Donnerstag, 11. April 2019

Gefährder

Europaweit

Der Rasiersessel stand leer. Das Rasiermesser lag, aufgeklappt, auf der marmorierten Platte des Waschtischs. Vor nichts hatte er sich mehr gefürchtet, als wenn der Barbier, bei dem er sich als Kind jeden Monat einmal die Haare schneiden lassen mußte, ihm mit diesem an dem Lederriemen frisch abgezogenen Messer den Hals ausrasierte. Derart tief hatte diese Furcht in ihn sich eingegraben, daß ihm, als er viele Jahre zum ersten Mal eine Darstellung der Szene sah, in welcher Salome das abgeschnittene Haupt des Johannes hineinträgt, sogleich der Barbier aus Kindertagen in Erinnerung gekommen ist. Und daß er sich vor einigen Jahren im Bahnhof Santa Lucia aus freien Stücken habe rasieren lassen, das ist ihm nach wie vor eine ganz und gar unbegreifliche Ungeheuerlichkeit. Wie um die Furcht als berechtigt zu bestätigen, erzählt Bernhard von einem Vorfall in England. Ein plötzlich wahnsinnig gewordener Friseur soll in London einem angeblich zur königlichen Familie gehörenden Herzog mit dem Rasiermesser den Kopf abgeschnitten haben und jetzt in der Irrenanstalt Reading leben, die früher das berühmte Zuchthaus zu Reading gewesen ist. Hat Szerucki, der Mann aus Chéruy, diese Notiz gelesen? Eher ist von einer endogenen Panik auszugehen. Er sitzt schon auf dem Frisierstuhl, der Friseur macht sich in einem Nebenzimmer zu schaffen, als ihn plötzlich eine wilde Angst überfällt, der Barbier möchte ihm womöglich die Kehle durchschneiden. Ein ganz normaler Friseur, ein ganz normaler Mensch, dem plötzlich dieser Gedanke in den Kopf gestiegen wäre. Er kann diesen Gedanken nicht loswerden, er klebt ihm am Hirn, dieser Gedanke, der Friseur kämpft, ringt mit diesem verfluchten Gedanken, aber er kommt nicht zurecht, der Gedanke hat ihn gefesselt, der Gedanke ist ihm aufs Hirn gefallen, auf den Kopf ist ihm die Saat des Bösen gefallen. Szerucki versucht sich durch systematisches Denken zu beruhigen, vergeblich. Unter all den vieltausend Friseuren in diesem schönen Land, mag da einem diese fixe Idee, wie die Franzosen sagen, auf den Kopf gefallen und dort Wurzeln geschlagen haben? Es ist möglich, und warum soll es, die statistische Gleichberechtigung im Sinn, nicht der sein, der gleich aus dem Nebenzimmer hervorkommt? Die Kehle schnürte sich Szerucki zusammen. - Soviel sei verraten, die polnische Geschichte nimmt, anders als die englische, ein gutes Ende, zumindest fürs erste.

Mittwoch, 10. April 2019

Zombie

Ökumene

Wenn Emmanuel Todd, französischer Historiker, Anthropologe, Demograph, von Zombiekatholizismus spricht, hat er bestimmte, ursprünglich vom Katholizismus geprägte Landstriche im Auge, aus denen der katholische Glaube, orientiert man sich an der Zahl der regelmäßigen Gottesdienstbesucher, so gut wie verschwunden ist, der Katholizismus aber nach wie vor die Einstellungen der Menschen maßgeblich bestimmt, etwa, für das Gemeinwesen nicht unerheblich, die Entscheidung an der Wahlurne. Der Einzelne, den Todd nicht im Auge hat, ist im Feld von Glaube und Unglaube auf eine je eigene Weise positioniert. Sebald schildert seine eigenen Orte, seine Entwicklung auf mythologische Weise. Auf Grünewalds Altarbild in der Pfarrkirche von Lindenhardt schicken sich sein Namenspatron und damit er selbst an, über die Schwelle des Rahmens und damit aus der Gemeinschaft der Heiligen heraustreten. Auf Pisanellos Bild des Giorgio mit dem Strohhut geht von dem demissionierten Heiligen bereits etwas herzbewegend Weltliches aus, und schließlich trifft der Dichter den Schutzpatron, er heißt jetzt Giorgio Santini, als lebendigen Menschen und Doppelgänger, als Hochseilartisten auch und somit als Berufskollegen der Kunstschaffenden und Literaten im deutschen Konsulat zu Mailand. Als ehemaliger Angehöriger der Riege katholischer Heiliger ist er kaum mehr zu erkennen.

