Freitag, 23. Mai 2014

Sa'Dwrn ♄

Capriccio der Schutzpatrone

Der verbreitet schlechte Ruf des Saturn ist nicht gerechtfertigt, handelt es sich bei ihm doch um den Herrn des Rückzugs und des Schweigens, der die Voraussetzungen für innere Sammlung schafft. Sein Archetyp ist der Einsiedler. Im Körper des Menschen vertritt er das stabile Prinzip: die Knochen, Knochenmark, Kalkhaushalt, die Zähne und die Faust (dwrn) gelten als Bereiche seiner Zuständigkeit. Der Saturntag ist der Samstag (dydd Sadwrn), ihm zugeordnete Edelsteine sind der Saphir, der Onyx sowie die schwarze Perle. Dies entspricht auch den ihm zugewiesenen düsteren Farben Schwarz, Dunkelbraun, Dunkelblau und Dunkelgrau sowie das ihm zugewiesene Metall, das Blei. Als typisch saturnische Menschen gelten die Ahnen und die Mönche. - Bei dieser Einordnung wundert es nicht, wenn der Dichter neben San Giorgio und Sand Sebolt auch Sa'Dwrn* als seinen Schutzpatron benennt, auch wenn er wohl eher aufgezwungen und jedenfalls von nicht ungefährlicher Wesensart ist.
Sein Ungestüm macht sich gleich bei der Geburt des Autors bemerkbar. Als er zum Himmelsfahrtstag auf die Welt kam, zog gerade die Flurumgangsprozession unter den Klängen der Feuerwehrkapelle am Haus vorbei in das blühende Maifeld hinaus. Die Mutter nahm dies zunächst für ein gutes Zeichen, nicht ahnend, daß der kalte Planet Saturn die Stunde regierte und daß über den Bergen schon das Unwetter stand, das bald darauf die Bittgänger zersprengte und einen der vier Baldachinträger erschlug. Es scheint, als seien nicht nur die Bittgänger zersprengt und der Träger des Baldachins erschlagen, sondern rechtzeitig dem ganzen katholischen Spuk das Ende bereitet worden, sozusagen mit unheiliger Faust (dwrn: als Austerlitz das Walisische wie im Flug erlernte, haben auch sein Dichter und dessen Leser einige Worte dieser geheimnisvollen und schönen Sprache aufgeschnappt). So klärt sich das Geheimnis der vielen versprengten und ramponierten Heiligen, die durch das Werk taumeln. Am schlimmsten hat die Wucht des Schlages den heiligen Franz getroffen, der seither, ohne daß er etwas Böses getan hätte, in einem schwankenden Schilfbeet mit dem Kopf nach unten im Wasser treibt. Die Aufhebung des katholischen Spuks - Bereyter spricht parallel dazu von katholischer Salbaderei - wird aber nicht als Befreiung oder Wendung zum Besseren erlebt. Giottos Engel haben keinen Anlaß, ihre seit siebenhundert Jahren andauernde stumme Klage zu beenden. Die Beweinung Christi läßt sich nicht durch die Prosektur des Aris Kindt ersetzen und ebensowenig ist das mit dem Sturz der Heiligen wieder freigelegte karge Geklapper der Zahlen-, Sternen- und Koinzidenzalchimie, das Spiel mit der Zahl Dreizehn &c., ein befriedigender Ersatz für die meisterliche Sicherheit, mit der Tiepolo auszumalen vermochte, was über unseren Köpfen geschieht. San Giorgio, der frühzeitig schon aus Grünewalds mittelalterlichem Heiligentableau ausgestiegen war, konnte dem Massaker der bayerischen Flurumgangsprozession entkommen. Selysses immer ein treuer Beistand, begegnet er uns in seiner herzbewegenden Weltlichkeit in den verschiedensten profanen Positionen, seine bisher letzte Erscheinung ist die des Hochseilartisten Giorgio Santini.
Für die Ringe des Saturn, Modrwyau Sadwrn, war ursprünglich der Titel Unter dem Hundsstern vorgesehen. Tatsächlich ist der Beginn des Buches verwirrend für astrologisch nicht Versierte. Genasführt vom Titel halten sie für einen Augenblick den kalten Saturn für den Hundsstern, in Wahrheit ist es naturgemäß der heiße Sirius. Hier tritt nun Sand Sebolt, der dritte Schutzpatron und zweite christliche Gnadenheilige (nawddsant**) des Dichters, vermittelnd auf den Plan und lüftet das Geheimnis der Verwandlung von Eiseskälte in wohlige Wärme, indem er zu Regensburg im Herd eines ums Holz geizenden Wagners ein Feuer aus Eiszapfen entfacht und so die gefrorene Lebenssubstanz in Flammen versetzt. Aufgrund der Wandlungskraft des heiligen Sebaldus kann auch ein erkaltetes Herz noch einmal hell auflodern. Es zeigt sich, wer den heidnischen Sa'Dwrn zum Schutzpatron hat, braucht zum Ausgleich nicht weniger als zwei christliche Gnadenheilige.

