Donnerstag, 18. September 2008

Land & Wasser

Entfaltung und Einfaltung in Lyrik und Prosa

Im Nachwort zum aus dem Nachlaß herausgegebenen Lyrikband Über das Land und das Wasser zitiert der Herausgeber Sebald mit den Worten: Mein Medium ist die Prosa – und schränkt das mit Hinweis auf die fortgesetzte lyrische Produktion des Autors ein. Man mag darin zunächst Marketing für das Buch und allenfalls an zweiter Stelle einen Dissens zwischen Autor und Herausgeber sehen. Jedenfalls wird, wer den Prosadichter Sebald liebt und sich auf dem Boden der Lyrik generell unsicher fühlt, gern der Selbsteinschätzung des Autors folgen. Er wird dem Herausgeber dann auch großzügig nachsehen, daß er nicht mit offenen und obendrein mit gezinkten Karten spielt, das vollständige Zitat lautet nämlich: Mein Medium ist die Prosa und nicht der Roman – ein Unterschied, den zu betonen Sebald allen Anlaß hatte. Prosa ist also gar nicht der Lyrik konfrontiert, die Idee, sie, die Lyrik, könne sein endgültiges Medium sein, lag Sebald wohl eher fern. An dieser Stelle soll jedenfalls keine nähere Beschäftigung mit der Lyrik stattfinden, es sollen nur einige Reflexe ins Auge gefaßt werden, die entstehen, wenn man die Lyrik auf die Prosa projiziert.

In der angelsächsischen Kritik ist Sebald als easy read charakterisiert worden. In der Tat gibt es kaum einen zeitgenössischen Autor, der sich vergleichbar, wie es scheint, um eine ganz und gar klare und ungetrübt durchsichtige Prosaoberfläche bemüht wie Sebald. Immer wird noch ein zusätzliches klarstellendes Wort eingefügt, noch ein weiterer erläuternder Halbsatz aufgeklappt. Die Klarheit der Oberfläche zieht aber sichtbar-unsichtbar das ganze vielgestaltige Dunkel der Welt hinter sich her. Man könnte glauben, Sebald habe erst mit der Veröffentlichung künstlerischer Prosa begonnen, als dieses Prosaideal für ihn feststand und auch erreichbar war. Der Einsatz fand mit den Schwindel.Gefühlen denn auch gleich auf dem höchsten, nicht mehr zu übertreffenden, sondern nur noch zu variierenden Niveau statt. Wie verhält sich dazu die Lyrik.

Das erste Gedicht in dem Band lautet:

Schwer zu verstehen
ist nämlich die Landschaft,
wenn du im D-Zug von dahin
nach dorthin vorbeifährst,
währen sie stumm
dein Verschwinden betrachtet.

Weder entfaltet noch eingefaltet, ein Augenblick der Evidenz mit einer durchaus durchsichtigen Bedeutungsschicht überzogen, die aber, wie die spätere Prosa, das Dunkel der Unverständlichkeit im Nacken hat (Schwer zu verstehen...). Der knappe Vers enthält mit dem Reisen ein Generalthema der Prosa, und auch die Inversion, die den Blick vom Leblosen auf das Belebte lenkt, wird zum Prosathema: Was mich beunruhigte war die an sich unsinnige Vorstellung, daß die durch diese Verschuppung ihrer Oberfläche gewissermaßen ans Lebendige heranreichende gußeiserne Säule sich erinnerte an mich (AUS 319/320).

Einige Gedichte weiter (LW 10):

Versiegelt die Absicht
bewahrter Zeichen.
Durch Regen gereist
verwischt die Adresse.
Vermute das „Wiederkehr“
am Ende des Briefes!
Zuweilen gegen das Licht
erscheint: „der Seele“.

Eine Annäherung an das vermutete Prosaideal der Oberflächenklarheit hat auf den wenigen Seiten, die zwischen den beiden Gedichten liegen, nicht stattgefunden, die Sprache ist deutlich nicht entfaltend, sondern eingerollt, verrätselt.

Ganz anders sieht es aus bei der späten, parallel zur Prosaproduktion, man kann vermuten: zur Entspannung entstandenen Lyrik aus. Ein besonders ansprechendes Beispiel ist die auf das 1999 datierte Marienbader Elegie. Es ist eine Schriftstellervignette ähnlich der Rousseaus im Landhaus, Stendhals und Kafkas in den Schwindel.Gefühlen oder Chateaubriands und Swinburnes in den Ringen des Saturn. Es ist die gleiche Mischung kollegialer Nähe zu Mitgliedern der Glücks- und Leidensgemeinschaft der Schreibenden, äußerster Dezenz der Annäherung, aber auch einer leicht spöttischer Distanz, die freilich umfassend auf die seltsamen Handwerke des Schreibens, des Lebens und des Liebens zielt und insofern selbstreflexiv den Autor selbst bewusst immer mit einbezieht. Noch weitergehend sind auch wir einbezogen, denn stilistisch sind wir alle als Teilnehmer einer Comédie Humaine verstanden. Dabei ergibt sich speziell an dieser Stelle zusätzlich Entlastung für alle, die dem Mittelteil der Trilogie der Leidenschaft nicht ohne ein gewisses hilfloses Stirnrunzeln gegenüberstehen:


Mir aber wollte es
nicht recht gefallen
dies herrliche Geflecht
verschlungener Minnen.