Man könnte sich mit dieser Selbstbeschreibung in Bildern zufriedengeben und es belassen bei den Fakten, die Uwe Schütte vermittelt. In seiner frühen Jugend war Sebald, das mag überraschen, zunächst ein ferventer Katholik, hat sich dann aber noch in der reiferen Jugend entschieden vom katholischen Glauben abgewandt. Details, Begründungen sind für beide Positionen nicht bekannt. In der Not kehrt man zurück zu den Bildergeschichten in Gestalt des in Brescia zugestiegenen jungen Mädchens mit einer aus vielen farbigen Flecken geschneiderten Jacke um die Schultern, tief und still versenkt in einen Bilderroman. Das wäre ohne Bedeutung, wenn nicht im gleichen Abteil eine Franziskanerin säße, ganz der Lektüre ihres Breviers hingegeben. Mit tiefem Ernst wenden sie die Blätter um, einmal die Franziskanerschwester, dann das junge Mädchen und dann wieder die Franziskanerschwester. Man könnte meinen, sie läsen in einem gemeinsamen, Brevier und Bildroman übergreifenden Werk. Die dritte Person im Abteil, der Dichter, wendet sich notgedrungen ebenfalls der Lektüre zu und zieht den Beredten Italiener hervor, ein altertümliches Sprachlehrbuch. Die Fortschritte im Erlernen des Italienischen sind gering, zu sehr fesselt ihn der von dem Büchlein vermittelte Eindruck, die Welt sei zur Gänze aus Wörtern zusammengesetzt, als wäre dadurch das Entsetzliche in Sicherheit gebracht, als gäbe es zu jedem Teil ein Gegenteil, zu jedem Bösen ein Gutes, zu jedem Verdruß eine Freude, zu jedem Unglück ein Glück und zu jeder Lüge auch ein Stück Wahrheit. Damit hat er die protestantische Welt des Johann Peter Hebel betreten, der dem blind und taub sich fortwälzendem Prozeß der Geschichte Begebenheiten entgegenhält, in denen ausgestandenes Unrecht entgolten wird, auf jeden Feldzug ein Friedensschluß folgt, jedes Rätsel eine Lösung hat, und wo im Buch der Natur auch die kuriosesten Kreaturen wie die Prozessionsspinner und die fliegenden Fische ihren Platz haben. So fahren sie dahin in ungetrübter Eintracht, das schöne Weltkind, die nicht weniger schöne Nonne und der Geist des Protestantismus in seiner schönsten Form. Eine von Glaubenskriegen geprägte Vergangenheit ist nicht mehr vorstellbar. Als der Dichter aber in Mailand auf dem Bahnsteig steht, sind das Mädchen mit der vielfarbigen Jacke und die Franziskanerschwester längst verschwunden.

Dienstag, 9. April 2019

Literarische Größen

Mann und Frau

Die Umschlagsillustration eines Buches zur Geschichte der neueren deutschen Literatur zeigt Abbildungen von Thomas Mann, Ingeborg Bachmann, Herta Müller und Sebald. Uwe Schütte kommentiert: Thomas Mann steht naturgemäß an erster Stelle, aber warum eigentlich nicht Brecht? Ihm zur Seite gestellt wird Ingeborg Bachmann. Die Nobelpreisträgerin Herta Müller folgt wohl mehr aus Gründen der Genderparität. Bei aller Willkür, die solche Selektionen stets auszeichnet, liefert die Umschlagsillustration eine weiters Indiz für Sebalds immer weiter fortschreitende Kanonisierung. Schütte kann man in aller Kürze wiederum so kommentiert werden: Brecht als Sprachmeister mehr als ebenbürtig, hatte aber, verglichen mit Mann, noch mehr Blödsinn im Kopf, zur anderen Seite hin; Bernhard stand leider noch nicht parat. Bachmann, als Lyrikerin sicher obenan. Müller, auch nicht schlimmer als verschiedene männliche Preisträger deutscher Sprache und Nation. Sebald, ein ernsthafter Konkurrent weit und breit nicht in Sicht.

Montag, 8. April 2019

Heimat

Dialekt und Weihrauch

Wer, in Bielefeld geboren, später erfahren hat, daß es die Stadt Bielefeld nicht gibt, ist den Schwierigkeiten im Umgang mit dem Heimatbegriff im Prinzip entkommen. Es bleibt die Frage, wo und wie er, zumindest rudimentär, die deutsche Sprache erlernt hat. In den Dörfern um Bielefeld, denen die Existenz nicht abgesprochen wird, Thesen, Stiegholz, Jöllenbeck, wie immer sie heißen, sprachen die alten Leute, wenn sie unter sich waren, damals Plattdeutsch, in der nächsten Generation hat sich diese Sprache dann verloren, und manchen mag es noch heute schmerzen, die Gelegenheit verpaßt zu haben, diese wirklich schöne Mundart sozusagen kostenlos und wie im Flug zu erlernen.

