Sonntag, 14. Juli 2019

Schöpfung

Trennung der Geschlechter

Auch das Unglück der Heiligen ist ihr Geschlecht, ist die furchtbare Trennung der Geschlechter.  - Eine maßgebliche Auslegung dieser Sentenz findet sich im Diné Bahane‘, dem Schöpfungsbericht der Diné oder Navajo, der erst in jüngerer Zeit aufgezeichnet wurde, da religiöse Bedenken gegenüber der Verschriftlichung bestanden. Man kam überein, daß eine Aufzeichnung in der Navajosprache unter keinen Umständen in Betracht kommt, andererseits aber eine englische Aufzeichnung wegen der Nichtigkeit dieses Idioms nicht schaden könne. In der Urzeit der Diné war es zu einem nicht zu schlichtenden Streit zwischen Männern und Frauen gekommen, der zu einer räumlichen Trennung der Geschlechter führte, die Frauen auf der einen Seite des Flusses, die Männer auf der anderen Seite. Die Situation führte bald zu immer rüder werdenden Mastur- bationstechniken, die bei den Männern folgenlos blieben, am Ufer der Frauen dagegen zu Monstergeburten führten. In der Not rückten Männer und Frauen wieder zusammen, die Monster aber waren da und riefen Naayéé'neizghání, den Drachentöter und heiligen Georg der Navajo auf den Plan, der mit Hilfe seines Bruders bald für reinen Tisch und klare Verhältnisse sorgte. Fortan herrschte Frieden im schönen Diné Bikéyah, dem Navajoland, jedenfalls bis die Bilagáana, die Weißen, kamen. Ja, so könnte es abgelaufen sein bei der Erschaffung der Welt.

Wieder einmal hatten Frauen die Menschheit an den Rand des Verderbens geführt und Männer haben sie gerettet. An oberster Stelle des Navajo-Olymps stoßen wir desungeachtet auf eine Frau, Asdząą Nádleehé, im englischen Idiom Changing Woman, eine Heilige, die an Bedeutung noch die heilige Jungfrau der katholischen Mythologie überragt. Aus der Sicht des modernen Feminismus ist freilich auch die Mutter Gottes keineswegs unumstritten, zu Asdząą Nádleehé liegen entsprechende Daten nicht vor.

Freitag, 12. Juli 2019

Reich der Ruhe

Laura

Während die Tochter Laura Mandel für die Revolution war, war dem Vater, der seit langem am Plan eines Reichs arbeite, in dem nie etwas sich ereigne, so Luise Aurach geb. Lanzberg, die Worte Lauras wiedergebend, nichts so verhaßt wie Unternehmungen, Entwicklungen, Geschehnisse, Veränderungen und Vorfälle jedweder Art. Manche, und das mögen unter anderen die meisten Bewohner des Prosawerks sein, könnten Interesse verspüren an dem utopischen Reich der Ruhe und würden gern Genaueres erfahren. Unternehmungen, Entwicklungen, Geschehnisse, Veränderungen, Vorfälle: sind das separate Bezirke oder Synonyme für ein und dasselbe, nämlich dafür, daß sich etwas tut, was sich besser nicht tun sollte, eine Absage an Events jeglicher Art und gleichsam die Beschwörung des Nichts, die Beschwörung eines bürgerlichen Nirvanas. Aufzeichnungen Mandels, auf die zur weiteren Klärung zurückgegriffen werden könnte, sind offenbar nicht verfügbar, womöglich auch gar nicht vorhanden. Was ist mit den ausdifferenzierten gesellschaftlichen Bereichen, die sich in den ministeriellen Ressorts spiegeln, Wirtschaft, Landesverteidigung und andere? Ein Zurück von dem erreichten Stand der gesellschaftlichen Entwicklung ist nicht möglich, wohl aber eine dem neuen Reichsverständnis angepaßte Umformung. Die leitenden Posten sind nur mit Personen zu besetzen, die die Philosophie des neuen Reiches verinnerlicht und sich zu eigen gemacht haben als Athleten der Untätigkeit. Lernen könnte man diesbezüglich von einigen afrikanischen Staaten, in deren Ministerien und nachgeordneten Ämtern, wie man liest, oft auch zur besten Zeit kein einziger Mensch anzutreffen ist. Austerlitz hatte im Afrika eng verbundenen Belgien, und zwar im Brüsseler Justizpalast, ganz ähnliche Erfahrungen gemacht, kein Verantwortlicher, kein Mensch weit und breit. Vielleicht aber laufen unsere Hoffnungen ins Leere und die revolutionär gestimmte Laura hat die Worte ihres Vaters, dem fernab von umstürzlerischen Reichsplänen ausschließlich an seiner eigenen Ruhe gelegen war, nur karikiert und spöttisch überhöht.