*   Nicht zu verwechseln mit Sant Sadwrn, einem legendären keltischen Heiligen aus dem 5. Jhdt.
** nawdd: eine häufig auftretende Vokabel in der mittelalterlichen kymrischen Dichtung. Zwei Ritter gallopieren siegesgewiß aufeinander zu, einer muß gleichwohl in den Staub und erbittet als Unterlegener nawdd, ins Englische meistens mit quarter übersetzt. Peredurs Weg säumen unzählige Gnadengesuche, die der nominell christliche Ritter häufig, aber längst nicht in jedem Fall berücksichtigt: Ac fe laddodd Peredur ef, und Peredur erschlug ihn, heißt es oft genug. A theithiodd Peredur yn ei flaen, und Peredur ritt seines Wegs.

Dienstag, 20. Mai 2014

Mysterien

Flammendes Herz
Als er zum Himmelsfahrtstag, so der Dichter, auf die Welt kam, zog gerade die Flurumgangsprozession unter den Klängen der Feuerwehrkapelle am Haus vorbei. Über den Bergen aber stand schon das Unwetter, das bald darauf die Bittgänger zersprengte und einen der vier Baldachinträger erschlug. Mitgefühl für den unglücklichen Baldachinträger ist nicht zu spüren, dem Dichter scheint das blutige Scheitern der frommen Veranstaltung nur recht zu sein. Dann der Rückblick auf die Zeit vor der Geburt: Aus der Münchner Zeit nach 1933 ist kaum etwas anderes erinnerlich als die Prozessionen, Umzüge und Paraden, zu denen es offenbar immer einen Anlaß gegeben hat. Entweder es war Maifeiertag oder Fronleichnam, Fasching oder der zehnte Jahrestag des Putschs, Reichsbauerntag oder die Einweihung des Hauses der Kunst. Entweder trug man das Allerheiligste Herz Jesu durch die Straßen der inneren Stadt oder die sogenannte Blutfahne. Das Allerheiligste Herz Jesu und die Blutfahne vereint in einem Satz, das ist allem Anschein nach der ultimative Bannfluch über den Katholizismus. Da ist der Schabernack, den Bereyter mit dem Benefiziaten Meyer treibt, eher noch von harmloser Art. Ein neben der Tür angebrachtes, das flammende Herz Jesu darstellendes Weihwasserbehältnis wurde von Bereyter rechtzeitig vor jeder Religionsstunde mit der sonst zum Gießen der Geranienstöcke verwendeten Gießkanne aufgefüllt, nie ist es darum dem Benefiziaten gelungen, die Weihwasserflasche zum Einsatz zu bringen. Gleichzeitig aber hießt es von Bereyter, dem Quälgeist des Benefiziaten, er sei gottgläubig. Das besondere Gefallen des Dichters findet auch der evangelische Theologe Johann Peter Hebel, in dessen auf das sorgfältigste austarierten Weltordnung auch die kuriosesten Kreaturen wie zum Beispiel die mit keinerlei geistlichen Prätentionen ausgestatteten Prozessionsspinner ihren rechten Platz finden.
Man könnte mutmaßen, daß der Verwerfung katholischer Salbaderei, wie Bereyter es ausdrückt, eine gewisse Aufwertung protestantischer Lebenshaltung gegenübersteht, aber diese Spur führt nicht allzu weit. Der, wie Sebald ihn sieht, katholische Strafprediger Thomas Bernhard schneidet nicht schlechter ab als sein kalvinistischer Amtsbruder Emyr Elias. Die eigentliche Frage ist, welche säkulare Verheißung an die Stelle der verlorenen geistlichen treten kann. Sebald wird gepriesen für die Verurteilung der deutschen Nazivergangenheit, obwohl das nun wirklich keine Kunst ist, wer tut das nicht; aber auch getadelt, weil er den demokratischer Fortschritt in Deutschland nicht angemessen würdigt. Auch den parallel dazu verlaufenden Erneuerungsbemühungen in Belgien versage er den nötigen Respekt. In Rügen dieser Art liegt eine Verkennung der jeder journalistischen Meinungssalbaderei entrückten Sprachmodalität künstlerischer Prosa. Vieles vom dem, was ein Autor als Bürger im realen Alltag begrüßen mag, bleibt für ihn als Dichter unergiebig. In Brüssel, so notiert der Dichter wahrheitswidrig und doch wahr, seien ihm im Dezember 1964 mehr Bucklige und Irre über den Weg gelaufen als sonst in einem ganzen Jahr. Bucklige und Irre: die demokratischen, auf Schonung bedachten Sprachkonventionen sind offenbar bewußt verletzt. Brüssel ist zum einen die Hauptstadt des ehemaligen Kolonialreiches Belgien, verantwortlich für die Greuel im Kongo, und zum anderen die Hauptstadt der europäischen Union, die sich nach ihrem Start als gemeinsamer Wirtschaftraum inzwischen vorzugsweise als Wertegemeinschaft sieht. Wer also sind die Buckligen und Irren in den Straßen Brüssels, wofür wurden sie von welchem Gott gestraft?

