Samstag, 24. April 2021

Arbeiterbude

Mittagszeit


Pradera erwähnt, er sei Hochschulabsolvent, schätzt aber vorzugsweise den Umgang mit einfachen Leuten, etwa als Gelegenheitsarbeiter beim Holzfällen. Było pora na obiad, im Augenblick ist Mittagspause, die Männer sitzen eng zusammen in der neuen, gerade erst angelieferten Bude, für die Frauen ist kein Platz mehr, sie sitzen draußen um ein Lagerfeuer. Alle haben Proviant und Tee bereit, die Frauen unterhalten sich über ihre Themen, ebenso die Männer. Pradera kommentiert die Aufteilung wohl mit einer gewissen Ironie, die Frauen in Wagen, die Männer draußen wäre ihm nicht weniger recht, auch gegen ein gendergerechte Aufteilung hätte er nichts einzuwenden. Das alles ist ihm gleichgültig, seine Gefährtin die er Galązka Jabloni, Apfelbäumchen, nennt, er könnte sie auch Beatrice nennen, ist ohnehin nicht anwesend. Als sei er ein Held Nabokows - tatsächlich ist er ein Held Edward Stachuras - sagen Pradersa soziale und religiöse Ideen nichts, ebensowenig politische oder philosophische Programme, Ratschläge für eine bessere Gesellschaft oder warnende Aufrufe an die Menschheit. Er schätzt sein Leben so wie es ist, ein anderes wäre ihm ebenso recht, ohnehin ist er immer nur zur Hälfte bei der Sache. Die Realität ist nicht real, immer wieder taucht aus seinem Inneren ein Dunst auf, ein rätselhafter Seelennebel, Mgła, der alles umhüllt und zerstört, der Dichter würde Pradera in diesen Augenblicken zu den Untröstlichen zählen. Ihm, dem Dichter, war eine Gemeinschaft mit dem in seiner Heimat zahlreich vertretenen Holzern von den von ihm verabscheuten Bildern des Malers Hengge verstellt, der, wenn er freie Bahn hatte und keine zwar einträglichen, aber störenden Aufträge, nichts anderes als immer nur Holzer gemalt hat. Weder mit Baubuden noch mit Biwakfeuern konnte Adroddwr umfänglichere Erfahrungen sammeln. In Manchester begannen, wenn die Nacht sich herabsenkte, an verschiedenen Stellen Feuerchen zu flackern, um die als unstete Schattenfiguren Kinder herumstanden und -sprangen. Zum einen war das nicht mit einem offenen Feuerchen zur Essenszeit vergleichbar und zum anderen war er, wenn auch noch jung, doch schon zu alt, um sich unter die Kinder zu mischen.

Freitag, 16. April 2021

Stärker als ich

Kindisch



Ihren Freundinnen, die am selben Tisch saßen, erzählt sie, es bereite ihr Freude, in der Kirche mit den Absätzen zu klappern, obgleich sie sehr wohl wisse, daß man leise durch die Kirche gehen soll, sie aber gehe durch die Kirche und klappere und scheppere mit den Absätzen, das sei stärker als sie, to jest silnejsze od niej. Ist es wirklich stärker als sie, ein pathologischer Zwang gar, oder nur eine Marotte, um Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, gleich doppelt, einmal mit dem Klappern, und zum anderen mit der vorgeblichen Hilflosigkeit und Rätselhaftigkeit ihres Wesens. Man erfährt weiter nichts und kann sich in dieser Frage nicht festlegen. Was Bereyter anbelangt, so unterrichtet er alle Volksschulfächer mit Ausnahme des Faches Religion, das Angelegenheit der Katholischen Kirche ist und von einem Katecheten oder Benefiziaten wahrgenommen wird. Wann immer der Katechet an der Reihe ist, hat Bereyter das Weihwasserbehältnis randvoll mit schnödem Wasser aus der Gießkanne gefüllt, so daß der Katechet das eigens mitgebrachte geweihte Wasser nicht zum Einsatz bringen kann, ein Glaubensfrevel der weit über den der klappernden Schuhe hinausgeht. Von einem Zwang, der stärker ist als er, kann im Fall Bereyter nicht die Rede sein, er kann einfach die katholische Salbaderei, wie er sich ausdrückt, nicht ertragen. Bereyter geht kühl kalkulierend vor und ist Herr der Lage. Von außen gesehen ist sowohl der polnischen Kirchgängerin, von der man weiter nichts weiß, als auch Bereyter ein kindisches Verhalten zu vorzuhalten. Wenn aber auf einer ganz anderen Ebene hinter Bereyters Freitod ein selbstzerstörerischen Zwang vermutet wird, ein Zwang also, der stärker war als er, ist alles Kindische verschwunden. Wäre nicht bereits im ersten Satz vom Suizid die Rede gewesen, hätte mancher wohl gedacht, unter der Obhut der Mme Landau würden sich Anwandlungen in dieser Richtung bald gelegt haben. Das, was Bereyter als seine Zustände bezeichnete, schien kuriert, der nun beginnende Verlust des Augenlichts läßt ihn nicht verzweifeln, er freut sich schon auf die behaglichen Stunden, in denen Mme Landau ihm aus Pestalozzis Schriften vorlesen wird. Eine erkennbare, zum Suizid leitende Kausalität, fehlt, was als zerstörende Kraft in seine Seele eingedrungen ist, läßt sich nicht sagen.