....Ein
Faksimile davon habe
Ich heute gesehen im Museum
Von Marienbad nebst
ein paar anderen Sachen

die mir viel näher
gingen & unter denen
eine Dochtschere gewesen
ist & ein Siegellacksatz,
ein Ablegeschälchen aus
Papiermaché & eine Feder-
zeichnung Ulrikes...

Wenn das Gedicht insgesamt als eine Wortwelterinnerungen zu charakterisieren ist, so gleitet es dann hin zu den aus den stummen Dingen des ANTIKOS BAZAR, auf den Selysses allenthalben stößt und aus denen sein Blick die tieferliegenden Erinnerungen der Wortlosigkeit löst. Man kann mutmaßen, daß in einem parallelen Prosatext die Entfaltungen noch über tausend Blütenblätter weiter gegangen wären. Die Nagelprobe ist möglich an zwei Gedichten, zu denen es eine derartige Prosavariante gibt. Dabei kann es natürliche nicht um absolute Maßstäbe gehen, da Lyrik ganz allgemein als eine einfaltende und Prosa demgegenüber als ein entfaltende Literaturform zu kennzeichnen wäre. Das Interesse zielt vielmehr auf das Verhältnis einer nur schwach einfaltenden, eigentlich schon entfaltenden Lyrik zu einer extrem entfaltenden Prosa.

Viele der Gedichte sind offenbar auf Reisen entstanden, einige von den späteren offenbar auf Reisen, die zu Prosazwecken unternommen wurden. Die Entstehung der Marienbader Elegie möchte man einer Reise in die Tschechei zuordnen, die für das Austerlitzbuch notwendig war. Man stellt sich den Dichter einsam in einem Hotelzimmer vor, wie er versucht, die rastlos sich bewegenden, noch nicht in Prosaform gebrachten Stoffmengen, die ihm den Schlaf rauben, durch das Gedicht zum Schweigen zu bringen, eine persönliche Mentalhygiene also. Der Beginn des Gedichtes In Bamberg:

In Bamberg
liege ich schlaflos
in einem steinernen
Haus (76)

scheint diese Phantasie zu bestätigen.

Das Gedicht New Jersey Journey (60) verarbeitet in der angenommenen Art Material der Erzählung Ambros Adelwarth:

Eine zerdehnte Katastrophe
der Strom des Verkehrs
Überholvorgänge die eine Ewigkeit
währen todessüchtige Blickwechsel
mit den wildfremden Menschen
auf der anderen Spur

Im Prosatext ist die Todessehnsucht verschwunden, und es wird daraus eine der bei Sebald gar nicht seltenen Stellen, wo die Klarheit der Prosa vor einem semantisch hellen, geradezu spaßigen Hintergrund steht, hier umso schöner, als die Helligkeit von dunklen Menschen ausgeht: Die Überholvorgänge verliefen so langsam, daß man, während man Zoll für Zoll sich nach vorn schob oder zurückfiel, sozusagen zu einem Reisebekannten seines Spurnachbarn wurde. Beispielsweise befand ich mich einmal eine gute halbe Stunde in Begleitung einer Negerfamilie, deren Mitglieder mir durch verschiedene Zeichen und wiederholtes Herüberlächeln zu verstehen gaben, daß sie mich als eine Art Hausfreund bereits in ihr Herzgeschlossen hatten, und als sie an der Ausfahrt nach Hurleyville in einem weiten Bogen von mir sich trennten, da fühlte ich mich eine Zeitlang ziemlich allein und verlassen (AW 154). Das Überholen, auf deutschen Autobahnen, wenn es nach dem Willen und der Absicht der Verkehrsteilnehmer geht, eine Sache von Sekundenbruchteilen, hier fast in den Stundenbereich gedehnt: ganz offenbar ein gefundenes Fressen für Sebalds Entfaltungskunst, mit dem knappen Aufklappen in der Gedichtform konnte er noch längst nicht zufrieden sein.

Die Überholszene ist in der Erzählung in die Fahrt nach Ithaca New York verlegt, die weiteren Szenen des Gedichts verbleiben auch in der Prosaspiegelung in New Jersey. Dem Gedicht entsprechen in der Erzählung im wesentlichen die Seiten 104 bis 130.

Getrieben von der Sehnsucht
nach den Brüdern der grauen Vorzeit
erhebt sich aus dem Flughafen Newark
ein Jumbo über Lagunen und Sümpfe
über ein rauchendes
Riesengebirge aus Müll
und die ungezählten Lichter der Raffinerien

Gleich außerhalb des Flughafengeländes wäre ich um ein Haar von der Straße abgekommen, als ich über einem dort aufgeworfenen wahren Riesengebirge aus Müll einen Jumbo wie ein Untier aus ferner Vorzeit schwerfällig in die Luft sich erheben sah. Er zog einen schwarzgrauen Rauchschleier hinter sich her, und einen Augenblick lang war mir, als habe er die Schwingen bewegt (AW 105).

Die Entfaltung geht weniger in den Umfang, als daß, wie schon beim Überholvorgang, eine Veränderung der Tonlage ins Entspannte, Freundlichere, fast Heitere stattfindet. Mit dem Beinaheunfall (wie dürfen uns von Sebalds schlimmen persönlichem Schicksal nicht in der literarischen Wahrnehmung beirren lassen) wird ein wenn auch nur leichter Slapstickeffekt erzielt. Schon in Verona, auf dem Corso Cavour, wäre Selysses fast dem Verkehr zum Opfer gefallen, als er einem herrenlosen Hund nachschaut (SG 139). Sebalds Humor ist längst nicht so deadpan wie der Buster Keatons, den niemand jemals hat lachen sehen, für viele aber anscheinend unsichtbar.