Zum gemeinsamen europäischen Wirtschaftraum speziell im Agrarsektor äußert sich Alec Garrad dahingehend, daß seine Nachbarn von der aberwitzigen Brüsseler Landwirtschaftspolitik immer fetter geworden seien. Das ist die Einschätzung einer Person im Buch und als solche dem Meinungsaustausch zugänglich. Die dichterische Vision zahlloser Buckliger und Irrer in der Brüsseler Innenstadt dagegen ist dem Meinungsstreit entzogen, sie ist im unmittelbaren Wortsinn indiskutabel. Fraglos aber hat sie eher Beziehung zur europäischen Wertegemeinschaft als zu Detailfragen der europäischen Ökonomie. Als zentraler europäischer, von Brüssel verwalteter Wert gilt, was ursprünglich eine bloße Regierungsform war und, um es nur zu erwähnen, nach dem Urteil des zeitgenössischen, politisch dezidiert nicht rechts orientierten französischen Philosophen Badiou* etwa, eine besonders schlechte: Demokratie. Das flammende Herz der Demokratie aber ist die Unantastbarkeit der Menschenwürde. Was damit gemeint sein könnte, ist schwer zu verstehen. Selbst unter Aufwendung aller Kräfte des anempfohlenen eigenen Verstandes ist kaum einsehbar, wie der belgische Kinderschänder und -mörder Dutroux Kinder schänden und morden konnte, ohne dabei seine eigene menschliche Würde auch nur irgend anzutasten. Offenbar handelt es sich bei der Unantastbarkeit der Menschenwürde um ein dogmatisch abgesichertes säkulares Mysterium, das dem religiösen Dogma der Jungfrauengeburt motivisch verwandt ist. Während das religiöse Dogma der Unbeflecktheit weithin nur noch Zielscheibe säkularen Spotts ist, wird das säkulare Dogma der Unantastbarkeit unter seinen Anhängern zum Gegenstand religiöser Verzückung. Selysses gehört nicht zu den Begeisterten humanistischer Säkularität, gleichzeitig steht er dem Unbeflecktheitsmotiv zumindest mit Gleichmut gegenüber. Auf Pisanellos Bild San Giorgio con capello di paglia mögen ihn vordringlich die Heiligen Georg und Antonius angehen, es stört ihn aber nicht, wenn die obere Bildhälfte von der Jungfrau mit dem Erlöserkind ausgefüllt wird. Er bedauert, nicht auf Dauer das immer unschuldiger werdende Leben der Ashburys geteilt zu haben, und meint damit auch die sexuelle Unschuld.

Wenn das Mysterium der unantastbaren Menschenwürde motivisch der Jungfrauengeburt zuzuordnen ist, so entspricht es in seiner zentralen Stellung innerhalb der säkularen Mysteriologie dem Kreuzestod im Christentum. Wir hören Giottos Engel in ihrer lautlose Klage, die seit nahezu siebenhundert Jahren von den über dem unendlichen Unglück schwebenden Engeln erhoben wird. Die untere Bildhälfte wird uns vorenthalten, sie zeigt die Beweinung Christi. Der verborgene Christus wird an einer ganz anderen Stelle des Werkes nachgeliefert. Wir sehen die Anatomen versammelt um den Leichnam, der jetzt derjenige des Aris Kindt ist, und den die Forscher nicht beweinen, sondern aufschneiden auf der Suche nach lebenserhaltenden Maßnahmen für die Menschheit. Das ewige Leben hingegeben für ein verlängertes Leben, das will niemanden so recht überzeugen. Auch kann, was als unerschrockener Forschungsdrang der neuen Wissenschaft sich darbietet, nicht das archaische Ritual der Zergliederung eines Menschen verbergen, und die nach wie vor zum Register der zu verhängenden Strafen gehörende Peinigung bis über den Tod hinaus.