Dienstag, 13. April 2021

Unter Sterblichen

Bedienung


Die nicht zumutbare Zumutung des Todes ist der Basso continuo in Stachuras Erzählwelt, besonders nachdrücklich im Siekierezada. Der Roman beginnt mit dem Satz: Dostał się pod koła, pokatulkało go i kaput, er geriet unter die Räder, wurde zerquetscht und kaputt, geschildert ist der Unfalltod Zbigniew Cybulskis am frühen Morgen auf dem Gleis des Breslauer Bahnhof. Unschätzbar ist angesichts des Todes das banale Leben. Nach einer Woche beim Holzfällen gönnt Pradera, der Erzähler, sich ein luxuriöses Mahl in der Hoplanka, Rostbraten schwebt ihm vor, Eisbein, eine doppelte Portion Kartoffeln, eine doppelte Portion Sauerkraut, Senf und zusätzlich zwei saure Gurken, ein landespezifisches Menü. Bereits nach einer Viertelstunde, den Maßstäben der Volksrepublik entsprechend also ohne jeden Zeitverlust, zeigt sich die Kellnerin, klein, rundlich mit Minirock und Minischürze, resolut das Hinterteil schwingend, bereit die Bestellung aufzunehmen. Ob er das denn alles essen könne, fragt sie. Die Antwort: Er könne ohne weiteres zum Dessert auch noch sie vernaschen. Diese Art zu reden sei nicht sein Stil, nicht seine Mundart, erläutert Pradera, aber mit einer Kellnerin, auch sie eine Sterbliche, müsse man sich gut stellen, sonst könne ohne weiteres eine Stunde und mehr ergehen bis zum Servieren. Aber ist es wirklich nur Taktik? Die Worte zaubern ein zärtliches Lächeln hervor und in Sekundenschelle geradezu trägt die junge Frau mit noch mehr Schwung das Bestellte herbei. Eine Begegnung zwischen zwei Sterblichen. Der Dichter seinerseits findet bei Gelegenheiten dieser Art nicht immer den richtigen Ton. In den Tiroler Stuben des Innsbrucker Bahnhofs wirken sich der Tiroler Morgenkaffee wie auch die Tiroler Nachrichten ungünstig auf seine Verfassung aus, und womöglich führt der unzufriedene Tonfall seiner gar nicht einmal unfreundlich gemeinte Bemerkung über den Tiroler Zichorienkaffee dazu, daß die früh aus ihrem Schlaf gerissene Bedienerin auf die bösartigste Art, die man sich denken kann, ihm das Maul anhängt. Im Fall der kleinen Bedienerin im Minirock mag die menschliche Gemeinsamkeit vage und vielleicht bestreitbar sein, nicht aber bei den alten, dem Tode nahen Frauen, Babcia Olenka etwa in Siekierezada und Babcia Potęgowa in Cała jaskrawość, hier ist eine wahrhaft christliche, wenn auch gänzlich ungezwungene, menschliche und irreligiöse Liebe festzustellen. Hatte sie ihm, der sich zum Schlafen gelegt hatte, übers Haar gestrichen und die Decke geglättet wie einem Kind? Auch was die älteren Frauen anbelangt, hat der Dichter kein gleichwertiges Benehmen zu bieten. Bisweilen hielt der Bus und ließ eines der alten Weiber einsteigen, die in gewissen Abständen unter ihren schwarzen Regendächern an der Straße standen. Es kam auf diese Weise bald eine ganze Zahl solcher Tiroler Weiber zusammen. Sie unterhielten sich in ihrem hinten im Hals wie eine Vogelsprache artikulierten Dialekt vornehmlich, ja ausschließlich von dem nicht mehr enden wollenden Regen. Vielleicht ist es der Schock des in den Tiroler Stuben angehängten Mauls, der keine Sympathie mit den Tirolerinnen aufkommen läßt. Auch Pani Olenka und Pani Potęgowa sprechen keineswegs das Polnisch der Metropole, sondern eine dörfliche Variante der Landessprache, ihre Gäste sind umso mehr entzückt.