So ausgerüstet fällt es dem Ostwestfalen schwer, sich Sebalds Heimatbild zu nähern, selbst wenn er sich zunächst allein an die Figur des Erzähler hält, der dem Autor ähnlich, keineswegs aber mit ihm identisch ist. Im übrigen legen Autor und Erzähler, wie sie, sicher nicht ohne Augenzwinkern, zu erkennen geben, auf das Verständnis eines Norddeutschen keinerlei Wert: die Seelos Regina hat nach Norddeutschland geheiratet, mehr gibt es über sie nicht zu sagen, sie ist aus der Welt gefallen. Wenn der Erzähler auf Reisen Touristen begegnet, sind es nahezu ausnahmslos ehemalige Landsleute, Schwaben, Franken und Bayern, und fast noch mehr als die unsäglichen Dinge, die sie reden, sind ihm die auf das ungenierteste sich breitmachenden Dialekte zuwider. Der weit hinten im Hals wie eine Vogelsprache artikulierten Dialekt aus dem benachbarten Tirol wird gleich mit in die Verdamnis geschickt. Man vergleiche das etwa mit der Sprachverständnis Claude Vigées, der wunderschön in der französischen und nicht weniger schön und selbstverständlich in der elsässischen Sprache schreibt, einer Variante des Deutschen, die auch nicht bekannt ist für die Schonung des Rachenraums. Ein Literatur- und damit auch Sprachwissenschaftler mit einer derartig ablehnenden Haltung gegenüber den Dialekten, wie Sebald es anscheinend war, ist sicher eine Rarität. Auch Uwe Schütte geht in seinem neuen Buch von der Sprache als erster, wenn nicht einziger Komponente des Heimatbegriffes aus. Die schützende Abgelegenheit des Ortes habe Sebald das Kind durchaus zu schätzen gewußt, die überwiegend liebevolle Schilderung des Ortes W. und seiner Bewohner, vornweg die Mathild Seelos, dann der Buchdrucker Specht, die Frau Unsinn mit ihrer Sanellapyramide, der Arzt und der Pfarrer auf ihren schweren Motorrädern &c. lassen nichts anderes erwarten. Der in der Ortschaft konkurrenzlose alemannische Dialekt war die einzige ihm zugängliche Sprache und als solche unangefochten und aller Kritik entzogen. Daß es für den angehenden Germanisten so nicht bleiben konnte ist klar, schwer verständlich aber die geringe Gelassenheit bei der Loslösung, auch wenn sie später vielleicht zum Teil nur literarisch inszeniert wurde.

Auch in Norddeutschland und zumal in Ostwestfalen ist manches Nachkriegskind in der Obhut des Großvaters aufgewachsen, eines in protestantischer Umgebung oft zwanglos gottlosen Großvaters und mithin als zwanglos gottloses Kind, sicher eine heimatliche, als solche aber eher unauffällige Prägung, nicht zu vergleichen mit den Leidenschaften, die Meßdienerschaft, Weihrauch und Katholizismus seit jeher umgeben. Von Schütte erfahren wir, Sebald sei als Kind ein guter und freudiger Katholik gewesen und habe eine Zeitlang Pfarrer als Berufswunsch angegeben. Der Grund für die frühe religiöse Geneigtheit ist ebensowenig bekannt wie der für die spätere mehr oder weniger abrupte Abkehr. Schüttes Ausführungen zum Großvater Josef Egelhofer legen aber nahe, bei ihm die Erklärung zu suchen, nicht unbedingt in Form der Vermutung, der Großvater habe sich in besonderer Weise in die religiöse Erziehung oder Entziehung des Enkels eingemischt. Vielmehr hat der Tod des Großvaters, so die Annahme, dem damals Zwölfjährigen alle möglichen Schleier von den Augen gerissen, darunter auch wohltätige, wenn nicht notwendige, vielleicht wäre er ohne diesen Tod zu dieser Stunde tatsächlich Pfarrer geworden - nicht auszudenken und zum Glück reine Spekulation. Über die vielen Heiligen in Sebalds Werk kann ein zwanglos Gottloser sich unbeschwert freuen, christliche Heilige und säkulare Heilige, sowie säkulare Heilige, die sich gern und mühelos in kanonisierte Heilige verwandeln, so wie der Major Le Strange einmal in den heiligen Franziskus und dann wieder in den heiligen Hieronymus.

Sonntag, 7. April 2019

Humorlos

Forschung auf der Hut

Eine der gröbsten Fehlleistungen der Kultur- und Weltgeschichte ist die Figur des humorlosen Sebald. Vor nicht allzu langer Zeit rühmte sich ein Fachmann, der Name ist nicht mehr zur Hand, nun gerade beim Studium der posthum veröffentlichten Lyrik möglicherweise winzige Spuren von Humor, ähnlich den hellgrünen Spuren der Veroneser Erde auf den Flügeln der Engel, beim bis dato völlig und einwandfrei humorlosen Dichter entdeckt zu haben, wissenschaftlich abgesichert sei das noch nicht, viel Forschungsarbeit sei noch zu leisten. Es gilt verbreitet das Axiom, Melancholie und Humor schlössen sich aus, dabei ist das Gegenteil wahr, wie man vielerorts, eindrucksvoll etwa bei Hermann Lübbe nachlesen kann. Richtig ist vielmehr, daß melancholiefreier Humor nur quäkt und nichts wert ist. Uwe Schütte macht sich die dankenswerte Mühe, einige der wichtigsten Kabinettstückchen Sebaldschen Humors vor Augen zu führen: das Gespräch mit der türkischen Fährfrau in Kissingen, die Kafkaknaben im Bus nach Riva, der Kampf um den Cappuccino in der Ferrovia Venedig, die Fischschnitte in Lowestoft, andere noch, wiederum andere wären zu ergänzen, die philosophisch gestimmten Sandler im Bahnhof Innsbruck und vor allem anderen vielleicht Janine Dakyns‘ Papierlandschaften, die offen für den Verbund von Melancholie und Humor plädieren. Wer da nicht lachen kann, sollte es ganz seinlassen, er lachte denn zur falschen Zeit am falschen Ort.