Die Kunst, vorzugsweise Malerei und Musik, hat dem Christentum einen Raum jenseits des Meinungsstreits und auch jenseits der Dogmen verschafft. Nur besonders Entschlossene werden Grünewald oder Bach für die aus ihren Werken sprechende Mysteriengläubigkeit anfeinden. Die Moderne hat bislang für ihre Mysterien eine künstlerische Ikonographie vergleichbarer Qualität nicht entwickeln können. In welcher Bildkategorie könnte die Unantastbarkeit der Menschenwürde unverrückbaren Ausdruck finden? Rembrandts Bild von der Anatomie des Dr. Tulp läßt die Schwierigkeiten erahnen. Die Architektur bietet sich an als Abbild der Moderne, aber viele, angeführt von Austerlitz, trauen ihr nicht über den Weg, die neue Nationalbibliothek, die in Paris an die Stelle der alten tritt, erweist sich als Alptraum. Am Theater hat man versucht, ein künstlerisches Bild des verborgenen Mysteriums demokratischer Verhältnisse durch Kontrastwirkung zu erzeugen, indem man bei Aufführungen von Sophocles, Shakespeare, Racine, Goethe oder wem auch immer die Schauspieler entweder in Naziuniformen oder in KZ-Kitteln oder teils in Naziuniformen und teils in KZ-Kitteln auf die Bühne schickte, ein kläglicher Versuch, der, wie man sich denken kann und wie sich bei Gelegenheit eines Besuchs der Bregenzer Festspiele zeigt, Selysses' Beifall nicht findet: Im Zuge der sogenannten Wiedergutmachung war man auf den Gedanken gekommen, auch den Hebräern ihr Recht werden zu lassen und hatte sie bei einer Nabucco-Inszenierung aus den anonymen Sklaven richtige Juden in Zebraanzügen gemacht. Da stand ich nun unschlüssig mit meiner Einlaßkarte auf dem Vorplatz, weil ich den Chor der verkleideten KZ-Häftlinge nicht sehen wollte.

Die Kunst gilt noch, wenn, wie im Fall der unbefleckten Empfängnis, das Dogma schon nicht mehr gilt, und das Dogma ohne Kunst im Rücken, wie im Fall der Unantastbarkeit, ist kraftlos. Die christliche Bilderwelt kann sozusagen wegen mangelnden Nachwuchses nicht aus der Hand gegeben werden. Die Heiligen taumeln durch Sebalds Prosa, die Buckligen und Irren in den Straßen Brüssels aber sind die Versehrten der Moderne, und wer ist nicht versehrt auf die eine oder andere Weise.

*cf.  La République de Platon, 2012

Donnerstag, 15. Mai 2014

Innenwelt Außenhirn

Pour me tirer du néant

Wien: Jeden Morgen machte ich mich früh auf und legte anscheinend end- und ziellose Wege zurück von denen keiner, wie sich zu meinem Erstaunen bei einem späteren Blick auf den Plan zeigte, über einen genau umrissenen, sichel- bis halbmondförmigen Bereich hinausführte. Hätte man die Wege, die ich damals gegangen bin, nachgezeichnet, so wäre der Eindruck entstanden, es habe hier einer auf einer vorgegebenen Fläche immer wieder neue Traversen und Winkelzüge versucht, um aufs neue an den Rand seiner Vernunft, Vorstellungs- oder Willenskraft anzugelangen und zum Umkehren gezwungen zu werden.
Dunwich: In die unablässig in meinem Kopf sich drehenden Gedanken verloren und wie betäubt von dem wahnsinnigen Blühen, wanderte ich auf der hellen Sandbahn dahin, bis ich zu meinem Erstaunen, um nicht zu sagen zu meinem Entsetzen, mich wiederfand vor demselben verwilderten Wäldchen, aus dem ich vor einer Stunde etwa hervorgetreten war. Der tief herabhängende bleierne Himmel, das krankhafte, die Augen trübende Violett de Heide, die Fliegen, die mich dauernd umschwärmten, beängstigend und grauenvoll kam mir das alles vor. Ich kann nicht sagen, wie lange ich in dieser Verfassung herumgeirrt bin, und wie ich schließlich einen Ausweg gefunden habe. Monate danach bin ich in einem Traum abermals auf der Heide von Dunwich gewesen, bin wieder über die unendlich verschlungenen Wege gegangen wie in einem für mich eigens angelegten Irrgarten. Von einem erhöhten Aussichtsposten sah ich schließlich auf das Labyrinth hinab, sah den hellen Sandboden, die scharf abgezirkelten Linien der nachtschwarzen Hecken, ein im Vergleich mit den Irrwegen, die ich zurückgelegt hatte, einfaches Muster, von dem ich im Traum mit absoluter Sicherheit wußte, daß es einen Querschnitt darstellte durch mein Gehirn.