Krüppelholz meilenweit
Telegraphenstangen Blaubeerfelder
eine sibirische Gegend
kolonisiert und verwildert
totgesagte Supermärkte
aufgelassene Hühnerfarmen
durchgeistert von Abermillionen
von Frühstückseiern
bergend die unentzifferten Seufzer
einer ganzen Nation

Den ganzen Garden State Parkway entlang gab es nichts als Krüppelholz, verwachsenes Heidekraut und von ihren Bewohnern verlassene, teils mit Brettern vernagelte Holzhäuser, umgeben von verfallenen Gehegen und Hütten, in denen, wie der Onkel Kasimir mir später erklärte, bis in die Nachkriegszeit hinein Millionen von Hühnern gehalten wurden, die unvorstellbare Abermillionen von Eiern legten für den Markt von New York, bis neue Methoden der Hühnerhaltung das Geschäft unrentabel machten und die Kleinhäusler samt ihrem Federvieh verschwanden (AW 105).

Hier ist die räumliche Entfaltung wieder deutlicher, vor allem eignet sich der sozusagen de profundis hervorgestoßene lyrische Text erneut als Kontrastmittel, um zu zeigen, wie sehr der Erzähltext durch eine zwischengeschobene Erzählerinstanz, durch das zeitliche Nachschieben der Erklärung, durch ein wenig niedliche Vokabeln wie Kleinhäusler oder Federvieh auf Distanz und freundliche Verträglichkeit gebracht wurde.

Die im Gedicht festgehaltene Episode des Besuchs beim Onkel Kasimir und der Tante Lina gibt in der Erzählung nur den Rahmen ab für Gespräche über den Titelhelden Ambros Adelwarth, die Erzählung entfaltete sich insofern über lange Strecken in eine Richtung, für die die Projektion auf das Gedicht nicht ergiebig ist, Gedicht und Erzählung treffen sich dann abererneut:

Schnaps trinkend
erzählte er mir später
von der Eroberung New Yorks
Schnaps trinkend überlege ich
die Verzweigung unseres Unglücks
und die Bedeutung des Bildes
das ihn meinen Onkel
als Spenglergesellen im 23erjahr
auf dem neuen Kupferdach
der Augsburger Synagoge zeigt
was waren das für Zeiten

Der Onkel hatte zwei Gläser hervorgeholt und schenkte den Enzian ein, den ich mitgebracht hatte. In Deutschland sei er auf keinen grünen Zweig gekommen. Nur ein einziges Mal habe er, wie er mit der Spenglerlehre in Altenstadt fertig war, eine Arbeit gehabt, anno 28, als ein neues Kupferdach auf die Augsburger Synagoge gemacht worden sei. Das hier bin ich, sagte der Onkel Kasimir, indem er eine postkartengroße gerahmte Fotographie, die er von der Wand genommen hatte, mir über den Tisch zuschob.... (AW 117).

Anderntags fahren wir hinunter ans Meer
Seaside Park Avenue um zwölf Uhr mittags
menschleer die hölzernen side-walks
verbarrikadierte Stehrestaurants
im alpenländischen Stil Sommerhäuser
in denen die Zugluft umgeht
Segelboote klappernd vor Kälte
Dünen unterwandern die Stadt

Vor den haushohen braunen Wellen
des Ozeans macht der Onkel
vornübergebeugt in den Wind
mit seinem Polaroidapparat
noch ein Bild von mir

Die Straßen waren leer. Wir brauchten für die zwanzig Meilen bis an den Atlantik hinunter bald eine Stunde, weil der Onkel Kasimir so langsam fuhr, wie ich auf einer freien Strecke noch nie habe jemand fahren sehen. Im Hafen lagen dicht wie eine verängstigte Herde aneinandergedrängte Segelboote mit scheppernden Takelwerk. Der Buyright Store, der Pizza Parlour und der Hamburger Haven und auch die Wohnhäuser waren versperrt und hatten die Läden herabgelassen. I often come out here, sagte der Onkel Kasimir, it makes me feel that I am a long way away, though I never quite know from where. Dann holte er seine Kamera aus seinem großkarierten Überzieher heraus und machte diese Aufnahme, von der er mir zwei Jahre später einen Abzug schickte zusammen mit seiner goldenen Taschenuhr (AW 129f).

Das Motiv der extrem langsamen Fahrzeugbewegung, diesmal nicht relativ beim Überholen, sondern absolut, ist ein zweites Mal genutzt, wieder fühlt man sich in der Prosa, anders als im Gedicht, behütend bei der Hand genommen. Das Gedicht wirkt schon optisch so, als stände es in einem harten Wind, der von Osten in es einschlägt, in der Prosa bewegen wir uns hinter unsichtbaren schützenden Wällen.