Montag, 12. April 2021

Europäische Hasen

Angleichung



Ein wahrhaft nahezu tödlicher Schrecken durchfuhr den Erzähler, als unmittelbar vor seinen Füßen ein Hase aufsprang und davonschoß. Er mußte mit rasend klopfenden Herzen an seinem Platz ausgeharrt haben. Ein winziger Augenblick war es, da die Lähmung, die ihn ergriffen hatte, umschlug in die panische Bewegung der Flucht. Der Erzähler sieht den Rand des grauen Asphalts, sieht jeden einzelnen Grashalm, sieht den Hasen, wie er hervorspringt aus seinem Versteck, mit zurückgelegten Ohren und einem vor Entsetzen starren Gesichtsausdruck, mit einem vor Furcht fast aus dem Kopf sich herausdrehenden Auge. Erst eine halbe Stunde später konnte der Erzähler sich beruhigen. Auch Pradera sprang zu seinem nicht geringen Schrecken etwas direkt über die Füße, und dann mußte er lachen, ein Hase, riesig wie ein Schreckgespenst, zając straszak, ein Rammler erster Güte, wielki gach, groß wie ein junger Hirsch, sauste in großen Sprüngen übers Feld. Zwischen dem kaum lebenstüchtigen englischen und dem kraftvollen polnischen Hasen besteht offenbar ein Rasseunterschied in physischer und, abhängig davon, auch psychischer Hinsicht. Allerdings wurde der polnische Hase noch vor dem Beitritt seines Heimatlandes zur EU gesichtet, inzwischen dürfte sich unter der Regie Brüssels eine Angleichung vollzogen haben, es ist aber noch nicht hinreichend erforscht, in welcher Richtung, eher zum polnischen oder zum europäisch-britischen Hasen hin. Da der Brexit naturgemäß auch ein Lepusbrexit ist, dürften weiter Forschungen in dieser Richtung sich aber inzwischen als überflüssig erweisen.

Samstag, 10. April 2021

Am Boden

Nachsicht


Ohne einen Blick für das bunte Treiben saß ein junger Bursche am Boden des Tanzsaals, die Schulter gegen ein Stuhlbein gelehnt, das Kinn auf die Knie gestützt, die Knie umfaßt mit den Armen. Er saß da in regungsloser Melancholie und schaute und horchte, mich aber überlief ein Schauder, denn es sah aus, als wolle er richten über die Welt. Mit aller Härte. Ohne Nachsicht. Und das war schrecklich. Denn ohne Nachsicht bleibt von allem nicht viel übrig. Nicht viel von alldem, was ich weiß. Nicht viel und nicht viele. Von dem, was ich weiß, sehr, sehr wenig. Genau kann niemand erklären, was in uns geschieht, wenn die Türe aufgerissen wird, hinter der die Schrecken der Kindheit verborgen sind, oder wie es sein mag, wenn die Tür nie geschlossen wurde.