Dienstag, 9. Juli 2019

Revolutionäre

Generationskonflikt

Von Generationskonflikten wird kaum berichtet, die Erwachsenen, Austerlitz, Bereyter, Aurach &c. blicken auf eine glückliche Kindheit zurück, die von außen her abgebrochen und gleichsam versiegelt wurde, bevor es auch nur zu Mißtönen hätte kommen können. Austerlitz' Schwierigkeiten mit seinen Adoptiveltern in Wales lassen sich nicht als Generationskonfkikt deuten. Adelwarths Kindheit, die eigentlich gar keine war, verlief unter so kargen Bedingungen, daß für Konflikte kein Platz war. Luise Lanzberg, Aurachs Mutter, berichtet in ihren Aufzeichnungen von einem Herrn Mandel, der seit langem am Plan eines Reichs arbeite, in dem nie etwas sich ereigne, denn nichts war ihm so verhaßt wie Unternehmungen, Entwicklungen, Geschehnisse, Veränderungen und Vorfälle jedweder Art. Seine Tochter Laura hingegen war für die Revolution. Auch die Überlegungen des Vaters aber und die von ihm entworfene Gesellschaftsvision lassen sich durchaus als revolutionär einordnen, gern würde man mehr über Planung und Gestalt seines Sonnenstaates erfahren. Daß es aufgrund der unterschiedlichen Revolutionsbegriffe zu Spannungen zwischen Vater und Tochter gekommen wäre, davon ist nicht die Rede. Im übrigen wird der Revolutionsbegriff der Tochter nicht näher erläutert.

Kosmopoliten

Nicht allein

Die Katzen waren zurückgelaufen und, trotzdem der Vater extra noch einmal nach Steinach fuhr, nirgends mehr aufzufinden, berichtet Luise Landsberg in ihren Aufzeichnungen. Die Katze kann eindeutig nicht Vorbild für Kosmopoliten und Auswanderer sein, eher schon der Polarfuchs. Vor einigen Tagen erst wurde von einer Polarfüchsin berichtet, die innerhalb von sechsundsiebzig Tagen von Spitzbergen bis nach Kanada gewandert war. Tausende Kilometer hatte sie zurückgelegt, manchmal über hundert am Tag. Ob sie in Kanada glücklich geworden oder inzwischen wieder den Rückweg angetreten hat, darüber gibt es bislang keine Nachrichten. Für die Meerestiere ist die Grenzenlosigkeit sozusagen Gebot, und doch wandern die Lachse nach wenigen Jahren der ozeanischen Existenz zurück zu den Laichgründen in den Flüssen ihrer Geburt und Jugend, um dann nach der Eiablage in großer Mehrzahl in ihrer Süßwasserheimat zu sterben. Der Mensch ist nicht allein mit seinen Wegen und Irrwegen in Zeit und Raum.