Wenn schon die Marienbader Elegie als Nebenprodukt einer Prosaerkundungsreise gedeutet wurde, so gilt das umso mehr für Das vorvergangene Jahr (LW 65). Dem Gedicht entspricht eine konkrete Erzählstrecke im Austerlitzbuch (AUS 298ff). Der Lyrik/Prosakontrastbefund ist dem Wesen nach ähnlich wie bei der New Jersey Reise, aus einem Motorradfahrerfahrer im Gedicht werden zwei in der Erzählung, den vier Seiten Lyrik, allenfalls halbe Zeilen, werden zehn Seiten Prosa, dem kann im einzelnen nicht nachgegangen werden. Der Titel des Gedichtes ähnelt dem des bekannten Films Letztes Jahr in Marienbad. Dem könnte aber nur nachgehen, wer den bekannten Film auch kennt.

Das in den Gedichten durchgängig verwendete Zeichen & möchte man, weil man es nicht besser weiß, als eine Besonderheit des lyrischen Sebald verstehen, tatsächlich handelt es sich aber, wie dem Marbacher Katalog Wandernde Schatten zu entnehmen ist, um eine übliche Handschriftengewohnheit des Dichters, die bei der Veröffentlichung der Prosatexte dann aufgehoben wurde. Bei den Gedichten hat man davon abgesehen, Rücksprache mit dem Dichter war nicht mehr möglich. Es ist zweifellos ein anmutiges Zeichen, fast schon, als sei es dem kartwelischen Alphabet entlehnt.

Vorfahren

Kalender, Atlanten, Trödel und Aschenregen

Der Blick von der Milchstraße herab auf die öde
und schwarz im Weltall sich drehende, ausgebrannte
Ruine der Erde könnte fremder nicht sein, und doch
liegt die Kindheit, die wir auf ihr verbrachten,
kaum weiter zurück als der gestrige Tag.

Sebald nimmt Logis in einem Landhaus und lädt sich Freunde und Vorfahren ein. Im Gespräch mit ihnen offenbart er mehr über den gedanklichen und biographischen Hintergrund seiner Erzählkunst als an anderen Orten. Hebel wird als Kalendermacher eingeführt und sogleich wird erläutert, der eigene Großvater, dessen Sprachgebrauch in vielem an den des Hausfreunds erinnerte, habe die Gewohnheit gehabt, auf jeden Jahreswechsel einen Kemptner Calender zu kaufen, in welchem er dann die Namensfeste seiner Verwandten und Freunde, den ersten Frost, den ersten Schneefall, den Einbruch des Föhns, Gewitter, Hagelschlag und ähnliches mehr mit dem Tintenblei vermerkte (LL 13f). Der Kalender des Großvaters bringt eine verlässliche Ordnung in die Welt, ähnlich wie auf dem höheren Niveau derjenige Hebels: Dem blind und taub sich fortwälzenden Prozeß der Geschichte hält er Begebenheiten entgegen, in denen ausgestandenes Unglück entgolten wird, auf jeden Feldzug folgt ein Friedensschluß, jedes Rätsel, das uns aufgegeben wird, hat eine Lösung, und in dem Buch der Natur, das Hebel vor uns aufschlägt können wir studieren, daß selbst die kuriosesten Kreaturen, wie zum Beispiel die Prozeßspinner und die fliegenden Fische ihren Platz haben in der aufs sorgfältigste austarierten Ordnung (LL 17).

Was einen weiteren Gast im Landhaus, Robert Walser, anbelangt, so erinnerte er mich unwillkürlich immer an meinen Großvater Josef Egelhofer, mit dem ich als Kind stundenlang oft durch eine dem Appenzell in vielem verwandte Gegend gewandelt bin (LL 135). Mit Jan Peter Tripp, auch er zu Gast im Landhaus, hat Sebald posthum den Band Unerzählt herausgebracht. Auf dem Einband findet sich ein Portrait, das Sebald mit Walser und also, wegen der Ähnlichkeit der beiden untereinander, zwangsläufig auch mit dem Großvater überblendet. Ein ähnliches Bild muß der Lukas Seelos vor Augen gehabt haben, denn natürlich sei es überhaupt nicht das Kind gewesen, an das ich ihn erinnert habe, sondern der Großvater, der denselben Gang gehabt habe wie ich und beim Herauskommen aus der Haustür gerade so wie ich zunächst stehengeblieben sei, um nach dem Wetter zu schauen (SG 229f).

Erzählerisch aufgegriffen wird der gedanklich-biographische Hintergrund am unmittelbarsten in den Schwindel.Gefühlen. Im Zug unterwegs nach Mailand holt Selysses den „Beredten Italiener heraus, ein im Jahre 1878 in Bern erschienenes Hülfsbuch für Alle, welche in der italienischen Sprache schnelle und sichere Fortschritte machen wollen. In diesem Büchlein ist alles aufs beste geordnet, so als setze die Welt sich tatsächlich bloß aus Wörtern zusammen, als wäre dadurch auch das Entsetzliche in Sicherheit gebracht, als gäbe es zu jedem Teil ein Gegenteil, zu jedem Bösen ein Gutes, zu jedem Verdruß eine Freude, zu jedem Unglück ein Glück und zu jeder Lüge auch ein Stück Wahrheit (SG 119). Auf schlichteste Weise also die gleiche Weltberuhigung, die vom Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreund ausgeht.