Fauna und Flora

Wohlverdiente Ruhe

Jemand, der sich an keinen der Klassenkameraden aus seiner dreizehnjährigen Schulzeit genauer erinnern kann – wären Klassenkameradinnen darunter gewesen, würde die Bilanz wohl günstiger ausfallen -, dem aber die zwei Schäferhündinnen seiner Kindheit so klar vor Augen stehen, als seien sie noch unter den Lebenden, Gitta eher klein und graufarben, Claudia kräftig in verschiedenen Brauntönen, beide furchtlos und erhaben über Banalitäten wie Fressen und Hunger, solange man nur bereit war, mit ihnen über die Höhen und durch die Täler des Teutoburger Waldes zu streifen: ein solcher Jemand also weiß, wenn er die ersten zwei Seiten von Austerlitz gelesen hat und angekommen ist bei dem Waschbären, der seinen Apfelschnitz mit einer weit über jede Vernünftige Gründlichkeit hinaus putzt, er weiß mit Sicherheit, daß er in dieser Prosa ein Zuhause hat. Uwe Schütte hat in seinem neuen Buch, Annäherungen, ein Kapitel der Tierwelt in Sebalds Werk gewidmet. Das Kapitel wird eingeleitet mit einem Photo, das Sebald neben seinem Hund auf einem Sofa zeigt, beide, jeder nach seinem Vermögen, offenbar nachdenkend über sich selbst, über den anderen und über den Grund der Dinge. In der Prosa dominieren aber nicht die engeren Vertrauten des Menschen - Hunde gibt es in überschaubaren Maße, Katzen und Pferde fehlen fast vollständig -, sondern die Vertreter immer niedrigerer Stufen des Tierreiches, von Kleinsäugern über Vögel und Fische bis hin zu Insekten und Raupen verschiedener Machart. Offenbar führt der Weg bewußt über eine immer enger, zerbrechlicher und unscheinbarer werdende Brücke möglichen Verstehens zwischen Mensch und Tier. An einer Stelle, wo von einem träumenden Salatkopf die Rede ist, geht Sebald nach Schüttes Einschätzung zu weit, man mag an dieser Stelle aber auch die allgegenwärtige melancholische Heiterkeit des Dichters spüren, die immer auch mit einer Prise Eigenspott versetzt ist.

Den Salatköpfen und Krauthäuptern jedenfalls widmet Schütte zu Recht kein eigenes Kapitel, wohl aber den Bäumen. Schütte zeichnet realistisch nach, was bei Sebald eher symbolisch überhöht erscheint: die Bäume haben viele Menschen zum Freund, die Menschheit aber als Feind. Den Bäumen ergeht es seit Jahrhunderten so, wie es den Indianern für alle sichtbar im Zeitraffer weniger Jahrzehnte ergangen ist, beseitigt, wo sie im Wege waren, ausgenutzt bis zum Verrecken, wo sie ausgenutzt werden konnten, und massenhaft krepiert an den eingeschleppten Infektionskrankheiten der Usurpatoren. Der Dichter kann nicht auf alles schauen, die Indianer kommen ihm nur einmal kurz als kleine kupfrig glänzende Männer in den Blick. Die Indianer können nicht mehr zurückschlagen, die Bäume schlagen bereits zurück durch ihr pures Verschwinden. An einer Stelle wird der Kapitalismus als Schuldiger ausfindig gemacht, die Arbeiter- und Bauernstaaten wollten den Bäumen aber keine bessere Perspektive bieten. So hatten die futuristischen Kommunisten Rußlands vorgeschlagen, das ganze unnütze Sibirien mit all seinen Bäumen, Sträuchern und Kräutern einzuebnen und zu asphaltieren, damit man nach der Natur endlich seine Ruhe habe.

Auslöser

Morituri

In seinem neuen Buch, Annäherungen, vermittelt Uwe Schütte eine wirklich zu beherzigende Einsicht: Nicht der Holocaust, sondern der Tod des Großvaters ist für Sebald die seine Literatur auslösende Urerfahrung. Schütte hätte noch einen Schritt weitergehen können hin zum mit dem Tode des Großvaters verbundenen Innewerden der eigenen Sterblichkeit. Sebald verbirgt allerdings den eigenen Tod, Schütte schreibt: Retardierung, ein Komplement des wundersamen Gefühls der Levitation, vermag das Joch der Sterblichkeit von uns zu nehmen und zumindest vorübergehend das Mahlwerk der Zeit aufhalten. Retardierung und Levitation gehören als prominente Komponenten zum Stilideal des Dichters.