Für Anhänger eines konstruktivistischen oder systemtheoretischen Ansatz ist Selysses in diesen beiden pathologischen Augenblicken einer wichtigen Erkenntnis besonders nah: das Weltkonstrukt kann jederzeit einstürzen. Mag die Außenwelt, wie sie sich dem Menschen darstellt, eine Leistung seines Hirns sein, so ist die Suggestion ihrer Realität und die klare Abgrenzung vom Ich unverzichtbarer Teil dieser Leistung. Überdies scheint, wie der Theoretiker festhält, bei allem Geplänkel mit Konstruktivismus, irgendeine Deckung durch eine externe Realität unverzichtbar zu sein. Hier aber fällt die Außen- auf die Innenwelt zurück, Fremd- und Selbstreferenz sind eins, die Wiener Innenstadt erscheint Selysses als eine Kartierung seiner Psyche, die Heide von Dunwich als ein Querschnitt durch sein organisches Hirn. Bereits zu Beginn der Ringe des Saturn ist Selysses von Außenwelt und Realitätswahrnehmung so gut wie abgeschlossen. Tatsächlich war von meiner Bettstatt aus von der Welt nichts anderes mehr sichtbar als das farblose Stück Himmel im Rahmen des Fensters. Nur um den Preis der Verwandlung in Kafkas Käfer und mithin in eine literarische Figur beginnt die Rückgewinnung der Welt. Endlich stand ich dann gegen die Glasscheibe gelehnt ähnlich dem armen Gregor, der, mit zitternden Beinchen an die Sessellehne sich klammernd, aus seinem Kabinett hinausblickt in undeutlicher Erinnerung an das Befreiende, das früher einmal für ihn darin gelegen war, aus dem Fenster zu schauen. Durch die Fensterscheibe ist die klare Grenze wieder hergestellt, auf der einen Seite das Ich und auf der anderen Seite der Welt, und diese Grenze ist das Medium der Freiheit.
Traum und Schlaf sind immer eine Pathologie des Bewußtseins und der Realitätswahrnehmung mit in der Regel kurzer, sekundenschneller Genesungszeit. Bei Proust gestaltet sich die Sache schon etwas schwieriger: Quand je m'éveillais au milieu de la nuit je ne savais meme pas au premier instant qui j'étais; mais alors le souvenir venait à moi comme un secours d'en haut pour me tirer du néant. Er faßt die Gelegenheit des Erinnerns dann gleich gründlich beim Schopf und schreibt die Recherche vom Anfang bis zum Ende nieder. Selysses gerät tief in den Heidetraum hinein, übersteht ihn aber, soweit erkennbar, ebenso unbeschadet wie die tatsächlichen Irrgänge zuvor. Zwei Stunden zirka nach meiner wunderbaren Befreiung aus dem Heidelabyrinth erreichte ich die Ortschaft Middleton. Die Bewußtseinstrübung im Wachzustand zu Beginn der Schwindel.Gefühle ist schwerer zu überwinden als der Heidetraum. Es fragt sich, ob Selysses überhaupt ernsthafte Anstalten macht, zu einem Zustand klaren Bewußtseins und klarer Realitätswahrnehmung zurückzukehren. Die Bühne des Buches betritt er nicht unmittelbar, sondern schickt Stendhal vor. Als Selysses Jahre später Luciana Michelotti, der Wirtin des Hotels Sole in Limone, erläutert, er arbeite an einem in Oberitalien spielenden Kriminalroman, in dem es um das Wiederauftauchen einer seit langem verschollenen Person gehe, dämmert es dem Leser, daß es sich bei dem Roman um die Schwindel.Gefühle handelt, die er gerade vor sich hat, und bei der seit langem verschollenen Person um den Jäger Gracchus, dem, wie sich zeigt und anders als bislang bekannt und verbürgt, schon Stendhal in Riva begegnet war. Selysses findet also nicht zurück in eine Realität, in der das Hirn im und die Straßen und Plätze zuverlässig außerhalb des Kopfes sind, sondern beginnt ein Leben in der Literatur, wo einiges durcheinander geht und die Verhältnisse von Haus aus so klar nicht sind.
Die Außenwelt, das sind nicht so sehr die Dinge, die wir sehen, als die Menschen, mit denen wir sprechen. Der erste, mit dem Selysses spricht, abgesehen von den Dohlen in der Anlage vor dem Rathaus und der weißköpfigen Amsel, ist der schizophrene Dichter Ernst Herbeck, der die meiste Zeit von der Kleinheit seiner Gedanken geplagt wird und die Dinge wie durch ein feines Netz vor seinen Augen wahrnimmt: vielleicht nicht der entschlossenste Schritt, um selbst die Klarheit des Realitätswahrnehmung zurückzugewinnen, eher die Mutmaßung, die Dichtung könne hinter dem feinen Netz vor den Augen ihr Zuhause haben. Das Fensterbild in den Ringen des Saturn, das den Himmelsausschnitt dokumentieren soll, ist seinerseits mit einem Gitternetz überzogen. An Maßnahmen und dokumentarischen Hilfsmitteln, sich der Realität zu vergewissern, fehlt es andererseits nicht, und die Leser sind als Zeugen aufgerufen. Das Eintrittsbillet belegt den Aufenthalt im Giardino Giusto, die Rechnung die Bestellung, wenn nicht den Verzehr einer Pizza in der Pizzeria Verona. Das vom Brigadiere schwungvoll aus der Walze gerissene Dokument kann allerdings nicht die Trauung mit Luciana belegen, und der im Konsulat zu Mailand ausgestellte Paß nicht das Zusammentreffen mit San Giorgio als Hochseilartist im Warteraum. Die Verzauberung der Welt läßt sich nicht dokumentieren, weder gibt es ein Photo von der Begegnung mit Dante noch von der mit König Ludwig, und selbst von den Kafkazwillingen im Bus zum Gardasee läßt sich trotz intensiver Bemühungen ein Lichtbild nicht beschaffen. Einige dieser Episoden ähneln den Träumen, an deren Realität der Schläfer keinen Zweifel hat, so daß er sich, angesichts ihres für ihn günstigen Charakters auch nach dem Erwachen noch lange weigert, sie als Illusion anzuerkennen. In Mailand dann warnt schon der Stadtplan vor einem Labyrinth ähnlich dem in der Dunwicher Heide, und als Selysses die oberste Galerie des Doms erklommen hat, kann er sich nur unter Aufbietung aller verbliebenen Geisteskräfte zu der Einsicht durchringen, daß es sich bei den Menschen, die weit unten über den Domplatz hasten, um lauter Mailänder und Mailänderinnen handeln dürfte. Unterdessen setzt der Jäger Gracchus seinen Weg durch alle vier Erzählungen fort, verwandelt sich in den ebenfalls von Kafka erfundenen Jäger Hans Schlag, den Selysses noch als Kind zunächst auf dem Dachboden der Mathild vermutet und dann, als reale Person, im Engelwirt beim Geschäft mit der Romana antrifft, bevor der Jäger nach jahrhunderterlanger Irrfahrt endlich unweit der Ortschaft W. die ersehnte Ruhe im Tod findet, die Barke jetzt geschrumpft zu einer Tätowierung auf dem Arm. Selysses findet in Verona, im Hotel oberhalb von Bruneck und auch auf dem Weg nach W. zu relativer Klarsicht, in W. selbst sehen wir ihn so gut wie nur als das erinnerte Kind. Auf der Rückreise dann setzt die Verzauberung wieder ein, im Zug rheinabwärts reist die Winterkönigin mit, im Zug in die ostenglische Heimat brennt London, im Traum, ein weiteres Mal.