Montag, 8. Juli 2019

Tausende von Irren

Zweite Welt

Dichter und Erzähler haben Homer zum Stammvater und sprechen daher weiterhin von Blinden und nicht von visuell Herausgeforderten. Wer sehr leicht den Verstand verlieren und aus dem Leben sich hätte entfernen können, spricht weiter von Irren. Wenn der Dichter darauf besteht, in Brüssel eine Unzahl von Irren und Buckligen gesehen zu haben, ist das wohl einerseits ein phantasiertes Sühnezeichen für die belgischen Greuel im Kongo, von denen zuvor berichtet wurde, und zum anderen vielleicht auch eine Metapher für den Zustand des sogenannten europäischen Projekts, so wie er es sieht. An anderer Stelle beklagt er die rückläufige Zahl der Buckligen, von denen es früher in jedem Dorf zumindest einen gegeben habe, und rühmt zugleich ihre Fertigkeiten. In Rhode-Saint-Genèse hatte er einmal einem verwachsenen, von spastischen Zuckungen geschütteten Billardspieler zugesehen, der sich für ein paar Augenblicke in einen Zustand vollkommener Ruhe versetzen und dann mit unfehlbarer Sicherheit die schwierigsten Karambolagen bewältigen konnte. An anderer Stelle, auf Korsika, hatte er nach einer schnellen Fahrt im Mietwagen das Hotel erreicht, der Bucklige aber, den er im Flugzeug gesehen und der länger noch am Gepäckförderband hatte warten müssen, war zu seinem nicht geringen Erstaunen dort bereits eingetroffen. Auch in den nächsten Tagen ist der Bucklige bei allen möglichen Gelegenheiten immer als erster da. Und dann die die krumme alte Frau, die vor geraumen Jahren in der Station Stowmarket zugestiegen war. Von der Bechterewschen Krankheit war sie so stark vornübergebeugt, daß sie von rückwärts aussah, als habe sie keinen Kopf. Obwohl sie nach ihm am Bahnhof Liverpool Street ausstieg, saß sie bereits vor ihm in der Circle Line. Auf dem Flug nach Wien saß sie neben ihm. Als er drei Tage später von Graz nach Schwechat zurückkam, war sie auch wieder da. Viel, dachte er, braucht es nicht zum Verrücktwerden.

In den Buckligen sieht der Dichter, so scheint es, verhexte, mit einer übernatürlichen Geschicklichkeit versehene Zauberwesen, und zugleich, begegnen sie ihm, wie auch in den Irren, als die letzten Menschen. Es dauerte nahezu eine Viertelstunde, bis er auf der anderen Seite des Karrees den ersten Menschen erblickte, eine vornübergebeugte Gestalt, die sich unendlich langsam an einem Stock voranbewegte und doch auf einmal verschwunden war. Sonst begegnete ihm den ganzen Morgen in den schnurgeraden Straßen von Terezín niemand außer einem Geistesgestörten in einem abgerissenen Anzug, wild fuchtelnd, ehe auch er, den Hundertkronenschein, den der Dichter ihm zugesteckt hatte, noch in der Hand, mitten im Davonspringen vom Erdboden verschluckt wurde. Ein Verwachsener und ein Irrer, die letzten Bewohner im Todesgelände, der relative Anteil der Buckligen und Irren ist hier weitaus höher als in Brüssel. Ist auch der der einsame kleine Knabe in Manchester, der in einem Wägelchen eine aus ausgestopften alten Sachen gemachte Gestalt bei sich hatte und der den Dichter, also wohl den einzigen Menschen, der damals in dieser Umgebung unterwegs gewesen ist, um einen Penny bat für seinen stummen Gesellen, bereits den Irren zuzurechnen?

Bei Frauen scheint das Irresein milder auszufallen. Kathinka Strauss, eine vielleicht vierzigjährige Jungfer, von der es hieß, sie sei nicht ganz richtig im Kopf, ging, wenn es das Wetter erlaubte, an einem offenbar nie fertig werdenden Strickzeug strickend auf dem Platz herum, je nach Laune entweder im oder gegen den Uhrzeigersinn. Dabei hatte sie, obschon sie sonst fast nichts ihr eigen nannte, immer die extravagantesten Hüte auf, einmal sogar einen mit einem Möwenflügel verzierten. Man dürfe ein Tier nicht töten, nur um sich mit seinen Federn zu schmücken, hatte der Lehrer Bein gesagt, und das muß eigentlich auch den nur mäßig Schwachsinnigen einleuchten. Die Mathild Seelos wiederum ist aus dem vorübergehend roten München in einem arg derangierten und fast sprachlosen Zustand nach Haus zurückgekehrt und hat dort für völlig hinterfür gegolten, nach kurzer Zeit aber hat sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden und sich in ihrer Eingezogenheit offensichtlich in zunehmendem Maße wohlgefühlt und etwas durchaus Heiteres an sich gehabt.