Donnerstag, 8. April 2021

Sommer und Winter

Lesestoff 

Die alte Nationalbibliothek in der Rue Richelieu mit ihrem Kuppelsaal und den grünen Porzellanlampenschirmen, die ein so gutes, beruhigendes Licht gaben, und mit den im Kreisrund sich fortsetzender Bücherregalen war ein Paradies für Leser, die auf Tuchfühlung und in stummen Einvernehmen mit ihren Platznachbarn an ihren mit kleinen Emailleschildchen numerierten Pulten gesessen sind. Die Nationalbibliothek in der Rue Richelieu ist nun geschlossen zugunsten der neuen Bibliothek am Quai François Mauriac, einem in seiner ganzen äußeren Dimension und inneren Konstitution menschenabweisenden und den Bedürfnissen jedes wahren Lesers von vornherein kompromißlos entgegengesetzten Gebäude. Die Besucher werden durch ein Förderband herabgebracht ins Untergeschoß. Man landet vor einer mit einer Vorhängekette verschlossenen Schiebetür, an der man sich von halbuniformierten Sicherheitsleuten untersuchen lassen muß. Nach einer halben Stunde oder länger wird man von einer Bibliotheksangestellten in eine separate Kabine gebeten, wo man unter Ausschluß der Öffentlichkeit seine Wünsche äußern und entsprechende Instruktionen empfangen darf, jede Lesefreude ist in der Zwischenzeit verflogen. Provinzstädte haben Bauwerke wie die neue Nationalbibliothek nicht zu befürchten, Gebäude wie die alte Nationalbibliothek können sie nicht erwarten. Auf dem Lande obliegt die belletristische Versorgung nicht selten einer Bibliothek auf Rädern, Objazdowa Biblioteka. Pradera betritt den Bibliotheksbus am Sonntagmorgen, während in der Kirche noch die Messe gelesen wird, die einsame Bibliothekarin kann sich ganz ihm und seinen spezifischen Interessen widmen. Stanislaw Lem und Sajęsz Fikszyn überhaupt liegen, wie sich zeigt, nicht uneingeschränkt auf seiner Linie, auch nicht Sienkiewicz, eher schon Liebesgeschichten, Romanzen, gibt er zu. Die Bibliothekarin muß sich für einige Zeit zwei Schülerinnen zuwenden, die auf der Suche nach der Pflichtlektüre für das nächste Schulhalbjahr sind, und schon hat Pradera gewählt: Lato leśnych ludzi, Der Sommer der Holzer der Autorin Maria Rozdziewiczówna. Ruft man Bilder der Rozdziewiczówna auf, stößt man auf eine robuste Gestalt in Männerkleidung mit einem Herrenhaarschnitt, es ist gleichwohl Maria Rozdziewiczówna. Zurück in seiner Unterkunft öffnet Pradera das Buch und schließt es wieder. Ob er es jemals liest, bleibt verborgen, jedenfalls aber inspiriert der Titel den Autor, Stachura, zum Untertitel der Siekierezada: Zima leśnych ludzi, Der Winter der Holzer. Der holzerversessene Maler Hengge hätte beide Bücher, das Sommer- wie auch das Winterbuch, illustrieren sollen.

Freitag, 2. April 2021

Beziehungen

Ausprägungen der Liebe

Die Schwindel.Gefühle, so der Autor, seien ein Buch der Liebe, aber ohne Beziehungsgeschichten. Der Mangel an Beziehungsgeschichten ist augenfällig, Liebe als leitendes Motiv weniger. Von Beziehungsgeschichten läßt sich mühelos erzählen, von der Liebe nicht, sie ist verborgen. Wenn der Dichter mutmaßt, der Sinn der der unablässigen Fahrten des Jägers Gracchus bestünde in der Abbuße einer Sehnsucht nach Liebe, gibt das allerdings zu denken, ebenso wenn die Frage aufgeworfen wird, welcher Liebe es bedurft hätte, um einen Kind die Schrecknisse der Liebe zu ersparen, die vor allem anderen die Schrecken der Erde ausmachten. Diese Worte treffen nicht das verbreitete Bild von Liebe, ein grader Weg zur Beziehungsgeschichte scheint sich auch nicht zu eröffnen. Man sollte andererseits aber Kafkas Briefe an Felice und Milena nicht aus dem Auge verlieren. In der alten Literatur, man denke an Lawnslot und Gwenhwyfar oder an Trystan und Esyllt, vollzogen sich die Liebesausbrüche zumeist in einem illegitimen, ehebrecherischen Rahmen, das verlieh ihnen Tiefe und zugleich den Charakter leicht erzählbarer Beziehungsgeschichten, die naturgemäß einen anderen Klang haben als die heutigen. Für einen Augenblick könnte es scheinen, als würde Chateaubriand sich noch auf ähnlichen Pfaden bewegen. Beim Abschiedsdinner erläutert die Mutter, wie Charlotte ihm in ihren Gefühlen bereits ganz und gar angehöre, der Vicomte ist in die größte innere Aufruhr gestürzt und bricht in den Verzweiflungsruf aus: Arrêtez, je suis marié! Der notgedrungene Liebesverzicht war auch schon im Minnewesen des Mittelalters ein Hauptweg gewesen und kennzeichnet umso mehr die Romantik. Der Liebesverzicht auf der einen und das Sichverlieben am richtigen Ort auf der anderen Seite. Selbst bei Tolstoi, längst kein Romantiker, hat das Thema noch eine gewisse Dominanz und zwar bezogen auf ihn selbst, in Krieg und Frieden, verkleidet als Pierre Besuchow, in Bezug auf Natascha und in Anna Karenina, verkleidet als Lewin, in Bezug auf Kitty. Pierre Besuchows Liebesglück wird dann im Epilog eilfertig in das Glück der Ehe umgeleitet, bei Lewin verläuft es ähnlich, ergänzend hat Tolstoi einen Kurzroman speziell über das Familienglück geschrieben, Семейное счастие. Im Werk des Dichters stehen Verliebtheit und Eheglück nicht im Mittelpunkt. Der Erzähler geht nach der Heirat mit seiner Frau Clara auf Wohnungssuche, viel mehr erfahren wir nicht von dem Paar. Helen Hollaender war klug und ein ziemlich tiefes Wasser, in dem Paul Bereyter gerne sich spiegelte, aber dann ist sie wieder nach Wien verschwunden. Eine in ihren Einzelheiten nicht dargelegte Gemeinschaft mit Mme Landau in fortgeschrittenem Alter bewahrt Bereyter nicht davor, sich vor den Zug zu legen. Adelwarth und Cosmo Solomon sind offenbar ein gleichgeschlechtliches Paar, von Liebe, geschweige denn von Eheglück, wurde bei dieser Konstellation zur damaligen Zeit nicht gesprochen.