Im Café Alpenrose, wo der Großvater die Tanten Babett und Bina trifft, um mit ihnen Karten zu spielen, vertreibt sich der kleine Selysses währenddessen die Zeit mit einem alten Atlas und zumal mit dem Blatt, auf dem die größten Ströme und die höchsten Erhebungen der Erde ihrer Länge beziehungsweise ihrer Höhe nach angeordnet waren (SG 242). Auch hier also die große weite Welt auf engem Raum zusammengefaßt und ihrer Gefahren beraubt. Der gleiche Blickwinkel von einem festen, gesicherten Punkt, heiße er ruhig Heimat, in die Weite der Welt ergibt sich auch aus der in drei großen Folianten untergebrachten Ansichtskartensammlung der Engelwirtin, die sich der kleine Selysses oft stundenlang anschaute. Das gab im Verlauf der Zeit eine lange topographische Litanei aus Ortsnamen wie Chur, Bregenz, Innsbruck, Altausee, Hallstatt, Salzburg, Wien, Pilsen, Marienbad, Bad Kissingen, Würzburg, Bad Homburg und Frankfurt am Main. Auch italienische Karten gab es zahlreiche aus Meran, Bozen, Riva, Verona, Mailand, Verona, Mailand, Ferrara, Rom und Neapel. Eine davon (und die wollen wir uns besonders merken) zeigte den rauchenden Kegel des Vesuvs (SG 213f).

Ein weiterer bekannter Logisgast ist Gottfried Keller, bei ihm wird neben anderem die Sammlerleidenschaft hervorgehoben (LL 112), die ihn einerseits als barocken Poeten der Vergänglichkeit kennzeichnet, andererseits ist dem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wie ein Lauffeuer um sich greifenden Hochkapitalismus (LL 104) mit den verdämmernden Dingen, die aus dem Verkehr gezogen sind und ihren Warencharakter längst eingebüßt haben, ein Bild entgegengesetzt aus jener früheren Zeit, in der die Verhältnisse der Menschen zueinander noch nicht über Geld geregelt waren: Ein Bündel vergilbter Papiere mit Rezepten und Geheimnissen, ein Fläschchen mit Hoffmannstropfen, ein anderes mit Kölnischem Wasser und eine Buchse mit Moschus; eine andere, worin ein Endchen Maderdreck lag, und ein Körbchen aus wohlriechenden Palmen geflochten, sowie eines aus Perlen und Gewürznägeln zusammengesetzt. (LL 113). – Die Buchse mit Marderdreck scheint in ihrer Abseitigkeit auch für Sammlerkreise unmittelbar zu den sieben verschieden geformten, nicht mehr als zwei bis drei Zoll hohen Bakelitdosen zu leiten, von denen jede, wie es sich zeigte, den sterblichen Rest einer der hier in diesem Haus an das Ende ihres Lebens gekommenen Motten enthielt (AUS 241).


Zeugnisse der Sammlerleidenschaft sind zahlreich in Sebalds Erzählungen, am meisten Wirkung gezeigt hat der ANTIKOS BAZAR in Theresienstadt: Kristallene Schalen, Keramikvasen und irdene Krüge, ein blechernes Reklameschild, das die Aufschrift Theresienstädter Wasser trug, ein Seemuschelkästchen, eine Miniaturdrehorgel, die kugelförmiger Briefbeschwerer, in deren Glassphären wunderbare Meeresblüten schwebten, ein Schiffsmodell, eine Art Korvette unter geblähten Segeln, ein Trachtenkittel aus einem leichten helleinenen Sommerstoff, die Hirschhornknöpfe, eine überdimensionale russische Offiziersmütze und die dazugehörige olivgrüne Uniformjacke mit den goldenen Schulterstücken (AUS 283).

Daß der Erzähler sich in unmittelbarer Nähe des Ghettomuseums Theresienstadt für Hirschhornknöpfe erwärmen kann, ist ihm übel angekreidet worden. Ganz offenbar teilt Sebald nicht die offiziell verordnete Haltung gegenüber dem Holocaust, wonach die Menschheit, im Prinzip gut unterwegs in Richtung Demokratie, Menschenrechte und Völkerverständigung, lediglich, von kleineren Stolpereien und Knieabschürfungen abgesehen, ein Mal zwischen 1933 und 1945 auf ihrem Weg verbrecherisch umgestoßen und übel zu Fall gebracht wurde. Die tieferreichende und, was die Grundstimmung anbelangt, konträre Sicht ist, daß 1933 nur ein weiteres Mal eine dunkle, der Moderne fest eingegrabene rabenschwarze Komponente ausgeschwitzt wurde.