Sebald verbirgt die eigene Sterblichkeit im krassen Gegensatz zu Stachura, bei dem sie in keinem Satz übergangen wird. Die beiden Dichter sind so unterschiedlich wie nur möglich, und doch heimlich verbunden. Sebald strebt nach Kellers Vorbild den schönen Satz an und findet ihn mit traumwandlerischer Sicherheit, Stachura verabscheut nach seinen eigenen Worten den schönen Satz und praktiziert ihn nicht. Um eine gewisse Vorstellung zu vermitteln: In einzelnen Passagen erinnert er an Beckett. Im übrigen kann man in Deutschland oder auch in England über Stachura unbesorgt so viel schreiben wie man will, da Übersetzungen fehlen, ist die Zahl derer, die kompetent widersprechen könnten, niedrig. Immerhin gibt es Eintragungen bei Wikipedia in verschiedenen allgemein zugänglichen Sprachen, die unter anderem Stachuras Tod im Jahre 1979 ausweisen, ein Tod durch Selbstmord, da der Dichter den Tod nicht länger ertrug. Ein Selbstmord zudem in zwei Anläufen, ein erster weitgehend erfolgloser Anlauf, wie im Fall Bereyters mit Hilfe der Bahn, ein zweiter abschließend erfolgreicher Anlauf mit Hilfe des Stricks. Über die drei Monate zwischen den beiden Versuchen hat Stachura ein wirklich nahegehendes Tagebuch verfaßt, geschrieben mit der linken Hand, die rechte Hand hatte der Zug zertrümmert. Als er starb, war Stachura zweiundvierzig Jahre alt, deutlich jünger als Sebalds literarische Todeskandidaten.

Rangordnung

Wittgensteins Regel

Jeder, der Austerlitz von der Pole-Position in Sebalds Prosawerk verweist und weit hinten auf dem letzten Platz in der Rangordnung* einordnet, ist zu loben. Diese Position vertritt auch Uwe Schütte in seinem neuesten Buch Annäherungen, verwahrt sich aber gleichzeitig gegen überbordende Kritik aus England und insbesondere gegen die von Adam Thirlwell. Thirlwell sieht Kitsch. Das deutsche Wort Kitsch wird gern im nichtdeutschen Sprachraum verwandt, und ab und zu kann man sich fragen, ob die Bedeutung des Wortes überhaupt verstanden wurde. Kitsch sieht Thirlwell einmal, so Schütte, im tiefen Geschichtspessimismus des Autors: einem Autor das zulässige Maß an Pessimismus vorzuschreiben, das wäre ein neuer Weg, wer ihn gehen will, sollte bei Schopenhauer üben und sich dann bei Houellebecq bewähren. Zudem kritisiert Thirlwell die ungeschickten Übergänge zwischen den einzelnen Erzählabschnitten. Das zu kritisieren ist zulässig, ohne das aber Kitsch im Spiel wäre, zumal Sebald selbst die Unwahrscheinlichkeit der verschiedenen Treffen mit Austerlitz provokativ fast noch über das Maß des Unmöglichen hinaushebt, sie also als irreal markiert. Man kann sich fragen, warum Sebald überhaupt an der vertrauten Figur des ihm verwandten Icherzählers festgehalten hat. Hätte er die Schilderung des ersten Treffens in Antwerpen so gelassen wie er ist, um Austerlitz dann bei einem einzigen weiteren Treffen seine Lebensgeschichte im Zusammenhang erzählen zu lassen, wäre das Ergebnis womöglich ansprechender gewesen.

Zu Recht betont Schütte, daß Austerlitz trotz der angedeuteten Schwächen hoch über dem Durchschnitt der deutschen Prosaliteratur schwebt. Die besondere Popularität des Buches allerdings beruhe auf den behandelten beliebten Themen wie Holocaust, Trauma, Erinnerung. Zwei so unterschiedliche Köpfe wie Deleuze und Cioran finden unisono zu dem Urteil, daß das sujet conscient nie Träger der künstlerischen Wahrheit sein kann, sondern immer nur les thèmes inconscients, les archétypes involontaires, où les mots, mais aussi les couleurs et les sons prennent leur sens et leur vie (Wortlaut Deleuze, bei Cioran ganz ähnlich). Auf dem so beschriebenen Feld, genau dort, wo sie liegen soll, liegt Sebalds Stärke, und diese Stärke ist auch Austerlitz nicht abzusprechen. Wem das nicht einleuchtet, sollte sich an Wittgensteins goldene Regel halten: Wenn du keine Ahnung hast, halte am besten den Mund.

* Wenn die Verbannung von Austerlitz in die hinterste Startreihe sozusagen das Erste Staatsexamen in der Sebaldkunde sichert, so ist für das Zweite Staatexamen erforderlich, die Schwindel.Gefühle auf die Pole-Position zu setzen. Das zweite Examen haben bislang wenige abgelegt, bekannt sind John Burnside und ein weiterer, der seinen Namen nicht nennen will.