Mit Hilfe der Erinnerung befreit sich Proust aus dem Zwischenreich von Schlaf und Wachen, auf die Erinnerung wendet er sich zurück, um aus ihr die verlorene Zeit zu befreien. Dabei ist er allerdings auf die Gnade des unwillkürlichen Erinnerns angewiesen, wie es aufsteigt aus der Madeleine oder dem unebenen Pflaster im Hof der Guermantes. Selysses findet in den Schwindel.Gefühlen kaum in den Schlaf und erwacht andererseits nicht recht aus dem Traum. Er nistet sich literarisch ein in dem üblicherweise kurzen, hier aber endlos gedehnten Augenblick des Wiederfindens der Realität nach dem Erwachen. Wer sich in der Literatur einnistet, ist nicht allein, in den Schwindel.Gefühlen vergewissert Selysses sich der Begleitung Stendhals, der eine Gravur mit der Wirklichkeit verwechselt und mit der imaginären Mme Gherardi eine imaginäre Reise an den Gardasee unternimmt und dort auf Kafkas imaginären Jäger Gracchus trifft; und Kafkas, dessen Schwierigkeiten mit der Wahrnehmung planer Wirklichkeit detaillierter Ausführungen nicht bedürfen. Erst als Selysses sich der Ortschaft W., seinem Combray, nähert, wird die Sicht klarer.

Die englische Wallfahrt unternimmt Selysses in der Hoffnung, der nach dem Abschluß einer größeren Arbeit sich ausbreitenden Leere entkommen zu können, und diese Hoffnung erfüllte sich auch bis zu einem gewissen Grad, denn selten habe ich mich so ungebunden gefühlt wie damals bei dem stunden- und tagelangen Dahinwandern. Von einem vergleichbaren Gefühl der Ungebundenheit ist in den Schwindel.Gefühlen nicht die Rede. Sieht man ab vom Erlebnis in der Dunwicher Heide und einigen anderen Vorfällen, sind die Realitätseinbußen in den Ringen des Saturn vergleichsweise gering. Hotelübernachtungen zwischen Schlaflosigkeit und Alptraum fehlen. Wenn Selysses in Lowestoft vor dem Fernsehgerät sogleich in einen tiefen Schlaf sinkt, ist das aus der hier verfolgten Perspektive positiv zu bewerten. Die Erzählung Max Aurach beginnt mit einem Reisebericht und ähnlichen Bewußtseinsstörungen wie die beiden Reise- und Wanderbücher. Umfangen von einem unbegreiflichen Gefühl der Unverbundenheit, hätte Selysses sich leicht aus dem Leben entfernen können, dann aber bewegt sich seine Aufmerksamkeit weg von der eigenen Person und hin zu der des Titelhelden. Dabei bleibt es auch in den anderen langen Erzählungen und in Austerlitz. Der Blick auf die anderen geht wie durch eine zugleich trennende und verbindende Fensterscheibe als einem Medium der Befreiung. Ein dauerhaft verläßlicher Standort aber ist auch das, wie Gregor Samsa erfahren mußte, nicht.