Das Verhängnis ist schon langandauernd und nicht behebbar. Das Gespräch mit Hebel im Landhaus endet damit, daß der Ätti, unterwegs mit dem kleinen Knaben an der Hand, den Untergang der Stadt Bern und der Welt imaginiert. Ätti kann im Schweizerdeutsch sowohl Vater als auch Großvater bedeuten oder, abstrakter, auch alter, gutmütiger, etwas altmodischer Mann (von Greyerz/Bietenhard, Berndeutsches Wörterbuch). Ganz offenbar ist es auch der kleine Selysses, der unmittelbar aus dem Mund seines Großvaters vernimmt: Der Belche stoht vercholt, der Blauen au, as wie zwee alti Türn, und zwische drinn isch alles uße brennt, bis tief in Boden abe. D’Wies het ke Wasser meh, s’isch alles öd und schwarz (LL 40). Sebalds erwachsene Helden stehen in keinem geschützten Raum und erfahren die Weite der Welt nicht handgerecht aus Kalendern, Atlanten und Postkartensammlungen, sie sind typisch die Ausgewanderten, in den Orbit geschleudert, und schauen von dort herab auf die öde und schwarz im Weltall sich drehende, ausgebrannte Ruine der Erde (LL 40f). Den Ausgewanderten bleibt gleichwohl die Sehnsucht nach der Enge der Herkunft. Dr. Selwyn kommt das Heimweh im Verlauf der letzten Jahre mehr und mehr an. Ich sehe, wie der Kinderlehrer im Cheder, den ich zwei Jahre schon besucht hatte, die Hand auf den Scheitel legt. Ich sehe das ausgeräumte Zimmer. Ich sehe mich zuoberst auf dem Wägelchen sitzen, sehe die Kruppe des Pferdes, das weite, braune Land, die Gänse im Morast der Bauernhöfe mit ihren gereckten Hälsen (AW 31). Die Gänse sind aus ihrem Verschlag verschwunden. Bald darauf werden sie teilweise mit kochendem Fett eingegossen. Ein paar Frauen kommen aus dem Dorf zum Federschleißen. Sie sitzen in der kleinen Kammer, jede mit einem Haufen Federn vor sich, und schleißen bald die ganze Nacht. Alles schaut aus wie eingeschneit. Aber am Morgen, wenn wir wieder aufsteigen, ist die Kammer so sauber und federlos, als wäre nichts gewesen (AW 307).

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts konnte es für einen Augenblick so scheinen, als sei der Menschheit eine neue Kindheit geschenkt worden, die sich verlängern ließe zum richtigen Leben. Der Augenblick ist schnell verflogen. Zur Fundierung dieser Sicht greift Sebald, getreu seiner Neigung zum Demodierten, auf leicht ergraute Theorielagen ebenfalls aus dem 19. Jahrhundert zurück (LL 104), die alle Schuld beim „Kapitalismus“ sahen, obwohl er zum Umkehrschluß wohl kaum bereit war, die Überwindung der kapitalistischen Wirtschaftsform, wie immer das aussehen soll, könne die Welt ins Lot bringen. Ein interessantes Apercu in diesem Zusammenhang ist, daß Luhmann, so als habe auch er beim Ätti gelernt, von den erloschenen Vulkanen des Marxismus spricht, um dann selbst den gemeinten beängstigenden Umstand, daß die ins Rasen geratene moderne Gesellschaft auf Bremsen irgendwelcher Art nicht mehr anspricht, mit feineren Theoriemitteln herzuleiten.


Sebalds Werk läßt sich insgesamt als ein Bremsversuch lesen, der um seine Vergeblichkeit weiß, dem Leser aber Zeit zum Atemholen schenkt. In der Tat werden die verdämmernden Dinge im ANTIKOS BAZAR den Zeugnissen rasenden Unheils im Ghettomuseum Theresienstadt entgegengehalten, und auf diesem Gegensatz wird der Platztausch der Lebenden und der Toten vorbereitet. Die Toten: Es schien mir auf einmal mit der größten Deutlichkeit so, als wären sie nicht fortgebracht worden, sondern lebten, nach wie vor dichtgedrängt in den Häusern, in den Souterrains und auf den Dachböden, als gingen sie pausenlos die Stiegen auf und ab, schauten bei den Fenstern heraus, bewegten sich in großer Zahl durch die Straßen und Gassen und erfüllten sogar in stummer Versammlung den gesamten, grau von dem feinen Regen schraffierten Raum der Luft (AUS 289). Und die Lebenden: Einmal, als ich mich umwandte, sah ich, daß die Fahrgäste in den Schlaf gesunken waren, ausnahmslos. Mit verrenkten Leibern lehnten und hingen sie in ihren Sitzen. Dem einen war der Kopf nach vorn gesunken, dem anderen seitwärts oder in den Nacken gekippt. Mehrere röchelten leise (AUS 290).

Die Toten sind lebendig und die Lebenden sind tot. Der Aufenthalt in Theresienstadt endet mit einer Untergangsvision, die diejenige des Ätti geradezu wiederholt: Südwärts, in einem weiten Halbrund, erhoben sich die Kegel der erloschenen böhmischen Vulkane (jetzt wissen wir auch warum wir uns die Bildkarte vom Vesuv besonders gemerkt haben), von denen ich mir in diesem bösen Traum wünschte, daß sie ausbrechen und alles ringsum überziehen möchten mit schwarzem Staub (AUS 294). Asche senkt sich gleichermaßen über die Lebenden und die Toten, Gerechtigkeit ist hergestellt, Frieden eingekehrt. Aber es ist ja nicht das letzte Wort der Erzählung.

Sonntag, 7. September 2008

Selysses und Bekysseus


Ins nächste Dorf zu reiten,ohne zu fürchten, daß - von unglücklichen
Zufällen ganz abgesehen - schon die Zeit
des gewöhnlichen, glücklich ablaufenden
Lebens für einen solchen Ritt
bei weitem nicht hinreicht.


