühen Prager Zeit von seiner französischen Kinderfrau erlernt. Auf den gemeinsamen Spaziergängen war das Französische die Umgangssprache gewesen, nachmittags wurde, über häusliche und kindliche Dinge sozusagen, tschechisch geredet. Die deutsche Sprache dringt nur von außen in diese Welt. Im Rundfunk konnte man mitanhören, wie in tausend, zehntausend, zwanzigtausend, tausend mal tausend und abertausend Wiederholungen mit heiserer Stimme der Reim hervorgestoßen wurde, der den Deutschen ihre eigene Größe und das ihnen schon bevorstehende Ende eintrichterte. Die Übersetzungsarbeit des Erzählers kann, nicht als Wiederherstellung der Unschuld der deutschen Sprache, die sie als Sprache nicht verlieren konnte, sondern als ihre Freilegung von Schutt und Unrat ihres Mißbrauchs und als erneute Sichtbarmachung ihres Glanzes angesehen werden. Das ist nicht eines der geringsten Anliegen des Buches, und der Erzähler geht dabei auf Wegen weit abseits von den gängigen Purifizierungs- verfahren.
An späterer Stelle berichtet Austerlitz, der Meister der ausgewogensten Sätze, von seinem zeitweiligen Sprachverlust. Es ist in diesem Zusammenhang auf die Beichte des Lord Chandos hingewiesen worden, und tatsächlich ergibt sich der Eindruck, als lasse Austerlitz, ähnlich wie Selysses zu Beginn von Ritorno in patria das Tiroler Land an der Seite von Thomas Bernhard durchmißt, sich ein Stück des Weges von Hofmannthal begleiten. Die beiden gehen aber längst nicht im Gleichschritt. Beiden gemein ist, daß sie von ihrem Sprachverlust in beredten Worten berichten, im Falle des Lord Chandos umso auffälliger, als er wortreich einen noch andauernden Zustand der Sprachlosigkeit deklariert: aber was versuche ich wiederum Worte, die ich verschworen habe, so er selbst. Aber berichtet er überhaupt von einem Sprachverlust und nicht vielmehr von einer Sprachwandlung, einer Sprachentsagung zum Zwecke der Sprachfindung? Lord Chandos ist Dichter, für ihn ist die Sprache nicht, wie bei Austerlitz, Mittel der Gedankenentwicklung, sondern Material der Wandlung in etwas anderes: Kunst. Kunst aber unterscheidet sich, wie der Theoretiker ausführt, vom Ingangsetzen einer sprachlichen Kommunikation dadurch, daß sie im Medium des Wahrnehmbaren oder Anschaulichen operiert, ohne die spezifische Sinnleitung der Sprache in Anspruch zu nehmen. Das gelte auch und noch viel dramatischer, weil weniger selbstverständlich, für alle Wortkunst, für Dichtung.