Freitag, 2. Mai 2014

Wegfahrlosigkeit

Vegetabil

Vom Fürsten Andrej heißt es in Tolstois Roman an einer Stelle, er habe zwei Jahre wegfahrlos (beswyjesdno) auf seinem Gut verbracht. Im Sinne eines korrekten Gebrauchs der deutschen Sprache müßte man ein Adjektiv wie ständig oder eine verbale Phrase wie ohne auch nur einmal wegzufahren verwenden. Ständig unterdrückt den Gegensatz zum Fahren und Reisen, und die verbale Phrase läßt das Fahren als eine Tätigkeit erscheinen, auf die man verzichten kann oder auch nicht. Wegfahrlos dagegen erscheint wie eine unveräußerliche Eigenschaft des Fürsten Andrej, für zwei Jahre zumindest. Die bloße Vorstellung einer zweijährigen Wegfahrlosigkeit läßt das Empfindungspendel weit zur Seite von Ruhe und Frieden hin ausschlagen. Selysses erleben wir nie wegfahrlos, er ist immer schon weggefahren und wandert weiter. Gern aber besucht er aus seinen Reisen weitgehend oder vollständig wegfahrlose Menschen, ganz besonders in den Ringen des Saturn. Bei näherer Betrachtung unterscheidet er sich von den standortfesten Eremiten wie Garrad oder Le Strange nicht so grundsätzlich, wie es scheinen mag, sein Refugium ist, wie beim Wandermönch, die Reise. Die Ringe des Saturn sind Sebalds Buch vom Krieg und vom Frieden.

Tolstoi war wie Sebald ein Nachkriegskind, wenn auch mit einem gehörigen zeitlichen Abstand zur Schlacht an der Beresina. In seinem Buch geht es aus russischer Sicht um einen Abwehrkrieg, einen guten Krieg mit einem guten Ende, Napoleon wird geschlagen und des russischen Landes verwiesen. Die Überlebenden dürfen am Ende froh in die Zukunft blicken. Für Sebald ist die Zeit der guten Kriege vorbei. Napoleons Kriege begegnen uns in den Schwindel.Gefühlen, auch in Austerlitz, im Korsikaprojekt, wäre es ausgeführt worden, hätten sie uns ein weiteres Mal begegnen können. In den Ringen des Saturn, sind es der Seekrieg zwischen Holländern und Engländern, der englische Kolonialkrieg in China, das nicht einmal als Krieg zu bezeichnende Abschlachten der Schwarzen im belgischen Kongo, das Wüten des Ustascha auf dem Balkan, der Luftkrieg der Engländer, der große vaterländischer Krieg der Deutschen und der wahre Weltkrieg, der gegen die Natur. Le Strange hatte an der Befreiung von Bergen Belsen teilgenommen, den Siegern will es aber nicht scheinen, als könnten sie erleichtert die Waffen beiseite legen, zuviel ist zerstört im Inneren der Überlebenden.
Mit dem Sieg und dem insofern eingetretenen äußeren Frieden ist es nicht getan, der innerer Frieden muß sich einstellen. Tolstois Helden, Pierre Besuchow und Nikolai Rostow, suchen den inneren Frieden durch Rückzug aufs Gut, allerdings nicht einsam, sondern als reclus en famille, avec femme et enfants. Es gilt, die zerstörerische erotische Unrast in beständige ehelicher Liebe umzuformen, Unfrieden, so die Hoffnung, tritt nur noch sporadisch und beherrscht im Inneren des Friedens auf. In Anna Karenina spielt Tolstoi die gleiche Geschichte, allerdings ohne vorausgegangenes Kriegsgeschehen, in der Gestalt Lewins noch einmal durch. Aber auch der großzügigste Landsitz kann nicht Pascals Problem beheben: de ne savoir pas demeurer en repos dans une chambre, ce que fait tout le malheur des hommes. Im wahren Leben gewann bei Tolstoi der Gedanke zunehmend die Oberhand, die üppige Ausstattung seiner Kammer in Gestalt des Gutes Jasnaja Poljana sei gerade nicht Garant des Gelingens, sondern Ursache des Mißlingens. Er verläßt das Gut zugunsten eines Lebens als Wandereremit, gelangt aber nur bis zur nächsten Bahnstation, wo er, wie inzwischen dank der Verfilmung jeder weiß, wegfahrlos noch eine Weile verharrt und dann stirbt.

