Montag, 23. Dezember 2013

Farben des Mehls

Wie Blütenstaub

 
Paul Bereyter würde man als einen Enthusiasten der Schülerunterrichtung verstehen, Janine Rosalind Dakyns als eine Enthusiastin Flauberts und des Sandkorns. Von Austerlitz’ Tischnachbarn in der Nationalbibliothek in der rue Richelieu erfährt man zu wenig, um ihn recht einschätzen zu können, ein älterer Herr mit sorgsam gestutztem Haar und Ärmelschonern, der seit Jahrzehnten an einem Lexikon der Kirchengeschichte arbeitete, in welchem er bis an den Buchstaben K gelangt war und das er also nie würde zu Ende bringen können. Mit einer winzigen, geradezu gestochenen Schrift füllte er, ohne je zu zögern oder etwas durchzustreichen, eine seiner kleinen Karteikarten nach der anderen aus und legte sie in einer genauen Ordnung vor sich aus. Was die die Lebenszeit vermutlich überdauernde Aufgabe, die Regelmäßigkeit der Arbeit und die Kleinformatigkeit der einzelnen Teile anbelangt, so ähnelt der namenlose ältere Herr zweifellos Alec Garrad, der aufgrund der Größe des Tempelmodells mit einer Fläche von beinahe zehn Quadratmetern und andererseits der Winzigkeit und Genauigkeit der einzelnen Teile so langsam vorankommt, daß von einem Jahr auf das andere kaum Fortschritte zu erkennen sind, obwohl er die Landwirtschaft im Lauf der Zeit mehr und mehr eingeschränkt hat, um sich ganz dem Tempelbau widmen zu können. Wenn Garrad sich an der Grenze bewegt, an der Enthusiasmus beginnt in Obsession überzugehen, so ist es doch eine stille und ganz und gar geordnete Obsession, während Max Aurachs künstlerisches Tun auffällige Merkmale des Wüsten und Zerstörerischen aufweist. Sein heftiges, hingebungsvolles Zeichnen, bei dem er in kürzester Frist oft ein halbes Dutzend seiner aus Weidenholz gebrannten Stifte aufbrauchte, dieses Zeichnen und Hinundherfahren auf dem dicken, lederartigen Papier sowohl als auch das mit dem Zeichnen verbundene andauernde Verwischen des Gezeichneten mit einem von der Kohle völlig durchdrungenen Wollappen war in Wirklichkeit eine einzige, nur in den Stunden der Nacht zum Stillstand kommende Staubproduktion.
Dr. Abramsky in Ithaca ähnelt als bienenzüchtender Ruheständler zum einen dem mit der Zucht seltener Rosen und Veilchen beschäftigten emeritierten Richter Farrar, zum anderen aber als Traumkünstler dem Maler Aurach. Sein in leidenschaftlicher Besessenheit verfolgtes virtuelles Kunstprojekt besteht in der Beobachtung des Verfalls der Narrenburg, als die er das seinerzeitige, inzwischen längst aufgelassene psychiatrische Sanatorium sieht. Das gesamte Aktenmaterial, die Anamnesen, die Krankengeschichten sind, so denkt er, in der Zwischenzeit längst von den Mäusen gefressen worden. Dem Mäusevolk gilt meine Hoffnung, und sie gilt den Holzbohrern, den Klopfkäfern und den Totenuhren. Von dem Einsturz habe ich einen regelmäßig wiederkehrenden Traum. Ich sehe das Gebäude in seiner Gesamtheit sowohl als jede kleinste Einzelheit und ich weiß, daß das Fachwerk, das Dachstuhlgebälk, die Türstöcke und Paneele, die Böden, Dielen und Stiegen, die Geländer und Balustraden, Rahmungen und Gesimse unter der Oberfläche restlos bereits ausgehöhlt sind, und das jeden Augenblick alles in sich zusammensinken wird. Und so geschieht es dann auch vor meinem Traumaugen, mit unendlicher Langsamkeit, und eine große gelbe Wolke steigt auf und verweht, und an der Stelle des ehemaligen Sanatoriums bleibt nichts als ein Häufchen puderfeines, blütenstaubähnliches Holzmehl.
Es ist eine kunst- und geradezu liebevolle Zerstörung des Sanatoriums, die in der unendlichen Langsamkeit und im Zusammenspiel von Gesamtheit und kleinsten Einzelheiten Garrads Aufbau des Tempelmodells wie in einem zurücklaufenden Film beklemmend ähnelt, im Resultat aber Aurachs tagtäglicher Staubproduktion. Aurach ist seinerseits Garrad auch unmittelbar in einem Traum verbunden, indem er ein winziges Tempelmodell, wenn man so will ein Modell von Garrads Tempelmodell, Modell in jedem Fall eines längst zu Kalkmehl verfallenen Gebäudes, auf dem Schoß des Galiziers Frohwein sieht und zum ersten Mal in seinem Leben eine Vorstellung hat, wie ein wahres Kunstwerk aussieht. In einem traumhaften Gefüge von Bau und Zerstörung dringen die drei, Aurach, Garrad und Abramsky, vor zum Wesen der Kunst und zur Seele der Welt, ein Weg, der zurück zum Ausgangspunkt führt: zu einem Häufchen puderfeinen, blütenstaubähnlichen Holzmehls.
Denn begonnen hatte alles in der Kindheit des Dichters. Nichts war ihm sinnvoller erschienen als diese beiden Tage, Allerheiligen und Allerseelen, Tage der Erinnerung an die Leiden der heiligen Märtyrer und der armen Seelen, an denen die dunklen Gestalten der Dorfbewohner seltsam gebeugt im Nebel herumgingen als seien ihnen ihre Wohnungen aufgekündigt worden. Insbesondere aber berührte ihn alljährlich das Verspeisen der Seelenwecken, die der Mayrbeck einzig für diese Gedenktage machte, und zwar nicht mehr und nicht weniger als einen einzigen für jeden Mann, jede Frau und ein jedes Kind. Die Wecken waren mit Mehl bestäubt, und der Mehlstaub, der an meinen Fingern zurückgeblieben war, ist mir vorgekommen wie eine Offenbarung, und am Abend desselben Tages habe ich lang noch mit einem Holzlöffel in der im Schlafzimmer der Großeltern stehenden Mehlkiste gegraben, um das dort verborgene Geheimnis zu ergründen. Es ist in unserer Zeit selten geworden, daß die spontane Transzendenzvermutung eines Kindes im Mehl seinen Ausgang sucht, Mehlkisten im Schlafzimmer der Großeltern wird man kaum noch finden. Letztlich sind es die Seelen der längst zu mehlfeinem Staub zerfallenen Toten, die die Suche veranlaßt haben. Selysses geht den als Kind begonnenen Weg beharrlich weiter, der Zirkel von Zerstörung und Aufbau und Zerstörung, in den er gerät, gerinnt nicht zu einem aus- und nachsprechbaren Urteil. Antworten finden er und wir nicht, aber es reichen eigentlich schon die Fragen.