Chandos durchlebt diesen dramatisch Augenblick, in dem Sprache als Gerät der Kommunikation und des Denkens vergehen muß, um als Stoff der Kunst wieder aufzuerstehen. Eine Gießkanne, eine auf dem Feld verlassene Egge, ein Hund in der Sonne, ein ärmlicher Kirchhof, ein Krüppel, ein kleines Bauernhaus, alles dies kann das Gefäß meiner Offenbarung werden - und alle diese Dinge findet man, Wort geworden, bei Sebald wieder. Überhaupt weiß ich nicht, was es ist an bestimmten Dingen und Wesen, das mich manchmal so rührt, sagt Selysses, als er im Tiroler Land nach dem Regen eine Schar Hühner weithinaus aufs Feld sich bewegen sieht. Die Prosa ist durchsetzt von solchen Dingen und Wesen. Da ist das Entenpaar im Schutz der niederhängenden Trauerweide, reglos auf der von grasgrüner Grütze ganz und gar überzogenen Fläche des Wassers; da ist das Schiff, das aus der Mitte des Sonnenfeuers hervorgekommen war und jetzt auf den Hafen von Porto zuhielt, so langsam, das man meinte, es bewege sich nicht. Vielleicht eine Stunde lag das Schiff hell leuchtend in der Finsternis. Dann, als die Sterne schon über den Bergen hervortraten, drehte es ab und fuhr so langsam, wie es gekommen war, wieder davon. Lord Chandos Volk der Ratten, dessen gellende Todesschreie er nach dem Auslegen des Giftes aus seinem Keller vernimmt, wird für Selysses von einem Hasen vertreten. Ich sehe den Rand des grauen Asphalts, jeden einzelnen Grashalm, sehe den Hasen, wie er hervorspringt aus seinem Versteck, mit zurückgelegten Ohren und einem vor Entsetzen starren, irgendwie gespaltenen, seltsam menschlichen Gesicht, und ich sehe in seinem im Fliehen rückwärtsgewandten, vor Furcht fast aus dem Kopf sich herausdrehenden Auge, mich selber, eins geworden mit ihm.
Der polyglotte Austerlitz, so die Überlegung, könnte sich, wenn es ihm die eine Sprache zerschlägt, in eine andere flüchten wie auf eine Insel, aber das ist nicht der Fall. Die Symptome des Sprachverlustes schließen an an eine breite Symptomatik eines depressiven Persönlichkeitsverfalls. Schon die geringste Aufgabe oder Verrichtung wie das Einräumen einer Schublade mit verschiedenen Dingen konnte seine Kräfte übersteigen. Es war, als habe sich etwas Stumpfsinniges und Verbohrtes in ihm festgesetzt, das nach und nach alles lahmlegen würde. Austerlitz ist ein Gedankenverfasser auf dem Gebiet der Architektur und beschreibt seinen Sprachverlust mit einer Metapher aus dem Bauwesen: Wenn man die Sprache ansehen kann als eine alte Stadt, mit einem Gewinkel von Gassen und Plätzen, so glich er selbst einem Menschen, der sich, aufgrund einer langen Abwesenheit in dieser Agglomeration nicht mehr zurechtfindet, der nicht mehr weiß, wozu eine Haltestelle dient was ein Hinterhof, eine Straßenkreuzung, ein Boulevard oder eine Brücke ist. Chandos Gießkanne, seine auf dem Feld verlassene Egge, sein kleines Bauernhaus schließlich erlebt Austerlitz, wenn auch nicht in einer unmittelbaren Syntax zur Erzählung von der verlorenen Sprache, in seiner eigenen künstlerischen Disziplin: Die unter dem Normalmaß der domestischen Architektur sind es die Feldhütte, die Eremitage, das Häuschen des Schrankenwärters, der Aussichtspavillon, die Kindervilla im Garten, die wenigstens einen Abglanz des Friedens uns versprechen.

Für alle drei, Austerlitz, Chandos und den Erzähler, Selysses, führt der Weg zur künstlerischen Wahrheit über Reinigung, Rückzug, Melancholie und Askese. Was ist mit Le Strange? Da wir wenig wissen, können wir uns viel denken. Daß sein Sprachverzicht auf die Erlebnisse im Krieg und insbesondere bei der Befreiung von Bergen Belsen, oder dessen was noch zu befreien war, zurückgeht, ist wohl unbestritten. Steckt vielleicht auch hinter seinem Sprachverzicht eine Sprachwandlung? Wir sehen ihn nur in seltenen Augenblicken außerhalb seines Hauses, in einem kanarienfarbenen Gehrock oder einer Art Trauermantel aus verschossenem veilchenfarbenen Taft mit vielen Knöpfen und Ösen, ständig umschwärmt von allem möglichen Federvieh, von Perlhühnern, Fasanen Tauben und Wachteln und den verschiedenen Garten- und Singvögeln, die teils am Boden um ihn herumliefen, teils in der Luft ihn umflogen. So wunderlich diese Auftritte sind, haben sie doch etwas Siegreiches, geradezu Triumphales an sich. Fast auch glaubt man seine möglicherweise lautlosen Selbstgespräche zu hören. Einmal im Sommer habe er in seinem Garten eine Höhle ausgehoben, in der er tage- und nächtelang gesessen sei gleich dem heiligen Hieronymus in der Wüste. Vertrauter als im Erdloch ist uns der heilige Hieronymus im Gehäuse, umgeben von Büchern. Wenn der Dichter Dürers Melencolia Janine Rosalind Dakyns als Inbild zuschreibt, so hat er vielleicht nur versäumt oder es mit Absicht uns überlassen, in Dürers anderem Meisterstich, einem Abbild des Friedens und der domestizierten Schwermut, Le Strange als Hieronymus erkennen. Selbst die ausschließliche Beschäftigung mit dem Studium der vergangenen und der vergehenden Zeit, sollte sie seinen Tagesverlauf bestimmen, wäre sprachlos schwer vorstellbar. Vielleicht aber vertieft Le Strange sich im Korrespondenzen aus vergangener Zeit, beispielsweise in diejenige der Madame de Sévigné, die schon für Proust so wichtig war, und entwirft Pläne zu einem Sévigné-Dictionnaire, in dem sämtliche in der Korrespondenz erwähnten Personen und Örtlichkeiten kommentiert werden. Vielleicht auch feilt er in der stillem Muße seines Landhauses an tastenden Übersetzungen alter Autoren, die er nicht drucken zu lassen gedenkt. Auszuschließen kann man, auch wenn sein Dasein nicht unfroh ist, eine Beschäftigung mit zukunftsfrohen Dingen.