Jeder Leser bildet im Laufe der Zeit einen Kreis von Favoriten aus, der Kreis wird zunächst wachsen, dann aber, jedenfalls nach Sebalds Auffassung, mit zunehmenden Alter wieder enger werden, man braucht dann nur noch wenige, die besonders zuverlässig sind. Manch einer mag sich dann selbst wundern, was bei ihm übrig geblieben ist, als Konzentrat sozusagen, etwa dann, wenn Sebald sich in diesem engen Kreis einiger weniger mit Beckett vertragen muß, zwei Dichter, mag der erste Eindruck sein, wie sie unterschiedlicher nicht sein können: der Satzasket und geniale Satzstolperer und der Meister der ausufernden Satzlandschaften souveräner Makellosigkeit. Eine unmittelbare Verständigung zwischen den beiden, auf die man zurückgreifen könnte, fehlt. Der Ältere konnte den Jüngeren nicht kennen, Sebald hat mit Hilfe von Jan Peter Tripp Becketts Augen in den Band Unerzählt aufgenommen, die Bildunterschrift erlaubt lange tiefe Meditation, ohne daß aber Sebalds Beckettbild dabei klare Umrisse gewinnen würde: Er wird Dich bedecken mit seinem Gefieder & unter seinem Flügel dann ruhest Du aus.
Man kann es dabei bewenden lassen und sich still über die Spannweite des eigenen Begreifens freuen. Andererseits stößt freilich schon oberflächliche Reflexion auch auf Verbindendes. Beide, Sebald und Beckett, versprühen wenig Optimismus und können auch nicht als Matadore positiven Denkens gelten. Beide sind philosophische Dichter in dem Sinne, daß es ihnen um letzte Fragen der Stellung des Menschen in der Welt geht, keiner von beiden beschäftigt sich mit dem, was, zumindest nach der Auffassung demokratischer Politiker, „die Menschen wirklich interessiert“ oder sie gar betroffen macht, noch greifen sie Themen auf, „die in der Luft liegen“. Sebald lädt dabei allerdings zu Mißverständnissen ein, viele finden, falls überhaupt, den Zugang zu ihm über die Beurteilung des Luftkrieges oder die Frage, ob der Angriff auf Alfred Andersch nun gerechtfertigt war oder nicht, halten Austerlitz dann für ein halbdokumentarisches Werk über den Holocaust und sind für die Dichtung verloren.


Wir wollen uns aber von diesen eher allgemeinen Erwägungen lösen und stattdessen ein kleineres, ursprünglich in englischer Sprache verfaßtes Prosastück Becketts: D’un ouvrage abandonné (1957, in Tetes-Mortes, Les Éditions de Minuit 1972) gleichsam rückblickend mit den Augen und dem besonderen Orientierungsvermögen des Sebaldianers lesen.

In dem knapp zwanzigseitigen Prosastück erinnert sich ein gealterter Beckettscher Wanderer, nennen wir ihn Bekysseus, an drei anscheinend beliebig aufgerufene Tage aus seinem Leben. Erinnerung, da sind wir zweifellos auf gutem Sebaldboden. Debout au petit matin, ce jour-là, jétais jeune alors… Also eine Rückkehr zur Jugend, wenn nicht zur Kindheit, das passende Sebaldstück ist Ritorno in patria. Wie im Ritorno führt der Weg zurück in die Kindheit durch Landschaft: Beau matin frais, clair trop tot comme si souvent – ohne daß natürlich eine grandiose Schilderung in der Art des Sebaldweges von Oberjoch nach Wertach (vgl. den Aufsatz Sebaldweg in dieser Sammlung) erreicht oder irgend angestrebt wäre. Weiter wie im Ritorno begegnet Federvieh (vgl. den Aufsatz Vynwry in dieser Sammlung): Des oiseaux j’en ai vu de ma vue percante voler si haut, si loin –, wenn auch die positiven Konnotationen fehlen (Les canards c’est peut-etre le pire), aber das ist nicht weiter bemerkenswert, da Beckett alle positiven Konnotationen an der Oberfläche seiner Prosa zuverläßlich abdreht. Die Mutter am Fenster gibt einerseits den Blick auf das Innere der Wohnung frei (ma mère blanche et si mince laissait passer mon regard jusqu’au fond sombre de la chambre), verstellt ihn aber andererseits durch ihr Gezappel im Fensterrahmen (si seulement elle avait pu rester tranquille et me laisser contempler). Im Ritorno sind umgekehrt die Eltern ganz und gar hinter der Zimmereinrichtung verschwunden: Die Anschaffung einer standesgemäßen Wohnzimmereinrichtung, die nach einer ungeschriebenen Vorschrift akkurat den Geschmacksvorstellungen des für die damals sich formierende klassenlose Gesellschaft repräsentativen Durchschnittspaars entsprach, hatte für die Eltern nach einer in mancher Hinsicht nicht leichten Jugend wahrscheinlich den Augenblick markiert, in dem es ihnen vorkam, als gäbe es doch eine höhere Gerechtigkeit. Dieses Wohnzimmer bestand also aus einem massiven Wohnzimmerschrank .... (SG 210f). Beide Heimkehrende vermeiden, auf die eine oder andere Art die Eltern, und: Une veine que mon père soit mort quand j’étais encore jeune, sinon j’aurais pu finir professeur - genau das, was dem anderen, nehmen wir für einen Augenblick die reale Gestalt, unterlaufen ist.

Der zweite Tag steht im Zeichen des Schimmels: C’est là le seul cheval entièrement blanc dont je me souvienne, ce que les Allemands appellent un Schimmel si j’ai bonne mémoire, ah jeunot quelle vivacité, quelle faim de connaissance, Schimmel, joli mot pour une oreille anglaise. Der Sebaldianer hat sogleich das große Gemälde von der Schlacht auf dem Lechfeld vor Augen, wo der Fürstbischof Ulrich mit seinem Schimmel über einen am Boden liegenden Hunnen hinwegreitet und auf dem auch alle Pferde diese irren Augen haben (SG 227, Bild 228).