Annäherungen

Uwe Schütte



Samstag, 6. April 2019

Ratschluß

Weltvernunft


Das Gesicht aufwärts gekehrt, dorthin, wo die himmlischen Heerscharen durch die Luft fahren und uns, wenn wir hinsehen wollen, einen Begriff geben von dem, was sich über unseren Köpfen vollzieht: Tiepolo hatte schon den Hauch der neuen Zeit gespürt. Zur alten Zeit, der Zeit der Christenheit, also vom vierten bis zur Mitte des achtzehnten Jahrhunderts, war das wichtigste Philosophem dasjenige von Gottes unergründlichem Ratschluß, nach Blumenbergs unwidersprochener Auslegung unergründlich auch für Gott selbst. Im Rahmen der sogenannten Aufklärung besann man sich auf die alte griechische Hoffnung, die Vernunft der Welt verlaufe alles in allem der des Menschen parallel. Kant versuchte, auf die Bremse zu treten, das Ding an sich immerhin bliebe der Vernunft und uns verschlossen, aber darüber brauste Hegels Weltgeist mit Furor hinweg, ebenso wie seine Nachfolgerin, die von Marx materiell neu eingekleidete Weltvernunft. Wittgenstein hat dann die als intransparent gesehene Sprache zwischen uns und die Welt gelegt, vergleichsweise einfach wäre es, der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zu zeigen. Luhmanns flehentlicher Ruf schließlich: Nie wieder Vernunft! - ist erklungen und verhallt, man will ihn nicht hören.


Dienstag, 2. April 2019

Griechische Sandler

Philosophenregel

Ein Dutzend Sandler waren es im Innsbrucker Bahnhof und eine Sandlerin. Sie bildeten eine bewegte Gruppe um einen Kasten Gösser-Bier, der wundersamerweise, gewissermaßen aus dem Nichts hervorgezaubert, auf einmal in ihrer Mitte stand. Verbunden untereinander durch die weit über die Landesgrenzen hinaus für ihren Extremismus bekannte Tiroler Trunksucht, verbreiteten sich diese teils kaum erst aus dem bürgerlichen Leben ausgeschiedenen, teils ganz und gar zerrütteten Tiroler Sandler, die durch die Bank einen Zug ins Philosophische, ja sogar ins Theologische hatten, über das Tagesgeschehen sowohl als über den Grund aller Dinge, wobei es regelmäßig gerade denjenigen, die besonders lauthals das Wort ergriffen, mitten im Satz die Rede verschlug oder aber sie winkten voller Verachtung ab, weil sie den Gedanken, den sie gerade noch im Kopf gehabt hatten, nicht mehr in Worte fassen konnten. – Man darf sich nicht täuschen lassen, die geschilderte Szene ist von der philosophischen Wahrheit, vom philosophischen Mainstream nicht so weit entfernt, wie es scheinen mag. Was war Diogenes von Sinope in seiner Tonne anders als ein Sandler, und mußte nicht Heraklit, wenn ihn jemand, was selten genug vorkam, in seiner heruntergekommenen Behausung besuchte und zögernd innehielt, ausdrücklich darauf hinweisen, daß auch hier Götter sind? Im Unterschied zu den Tiroler Sandlern waren die griechischen allerdings ausgeprägte Einzelgänger, philosophische Gruppenseminare fanden nicht statt, Diogenes konnte ohnehin auch mit Hilfe einer Lampe keine Menschen, geschweige denn Philosophen finden. Der aus dem Nichts enstandene Kasten Gösser-Bier rührt naturgemäß an die Grundlagen der Philosophie, die πρώτη φιλοσοφία: Wurde der Kasten aus dem Feuer geboren - Heraklit würde kompromißlos darauf bestehen - oder aus dem Wasser; vom zwischen den philosophischen Fronten vermittelnden Feuerwasser, Miniwakan, spricht man beim Bier angesichts seines geringen Alkoholgehalts nicht. Schwierigkeiten bereitet die Zuordnung der einsamen Sandlerin in der Männergesellschaft. Hypatia oder Hipparchia scheiden aus als Bezugspunkt, eher mag man an Xanthippe denken, also keine Philosophin, sondern die getreue Gefährtin eines Philosophen. Und wenn die Sandler abwinken, weil sie den angedachten Gedanken nicht in Worte fassen können, ja, das ist nichts als eine gute Philosophenregel von altersher, wovon man nicht reden kann, darüber muß man schweigen.