Donnerstag, 3. Juli 2014

Schwermut

A tendency towards acedia

In einem Aufsatz zur Neuauflage der Ausgewanderten heißt es: W.G. Sebald erzählt mit erbarmungsloser Obsession von nichts anderem als diesem mörderischen 20. Jahrhundert. - Bei genauerem Hinsehen wagt er sich allerdings, auch in den Ausgewanderten, mehr noch in anderen Büchern, bis ins mörderische 19. Jahrhundert und noch weiter zurück. Begonnen hat der Dichter mit der Gestalt Grünewalds und einem erbarmungslosen Blick ins blutige Mittelalter. Und weiter: Immer suchen Sebalds Figuren nach Form, aber es ist, als grabe die Schwermut jene Kraft ab, die die Entropie zu stoppen vermöchte. Die Melancholie ist ihrerseits keine typische Erscheinung des 20. Jahrhunderts, auch wenn Alain Ehrenberg den Fortschritt, auf den die Neuzeit so stolz ist, für das vergangene Jahrhundert als den Fortschritt von der Neurose zur Depression beschrieben hat. Dennoch, bereits die beiden vortrefflichsten Ritter der Tafelrunde, Trystan fab Tallwch und Lawnslot y Llyn, litten unter bedrückender Schwermut. Beide waren von Haus aus ebenso untröstlich wie unbesiegbar, beide waren zu ihrem Kummer und ihrer Scham die ehebrecherischen Geliebten einer Königin, Esyllt im einen und Gwenhwyfar im anderen Fall. Dabei war Trystans Lage weniger verzweifelt, war Esyllt doch die Gemahlin des verachtenswerten Königs March, das sündhafte, zudem einem Zaubertrank geschuldete Tun also in gewissem Maße entschuldbar; Gwenhwyfar dagegen war die Gemahlin des bewunderten und geliebten Königs Arthur, bewundert und geliebt nicht zuletzt von Lawnslot. - In den Einzelheiten folgen wir der verläßlichsten Fassung der Artussage, nämlich Thomas Bergers Arthur Rex.
Bemerkenswert ist das enge Band, das Melancholie und Perfektion umschließt. Gwalchmai hat im ritterlichen Kampf gegen Trystan oder Lawnslot, die so untröstlichen wie perfekten Vertreter ihres Standes, keine Chance, von Cei ganz zu schweigen. Schon weit vor der Zeit der Ritter sah Theophrast die Melancholie eng mit der Genialität verknüpft, und ein Reim wird in jedem Fall daraus, wenn ein Dichter sich der Angelegenheit annimmt. Auch Ijoma Mangold, der Verfasser des Aufsatzes, stellt fest: Die einzige Form, die, anders als die Form der Figuren, als ein kontrafaktisches Trotzdem nicht zerbricht, ist die des Sebaldschen Erzählens. Und er fährt fort: Sebald ist der Dichter der Untröstlichkeit, seine Literatur ein Requiem, die Toten sind seine wahren Adressaten. In der Summe also erbarmungslose Obsession, mörderisches Jahrhundert, Untröstlichkeit, Requiem für die Toten: da fragt sich, wie Sebald, wenn auch weit von Bestsellerzahlen entfernt, dann doch die nicht geringe Zahl von Lesern auch außerhalb des Lagers der Hardcoremasochisten finden konnte, die er gefunden hat, anders gefragt, worin besteht das Besondere dieses Erzählens, das die Lektüre ungeachtet der andauernden Beschreibung des Unglücks so verlockend macht?