Der Dichter scheint die so oder so Behinderten zu scheuen und doch in großer Zahl anzulocken, insgeheim mag er den Verdacht haben, einer von ihnen zu sein oder doch zu werden. Im langen Gespräch mit Ernst Herbeck steht nicht der eine auf der einen und der andere auf der anderen Seite, die Übereinstimmung der Ansichten ist beeindruckend. Bald darauf sah man vom Wasser aus La Grazia mit einem runden panoptischen Bau, aus dessen Fenstern winkend, als befänden sie sich auf einem großen, davonfahrenden Schiff, Tausende von Irren herausschauten. Ein großes Fest!

Montag, 1. Juli 2019

Dante nel fuoco

Bei Feuertod

not with a bang but a whimper

Zwei mythische Gestalten halten die vier Teile der Schwindel.Gefühle zusammen, andere Motivstränge treten hinzu, Zahlen etwa, allen voran die Zahl Dreizehn, die wiederum mit dem Motiv des Feuers liiert ist. 1913 war ein besonderes Jahr, wie eine Natter durchs Gras lief der Funken die Zündschnur entlang. Die Schwindel.Gefühle enden mit der Schilderung des Brandes von London in Anlehnung an Samuel Pepys‘ Tagebuchaufzeichnungen und sie enden letztendlich mit der Angabe: -2013 – Ende, was immer mit Ende gemeint sein mag. Keineswegs aber ist das Feuermotiv durchweg mit dem der Zahlen verknüpft. Eine Einführung in das vulkanische Feuer hatte der Erzähler zu unbestimmter Jahreszahl schon als Kind anhand der Ansichtskartensammlung der Regina Zobel erhalten, die Karte mit dem rauchenden Kegel des Vesuvs war auf ungeklärte Weise sogar in seinen eigenen Besitz gelangt. Das tiefste Geheimnis des Feuers aber verrät ihm später der Venezianer Malachio: brucia continuamente, es brennt fortwährend, bis zum Ende der Tage.

Einmal, in der Gonzagagasse, glaubte er, den bei Feuertod aus seiner Heimatstadt verbannten Dichter Dante zu erkennen. Bei Feuertod: Auch unter Berücksichtigung der kynischen, dem scheinbar, aber nur scheinbar willkürlichen Lauf des Hundes folgenden Schreibweise des Dichters ist ein unkontrolliertes Eindringen des Feuermotives an dieser Stelle auszuschließen. Dante hätte als Experte des gewaltigen Höllenfeuers auftreten können, das Feuermotiv sollte aber nicht mit einem Paukenschlag eröffnet werden. Es endet mit gewaltiger Explosion, das Pulverhaus fliegt auf, die Menschen fliehen auf das Wasser, um sie der Widerschein, und vor dem tiefen Himmelsdunkel in einem Bogen hügelan die ausgezackte Feuerwand bald eine Meile breit. Begonnen hat es mit der im Vorübergehen nur kurz angedeuteten und nicht verwirklichen Drohung des Feuertodes, im Textfluß wahrnehmbar nur mit feinen Vibrissen und gleich wieder vergessen, langsam nur und nicht gleichmäßig wächst und gedeiht das Feuermotiv.

Agamben fragt: Kann uns eine Erzählung befriedigen, die jeden Bezug zum Feuer verloren hat? Die Frage muß an diesem Erzählort nicht beantwortet werden.