Montag, 1. April 2019

Ausgeglichene Bilanz

Zweiter Durchgang 1987

Fast scheint es, als ließe sich die zweite Italienreise, sieben Jahre später, noch schlimmer an als die erste, der Nachtzug nach Venedig ist hoffnungslos überfüllt, das Bahnhofsgelände komplett belegt von lagernden Touristen, dem Teil der Menschheit, den der Erzähler am wenigsten schätzt. Als er dann noch eine Ratte die Bordkante eines mit Müll beladenen Kahns entlanglaufen sieht, entschließt er sich, unverzüglich nach Padua weiterzufahren. Aber es waren ja nicht die die äußeren Umstände, sondern die innere Unruhe, die die erste Reise scheitern ließ, jetzt ist er weitaus ausgeglichener. In Padua will er nicht länger verweilen, es geht ihm nur um Giottos Fresken in der Kapelle Enrico Scrovegni und dabei vor allem um Giottos Engel, die in stummer Klage seit siebenhundert Jahren über unserem Unglück schweben und zugleich das Wunderbarste sind, was wir uns jemals haben ausdenken können. Er will unmittelbar weiterfahren nach Verona, bleibt aber, Kafka im Kopf, sitzen im Zug bis Desenzano. Die peinliche Begebenheit im Bus nach Riva, wo man ihn für einen zu seinem Vergnügen in Italien reisenden Päderasten hält, veranlaßt ihn, bereits in Limone auszusteigen, das unerfreuliche Vorkommnis verwandelt sich in einen Glücksfall in der Gestalt von Luciana Michelotti. Der Verlust des Passes setzt eine dreiteilige Sequenz des Glücks in Gang: die Trauung mit Luciana, bei all ihrer zeitlichen Begrenztheit, die Zugfahrt mit der Franziskanerin von vielleicht dreißig oder fünfunddreißig Jahren und dem junges Mädchen mit einer aus vielen farbigen Flecken geschneiderten Jacke um die Schultern, von vollendeter Schönheit waren sie beide, und dann die Begegnung mit dem Artisten Giorgio Santini, der sich aufgrund verschiedener Indizien als San Giorgio in moderner Gestalt erweist. Daß er zuvor in der Nähe des Mailänder Bahnhofs von zwei Straßenräubern überfallen wird, fällt nicht negativ ins Gewicht, er schlägt sie mithilfe seiner Tasche in die Flucht und rückt so seinem Schutzpatron, dem heiligen Georg, als Kämpfer gegen das Böse näher. Dagegen ist der wiedererlangte Paß, die wiedererlangte Identität eher ein Rückschlag, Schwindelgefühle machen sich wieder geltend. Dann geht es weiter nach Verona, dem eigentlichen Reiseziel. Im Hotel Goldene Taube wird er geradezu fürstlich empfangen, Nachtruhe und Frühstück grenzen ans Wunderbare, das konnte niemand erwarten. Später dann läßt er sich in der Biblioteca Civica Zeitungsbände des Jahres 1913 geben, dem letzten Jahr des 19. Jahrhunderts, die Lunte brennt herunter. Er vertieft sich in eine Reihe krauser Begebenheiten, der Eindruck einer gezielten Recherche stellt sich nicht ein. Am Nachmittag führt in der Weg zur Piazza Bra an der inzwischen geschlossenen Pizzeria Verona vorbei. Als er sich im gegenüberliegenden Photogeschäft nach Einzelheiten erkundigt, schüttelt der Inhaber nur stumm den Kopf und bricht, als er wieder geht, in wüste Verwünschungen aus. Vielleicht war die panikartige Flucht sieben Jahre zuvor doch nicht ganz unbegründet. Vor der Bar mit der grünen Markise auf der Piazza unterrichtet Salvatore Altamura den Erzähler über die weiteren Vorkommnisse im Zusammenhang mit der Organizzazione Ludwig in den Jahren nach 1980. Die Organisation habe nur aus zwei jungen Leuten bestanden. Es ist höchst unwahrscheinlich aber nicht ausgeschlossen, daß es die Augenpaare eben dieser Jungen Leute waren, die der Erzähler immer wieder auf sich gerichtet sah.

Auf der ersten Italienreise werden Harmlosigkeiten wie, als Beispiel, die Bestellung eines Cappuccinos zu imaginären Katastrophen bis hin zum Verlust des eigenen Kopfes, auf der zweiten Reise werden reale Mißgeschicke wie, als Beispiel, der Pädophilieverdacht im Bus nach Riva zum realen Glücksfall der Einkehr bei Luciana Michelotti in Limone. Übergreifend kann man wohl von einer ausgeglichenen Reisebilanz sprechen.