Thomas Berger bewahrt in Arthur Rex die schwermütigen Ritter der Tafelrunde, ebenso wie die robusteren, vor dem Spott der Neuzeit, indem er sie selbst diesem Spott in recht hochdosierter Form aussetzt und sie, denen seine Bewunderung und seine Liebe gilt, damit immunisiert. Ist das bei Sebald ganz anders, unterläuft er nicht seinerseits die Melancholie, ist nicht auch bei ihm der schwermütige Blick immer mit einem Lächeln versehen? Der erste Schwermütige, der Selysses als Kind in der Ortschaft W. begegnet, ist der Dr. Rambousek. Seine verhangenen, fremdländisch wirkenden und wohl am besten mit dem Wort levantinisch zu bezeichnenden Gesichtszüge, die allzeit über seine großen dunklen Augen zur Hälfte gesenkten Lider, und sein ganzer irgendwie abgewandter Habitus ließen wenig Zweifel daran, daß er zu den von Haus aus Untröstlichen gerechnet werden mußte. Die schwarze Tinte der Melancholie kann sich aber nicht über das ganze Blatt ergießen, da Rambousek unmittelbar seinem sicher schon auf die Siebzig zugehenden Kollegen Dr. Piazolo kontrastiert wird. Den sah man zu jeder Tages- und Abendstunde auf seiner Zündapp im Dorf herum oder bergauf und bergab zwischen den umliegenden Ortschaften hin und her fahren. Winters wie sommers trug der Dr. Piazolo, der in Notfällen ohne weiteres auch Veterinärgeschäfte zu übernehmen bereit war und der offenbar den Vorsatz gefaßt hatte, im Sattel zu sterben, eine Fliegerhaube mit Ohrenklappen, eine ungeheure Motorradbrille, eine lederne Montur und lederne Gamaschen. Piazolo wiederum hatte einen Doppelgänger oder Schattenreiter in dem gleichfalls nicht mehr zu den Jüngsten zählenden Pfarrer Wurmser, der seine Versehgänge auch die längste Zeit schon mit dem Motorrad machte, wobei er das Versehgerät, das Salböl, das Weihwasser, das Salz, ein kleines silbernes Kruzifix sowie das Allerheiligste Sakrament in einem alten Rucksack mit sich führte, der dem des Dr. Piazolo bis aufs Haar glich: Ein Rauhreitergespann, das besser in die wüste Zeit des Uthr Bendragon als in die geläuterte und melancholiegeneigte Zeit des Brenin Arthur gepaßt hätte.