Eh bien d’abord tout va bien , pas d’histoire, rien que la violence et puis ce cheval blanc, quand soudain je piquai une rage des plus sauvages, proprement aveuglante: die Wut ist, als Zustand des Außersichseins zu den Schwindelgefühle zu rechnen. Il fut un temps où j’essayais de me soulager en me tapant la tete contre quelque chose, mais j’y ai renoncé. – In der krankhaften Haltung eines Wesens, das sich zum ersten Mal von der Erde erhoben hat, stand ich gegen die Glasscheibe gelehnt (RS 13).

Jamais aimé personne à mon avis, je m’en souviendrais. Die Unfähigkeit zu lieben, ein weiteres Sebaldthema, erinnert sei nur an Jacques Austerlitz und Marie de Verneuil.

Und doch eine Liebe: J’ai l’amour du mot, les mots ont été mes seules amours, quelques-uns. Und andererseits : Je dois peut-etre signaler ici que je ne parlais jamais à personne, mon père a du etre le dernier à qui j’ai parlé. Sebalds Bücher sind voll von Berichten über die Wortlosigkeit und die Lust und die Qual des Umgangs mit den Worten, und wir, die Leser, wissen, warum wir die beiden Autoren lieben: Weil in ihren Texten jede andere möglich Spannung zurücktritt hinter der Frage, welches das nächste Wort sein und welche Gestalt der nächste Satz haben wird. Und so ist es denn auch bei der Arbeit hier eine größere Freude, die Zitate abzuschreiben, als die eigenen Worte zu setzen, die nicht im gleichen Glanz erstrahlen wollen.

Aller en enfer, c’est la grace que je demande – die Hölle ist dem Sebaldianer nicht fremd, er ist versucht, das Austerlitzbuch als danteske Höllenwanderung mit kurzen Einblicken ins Paradies zu lesen.

Oh sans cette affreuse bougeotte (Ludovic Janvier hat in einem Anhang zu seinem Buch Pour Samuel Beckett am Thema der Unruhe die engen Bezüge zu Pascal herausgestellt) que j'ai toujours eue j'aurais vécu ma vie enfermé dans uns grande pièce vide à échos, avec une grande pendule ancienne, rien à écouter et à somnoler, le coffre ouvert pour que je puisse voir le balancier, suivant des yeux son va-et-vient, et les poids de plomb pendillant et plus en plus bas jusqu'à ce que je me lève de ma bergère et les remonte, une fois par semaine. – Hier berühren wir ganz offenbar einen zentralen Überschneidungsbereich. Bougeotte, Reise- und Wanderzwang, ist ein festes Merkmal des Sebaldschen Helden. Selysses durchwandert fieberhaft Wien (All’estero in SG), Manchester (Max Aurach in AW), Austerlitz das nächtliche London. Wie Grillparzer finde ich an nichts Gefallen, bin von allen Sehenswürdigkeiten maßlos enttäuscht und wäre, wie ich oft meine, viel besser bei meinen Landkarten und Fahrplänen zu Hause geblieben (SG 62). Zum Uhrenthema sei auf den Aufsatz Uhren in dieser Sammlung verwiesen.

Der Wanderer benötigt eine angemessene Ausrüstung. J’ai mon baton à la main, tout en allant mon chemin – auf dem Bild im Austerlitzbuch können wir den Stock des Selysses deutlich erkennen, freilich fehlt bei Sebald die obsessive Beschäftigung mit dem Zubehör, sei es der Regenschirm oder der Wetterfleck.

Becketts Text endet mit einem Gang durch hohes Farnkraut: Je suis là-haut dans les fougères, sabrant de droite et de gauche avec mon baton à en faire gicler les gouttes et jurant. Qu’elles sont grièches ces grands fougères, presque du bois, tiges terribles, vous arracher la peau des jambes à travers le pantalon. – Und auf der anderen Seite: Der Fußpfad führte um den Verhack herum, durch eine Ginsterböschung auf die Anhöhe der Lehmklippe hinauf und dort in geringer Entfernung von dem stets von Einbrüchen bedrohten Rand des festen Landes zwischen Adlerfarnen hindurch, von denen die größten mir bis an die Schultern reichten (RS 83, Bild 84).

Selysses und Bekysseus, Wanderpaare wie Didi und Gogo, Mercier und Camier, Selysses und Austerlitz, oft zu zweit, immer einsam: Simplement j’allais mon chemin toujours, mon corps faisant de son mieux sans moi. Im Aufsatz Bedürfnislosigkeit hatten wir gezeigt, wie sehr der typische Sebaldheld dem Beckettschen angenähert ist, der Major Le Strange, der Hochschullehrer Michael Parkinson und auch Jacques Austerlitz, dieser wiederum verschmolzen mit Ludwig Wittgenstein, der allein schon durch sein bekanntes Geständnis, ihm sei egal, was er esse, Hauptsache nur, es sei immer das gleiche, unmittelbar Beckettformat bewiesen hat, gern hätte er sich auf carottes à l’Estragon festlegen lassen. Wer vor vierzig Jahren mit Beckett trainiert hat, war dreißig Jahre später auf die Begegnung mit Sebald bestens vorbereitet.

Das vorgeführte Spielchen ist von Beckettscher Clownerie infiziert, niemand sollte es allzu ernst nehmen.