Sequenz des Unheils

Dämonen

Die italienische Reise des Erzählers im Jahre 1980 wird zu einer Reihung unheilvoller Eindrücke. Es beginnt in Wien und setzt sich in Venedig fort. Während der nächtlichen Anreise erscheint ihm im Traum Tiepolos Bild der von der Pest heimgesuchten Stadt Este und dem, was sich über unseren Köpfen am Himmel vollzieht. Die scharfe Rasur noch beim Bahnhofsbarbier der Ferrovia Santa Lucia verläuft unauffällig, später aber, als er sich aus der Kindheit an den Barbier Köpf erinnert, den er im Wortsinn für einen Halsabschneider gehalten hat, fragt er sich, wie dieses Unterfangen ihm nur in den Sinn kommen konnte, eine Antwort findet er nicht. Von Beginn an aber schaut er mit lächelnder Selbstironie auf seine Mißgeschicke, und diese Haltung behält er aufs Ganze gesehen bei. Aufrecht und reglos standen die Steuermänner im Heck der schwer beladenen Kähne, die Hand am Ruder schauten sie unverwandt voraus, jeder einzelne von ihnen ein Sinnbild der Wahrheitsbereitschaft. Wie er zu diesem Eindruck kommt, kann der Erzähler selbst nicht sagen und auch nicht, ob es sich um eine Verheißung oder um einen Fluch handelt. Sicher aber ist, wen jemand hineingeht in das Innere dieser Stadt und in einer sonst leeren Gasse jemandem hinterdrein, so bedarf es nur einer geringfügigen Beschleunigung der Schritte, um demjenigen, den er verfolgt, die Angst in den Nacken zu setzen, und umgekehrt wird er leicht selbst zum Verfolgten. Der Erzähler besteigt eilig ein Vaporetto, in dem mehr zu unserer als zu seiner Überraschung bereits Ludwig II von Bayern, il re Lodovico, Platz genommen hat, wohl eher ein schlechtes als ein gutes Omen. Die gedankliche Beschäftigung mit dem griesgrämigen Grillparzer ist ebensowenig geeignet den Himmel aufzuhellen wie der Besuch bei Casanova in den Piombi des Dogenpalastes. Besonders beunruhigt ist der Erzähler durch den Umstand, daß der Tag, an dem er in der Bar an der Riva gesessen ist, der letzte Tag des Monats Oktober gewesen ist, ein Jahrestag somit jenes Tages, an dem Casanova den bleierenen Panzer durchbrochen hatte: eine erschreckende Koinzidenz fürwahr. In der fraglichen Bar an der Riva kommt der Erzähler mit dem Venezianer Malachio, einem studierten Astrophysiker, ins Gespräch. Ein gemeinsamer Bootsausflug durch die Kanäle der Stadt führt zum Inceneritore Comunale, brucia continuamente, und verpaßt so den möglichen Charakter einer Lustfahrt. Für zwei Tage gerät der Erzähler gänzlich aus der Spur, er ist unfähig, sein Hotelzimmer zu verlassen, in einer Traumvision sieht er die Krankenhausinsel La Grazia vorbeifahren wie ein riesiges Schiff, aus dem Tausende von Irren herausschauten. Ein heißes Bad setzte ihn schließlich so weit wieder instand, daß er seine Tasche packen und sich auf den Weg machen konnte. Im Stehbuffet der Ferrovia allerdings gerät er beim Versuch, einen Cappuccino zu ergattern, in den Höllenkreis der abgeschnittenen Köpfe. Diese dantesken Beobachtungen mag er als abstruse Halluzination abtun, nicht aber den sich verstärkenden Eindruck, daß an den verschiedensten Stellen immer wieder dieselben Augenpaare zweier junger Männer auf ihn gerichtet sind. So ist er froh, als er den Zug besteigen kann, um nach Verona hinüberzufahren. Ein weißes türkisches Taubenpaar erhebt sich mit einigen wenigen klatschenden Flügelschlägen steil über die Wipfel empor, steht eine kleine Ewigkeit still in der blauen Himmelshöhe und segelt dann vornüberkippend mit einem kaum aus der Kehle dringenden gurgelnden Laut wieder herab: der Giardino Giusti ist wahrhaftig ein Ort der Stille und Sammlung. Anders sieht es schon wieder aus, als der Erzähler die von einer späten Ausflüglergruppe besuchte Arena betritt. Im Gegesatz zu Tauben und anderen Vögeln sind ihm Touristen, Feriengäste und Ausflügler jeglicher Art ein Graus. Und dann schauen von der jenseitigen Hälfte der Arena wieder die Augenpaare der beiden jungen Männer zu ihm herüber. Nur mit Mühe kann er sich aufraffen und zum Ausgang gehen. Die Mesnerin in der Chiesa Sant’Anastasia, eine kummervolle und von langen Jahren des Schweigens und der Einsamkeit fast schon vergangene Frau, schwankte einem Schatten gleich durch das Kirchenschiff vor dem einzigen Besucher her, nicht geeignet, die Stimmung zu beleben, wohl aber gelingt es Pisanellos Bildwerk über dem Torbogen der vormaligen Kapelle. San Giorgio stellt es da, sein Blick ist schon auf die schwere blutige, im Endeffekt aber befreiende Arbeit gerichtet. Die Pizzeria Verona in der Via Roma, wo er in trostloser Emgebung nur ein ihm in keiner Weise zusagendes Gericht erwarten kann, hätte er gar nicht erst betreten oder wenigstens gleich wieder verlassen sollen. Stattdessen schlägt er den Gazzettino auf und liest von den jüngsten Schreckenstaten der Organizzazione Ludwig. Der Betreiber der Pizzeria hört, wie die Rechnung ausweist auf den Namen Cadavero. Das ist zuviel, er legt einen Geldschein auf den Teller und flüchtet mit dem Nachtzug nach Innsbruck. Im Abteil sitzt eine alte Frau mit ihrem vierzigjährigen Sohn, den hin und wieder ein Krampf ergreift in seiner Brust. Die Mutter streicht beruhigend seine Hand. Der Zug hält am Brenner, man hört das Brüllen namenloser Tiere auf einem Abstellgleis.

Das Unheil wohnt ganz überwiegend in Kopf des Erzähleres, betrachtet er Dinge der Außenwelt wie die Tauben im Giardino Giusti, Pisanellos Gemälde oder die Steuermänner auf den Kähnen, schweigen die Dämonen still für einen Augenblick. Überall aber, auch in einem einfachen Cappuccino, lauert Gefahr. Ist er wirklich den Blicken gefährlicher Augenpaare ausgesetzt? Man muß zugeben, auch Verfolgungswahn schützt nicht zuverlässig vor Verfolgung.