Auf sein Gut zurückziehen kann sich nur, wer ein Gut besitzt. Zu unserer aller Glück erfüllt Le Strange die Bedingung, denn ihm gelingt der vielleicht vollendetste Rückzug überhaupt. Mehr oder weniger im gleichen Alter wie Besuchow oder Lewin, umgeht er doch, als habe er ihr von Tolstoi selbst ins wahre Leben verlängertes Beispiel vor Augen, deren Fehler und macht keine Anstalten, das Gut zu verwalten oder ein Familienleben aufzunehmen. Er entläßt nach und nach all sein Hauspersonal ebenso wie seine Landarbeiter, Gärtner und Verwalter, das ganze Gut, die Gartenanlagen und der Park verwildern zusehends und verfallen, und die brachliegenden Felder wachsen von den Rändern her zu mit Strauchwerk zu. Er engagiert die damals noch sehr junge Florence Barnes als Haushälterin unter der ausdrücklichen Bedingung, daß sie die von ihr zubereiteten Mahlzeiten mit ihm gemeinsam, aber unter Wahrung absoluten Stillschweigens einnehme. Die verbreitete Gemeinschaft von Tisch und Bett ist auf den Tisch reduziert, und der wird seinerseits um das Tischgespräch gebracht und damit sozusagen halbiert. Wir wissen naturgemäß nicht, mit welcher Strenge die ursprüngliche Vereinbarung über die Frist von dreißig Jahren und mehr eingehalten wurde, und was sonst noch alles geschehen sein mag. Über die Gartenhecke hinweg sieht man Le Strange jedenfalls nur in animalischer Begleitung, umgeben von allem möglichen Federvieh, von Perlhühnern, Fasanen Tauben und Wachteln und den verschiedenen Garten- und Singvögeln, die teils am Boden um ihn herumliefen, teils in der Luft ihn umflogen. Wenn man ihn selbst gelegentlich sieht in einem kanarienfarbenen Gehrock sieht oder einer Art Trauermantel aus verschossenem veilchenfarbenen Taft mit vielen Knöpfen und Ösen, hat seine Erscheinung durchaus etwas Blumen- oder Blütenhaftes, eine riesenwüchsige Wanderorchidee, könnte man meinen. Einmal im Sommer habe Le Strange, so heißt es, in seinem Garten eine Höhle ausgehoben, in der er tage- und nächtelang gesessen sei gleich dem heiligen Hieronymus in der Wüste, vielleicht aber nicht nur dem Beispiel des Heiligen folgend, sondern um sich einzupflanzen und Wurzeln zu schlagen und die letzten Reste von Lokomotion abzustellen. Das vegetabile Leben ist bei Tolstoi ein häufiges Motiv, oft mit dem Charakter einer simplen und gut vernehmbaren didaktisch-moralischen Begleitmusik, so der Baum, der den gelungensten der Drei Tode stirbt, oder die von keinem Schicksalsschlag zu bezwingende Distel in Hadschi Murat, zerstörbar aber nicht besiegbar. Bei Sebald ist es eine verborgene Melodie, von der man, wenn sie verklungen ist, nicht recht weiß, ob man sie tatsächlich gehört hat.
Man stellt sich Le Strange eher nicht als fröhlichen Menschen vor, aber nachdem selbst Sisyphos als glücklicher Mensch gilt, ist Zurückhaltung bei der Beurteilung von Gemütszuständen mythischer Gestalten zu empfehlen. Nachdenklich muß auch stimmen, daß Le Strange keine Anstalten macht, den Zustand der Wegfahrlosigkeit und des Rückzuges aufs Gut zu beenden, es muß ihm alles gepaßt haben. Verborgen in der kleinen Transzendenz seines Hauses und seines Gartens ist er nahezu so unbekannt und so endlos ausdeutbar wie Gott in seiner großen. Schlägt man im modernen Medium unserer Tage nach zur Frage, ob Gott lachen kann und gegebenenfalls von diesem Vermögen Gebrauch macht, so ist die Angelegenheit längst entschieden: er ist ein immer fröhlicher und lachlustiger Gott, ein gutgelaunter Demokrat wie du und ich. In Zeiten, als Theologen noch etwas zu sagen hatten und ernsthaft nachdachten, bevor sie sich äußerten, waren sie vorsichtiger in ihrem Urteil. Gott dachten sie als eher jenseits von Frohsinns und Ernstes, beider nicht bedürftig. So ähnlich denken wir uns auch Le Strange, mit dem leichten, oft unmerklichen Lächeln seines Schöpfers in den Augenwinkeln.