Donnerstag, 1. April 2021

Elf Tänzer

Fragen über Fragen


Nach einem siebenjährigen Aufenthalt als Gouverneur in Brasilien war Johan Maurits in die Niederlande zurückgekehrt. Zur Einweihung seines neuen Hauses im Mai 1644 sollen auf dem gepflasterten Platz vor dem Gebäude elf Indianer einen Tanz aufgeführt und den versammelten Bürgern der Stadt eine Ahnung davon gegeben haben, bis in was für fremde Länder die Macht ihres Gemeinwesens jetzt sich ausdehnte. Ist Brasilien gemeint oder Surinam? Tatsächlich gab es zu Maurits‘ Zeit ein Nederlands-Brazilië oder auch Nieuw Holland, ein deutlich umfänglicheres Areal als das heutige Surinam. Was die tanzenden Indianer anbelangt, erfährt man so gut wie nichts, es gibt eigentlich nur Fragen. Ob es vielleicht Guarani oder Kayapó waren, um nur zwei der endlos vielen Stämme in Brasilien zu nennen, man weiß es nicht, das wird damals auch kaum jemanden interessiert haben. Angesichts der unterschiedlichen Tanzgewohnheiten war es vermutlich keine aus unterschiedlichen Stämmen gemischte Gruppe. Waren es elf männliche Indianer, oder waren es Indianer und Indianerinnen zu mehr oder weniger gleichem Anteil? Die Art des Tanzes wäre davon abhängig. Den Paartanz im engeren Sinne gab es bei den Eingeborenen nicht, es war immer eine kultische Veranstaltung, das Vergnügen deutlich nachgeordnet. Wie sind die elf Leute nach Den Haag gekommen, engagiert als Künstler mit entsprechender Gage und mit der Aussicht auf eine Tournee auch durch andere niederländische und europäische Städte, oder verschleppt gegen ihren Willen? Nichts ist überliefert von den Tänzern, die alsbald wieder verschwunden waren, lautlos wie ein Schatten, still wie ein Reiher. Umso mehr müssen wir uns Gedanken machen. Waren sie, wenn man so sagen darf, mit einem Rückfahrschein ausgestattet, oder blieben sie sich selbst überlassen in der neuen Heimat, die ihnen keine Heimat sein konnte? Allein schon die Frage der Bekleidung bereitet Sorgen, in Brasilien war sie dem Klima angepaßt mehr als sparsam, bis hin zum völligen Verzicht, in den Niederlanden war und ist der Eislauf mit seinen verschiedenen Disziplinen die bevorzugte Sportart, hatte Johan Maurits entsprechend vorgesorgt? Man weiß nicht, was man den Indianern und auch sich selbst wünschen soll, in ihrer geraubten Heimat wurden die Eingeborenen in großen Stil umgebracht, und auch in den Niederlanden oder sonstwo in Europa konnten sie nicht auf ein ruhiges, friedliches Leben mit staatsbürgerlichen Rechten hoffen.