Sie gleiche, zwischen ihren Papieren, dem bewegungslos unter den Werkzeugen der Zerstörung verharrenden Engel der Dürerschen Melancholie, läßt Selysses Janine Rosalind Dakyns wissen, die Papierlandschaft in ihrem Arbeitszimmer aber hatte er zuvor mit Zuneigung und liebevollem Spott beschrieben, auch der Teppich war seit langem schon unter mehreren Lagen Papier verschwunden, ja das Papier hatte angefangen, vom Boden, auf den es fortwährend aus halber Höhe hinabsank, wieder die Wände emporzusteigen. Nicht zuletzt aber trifft der gutmütige Spott den melancholischen Erzähler selbst, Selysses also. Um über eine besonders ungute Zeit der Schwermut hinwegzukommen, begibt er sich auf eine seltsame Queste nach Oberitalien. Seine Niederlagen erlebt er in Hotels und Restaurants: Einerseits bin ich zu wählerisch und gehe stundenlang durch die Straßen und Gassen, ehe ich mich entscheiden kann; andererseits gerate ich zuletzt meistens wahllos einfach irgendwo hinein und verzehre dort in trostloser Umgebung und unter Unbehagen ein mir in keiner Weise zusagendes Gericht. Die Siege liegen auf der gleichen Ebene: In der Goldenen Taube war wider alles Erwarten ein ihm in jeder Hinsicht aufs beste zusagendes Zimmer zu haben und er sieht sich, daran gewöhnt zumeist schlecht bedient zu werden, mit der ausgesuchtesten Zuvorkommenheit behandelt. Die Nachtruhe, die er unter dem Dach der Goldenen Taube genießt, grenzt, wie das anschließende, ihm als würdevoll in Erinnerung gebliebene Frühstück, ans Wunderbare. Im Bahnhofsbuffet Venedig wird ihm nach langem und schweren Kampf ein Cappuccino serviert, und einen Augenblick war ihm zumute, als hätte er mit dieser Auszeichnung den bisher bedeutendsten Sieg seines Lebens errungen. Aber auch einen wahren ritterlichen Dreikampf gilt es zu bestehen. Indem er sich auf dem Absatz drehend die Tasche von der Schulter schwang und in die beiden Angreifer hineinfahren ließ, gelang es ihm freizukommen und sich mit dem Rücken gegen einen der Pfeiler des Türbogens zu stellen. Nicht einmal das mit den melancholischen Rittern offenbar unlöslich verbundene ehebrecherische Motiv fehlt. Als er, die Bescheinigung in der Hand, mit Luciana wieder im Auto saß, war es ihm, als seien sie von dem Brigadiere getraut worden und könnten nun miteinander hinfahren, wo sie wollten.
Auch in den Ausgewanderten, in denen der Erzähler naturgemäß nicht in vergleichbarer Weise im Vordergrund steht, fehlt diese Tonlage nicht. In Manchester wird Selysses allein von dem außerordentlich sinnreichen mechanischen Gerät der Teas maid am Leben erhalten. Nach dem gescheiterten Versuch, sich in einen Hemingwayhelden zu verwandeln, verliert er den Glauben an Amerika und findet ihn wieder auf dem Highway. Die Überholvorgänge verliefen so langsam, daß man, während man Zoll für Zoll sich nach vorn schob oder zurückfiel, sozusagen zu einem Reisebekannten seines Spurnachbarn wurde. Beispielsweise befand ich mich einmal eine gute halbe Stunde in Begleitung einer Negerfamilie, deren Mitglieder mir durch verschiedene Zeichen und wiederholtes Herüberlächeln zu verstehen gaben, daß sie mich als eine Art Hausfreund bereits in ihr Herzgeschlossen hatten, und als sie an der Ausfahrt nach Hurleyville in einem weiten Bogen von mir sich trennten, da fühlte ich mich eine Zeitlang ziemlich allein und verlassen. Am Ende der Reise erweist sich das Hotel als ein von einem verwachsenen Portier bewachtes Zauberschloß, eine wunderbare Mahagonistiege vermittelte das Gefühl, als schwebe man gleichsam hinauf. Öffnete man eines der hohen Fenster des geräumigen Zimmers, so schaute man mitten hinein in den wogenden Schatten einer aus Tiefe heraufragenden Zypresse. Das beständige Rauschen rührte aber nicht von dem Wind in den in den Bäumen, sondern von den in geringer Entfernung niedergehenden Ithaca Falls.

Es kann keine Rede sein von ufer- und freudloser Schwermut, von Grauen allenthalben, von einem Gespräch nur mit den Toten. Wer, vom Zufall geleitet, die Sebaldlektüre in Andromeda Lodge beginnen sollte, wird glauben, er sei unvermittelt in den dritten Teil der Divina Commedia geraten. Gottfried Keller im Auge spricht Sebald von einer Prosa, die bedingungslos allem Lebendigen zugetan ist, die ihre staunenswertesten Höhepunkte gerade dort erreicht, wo sie an den Rändern der Ewigkeit entlangführt. Wer sich dahinbewegt auf ihrer schönen, Satz für Satz vor uns aufgerollten Bahn, der spürt immer wieder mit Erschauern, wie abgrundtief es zu beiden Seiten hinuntergeht, wie das Tageslicht manchmal schon schwindet vor den weit draußen hereinziehenden Schatten und oft schon erlischt unter dem Anhauch des Todes. Die schöne Bahn der Sätze zum Begehen entlang den Rändern der Ewigkeit, zur Linken das frohe Leben, zur Rechten der schwarze Tod - das trifft auf beide, Keller und Sebald, zu, bei Sebald sieht man vielleicht die hereinziehenden Schatten vor allem anderen, sie können uns aber nicht die allem Lebendigen zugetane Weise verdecken. Es fragt sich, ob es überhaupt lohnt, Bücher zu lesen, die dieser Beschreibung nicht auf die eine oder andere Weise entsprechen, vorzugsweise aber in der Gestalt der Perfektion.