Mittwoch, 11. Dezember 2013

Fremd

Strange:

foreign: alien: from elsewhere: not of one’s own place, family or circle: not one’s own: nor formerly known or experienced: unfamiliar: interestingly unusual: odd: estranged: like a stranger: distant or reserved: unacquainted: unversed: exceedingly great, exceptional
Deleuze schreibt, niemals könne das sujet traité, sujet conscient, Träger der künstlerischen Wahrheit sein kann, sondern immer nur les thèmes inconscients, les archétypes involontaires, où les mots, mais aussi les couleurs et les sons prennent leur sens et leur vie. Die sujets traités würden grob gesagt in der Literatur die Themen bestimmen, die thèmes inconscients wären als Motive zu beschreiben. Eines der leitenden Themen bei Sebald ist, auf verschiedenen Ebenen der Bedeutung, die Auswanderung. Die Protagonisten der vier langen Erzählungen sind Ausgewanderte, der Protagonist der überlangen Erzählung Austerlitz ebenso. Innerhalb seiner Poetik spricht Sebald den Hauptdarstellern und den Komparsen dieselbe, durch nichts geschmälerte Daseinsberechtigung zu. Vermutet man die Komparsen hinter den thèmes inconscients, so wären sie, kombiniert man Sebalds Einsichten mit denjenigen Deleuzes, sogar die Überlegenen, die heimlichen Herren der Prosa. Komparsen sind im Themenfeld der Auswanderung unter anderem die auf den ersten Blick auffällig Fremdem, die den Einheimischen outlandish und sich selbst als verloren vorkommen.

Auch in seiner abgeschiedenen Allgäuer Heimat trifft Selysses schon als Kind und Heranwachsender verschiedentlich auf Menschen mit Migrationshintergrund. Auf einem Schuttanger neben der Brücke war in den Sommermonaten der Nachkriegsjahre immer ein Zigeunerlager gewesen. Wenn wir ins Schwimmbad gingen, mußten wir bei den Zigeunern vorbei, und jedesmal hat mich die Mutter an dieser Stelle auf den Arm genommen. Über ihre Schulter hinweg sah ich die Zigeuner von den verschiedenen Arbeiten, die sie stets verrichteten, kurz aufschauen und dann den Blick wieder senken, als grauste es ihnen. Ich glaube nicht, daß irgendein Einheimischer je ein Wort an sie gerichtet hat. Der Blick in die andere Richtung, weg von den als unterlegen angesehenen und hin zu den Überlegenen, der amerikanischen Besatzungsmacht, ist nicht freundlicher, die Bestimmung der Verlorenheit allerdings entfällt hier naturgemäß. Ihre allgemeine Moral wurde von den Einheimischen, wie man ihren halb hinter vorgehaltener Hand, halb lauthals gemachten Bemerkungen entnehmen konnte, als einer Siegernation unwürdig empfunden. Die Weiber gingen in Hosen herum und warfen ihre lippenstiftverschmierten Zigarettenkippen einfach auf die Straße, die Männer hatten die Füße auf dem Tisch, und wann man von den Negern halten sollte, das wußte ohnehin kein Mensch. – Das Kind nimmt weniger die Fremden wahr als die xenophobe Einstellung der Einheimischen, prägend ist aber zugleich der Blick über die Schulter der Mutter hinweg auf das Zigeunerlager, und auch im Hinblick auf die Amerikaner macht es sich eigene, altersgemäße Gedanken: Am unteren Ende der Gasse tauchte ein Fahrzeug auf, wie er zuvor noch nie eins gesehen hatte. Es war eine allseits weit ausladende lila Limousine mit einem hellgrünen Dach. Unendlich langsam und völlig geräuschlos glitt sie heran, und drinnen an dem elfenbeinfarbenen Lenkrad saß ein Neger, der ihm, als er vorbeifuhr, lachend seine gleichfalls elfenbeinfarbenen Zähne zeigte. Da unter unseren Krippenfiguren einer der drei Weisen aus dem Morgenland und zwar derjenige mit dem schwarzen Gesicht, einen lila Mantel mit hellgrünen Besatz trug, stand es für ihn außer Zweifel, daß der Fahrer des Automobils in Wahrheit der König Melchior gewesen ist.

Schließlich ist da der Türke Ekrem, ein nur vorübergehender Bewohner der Ortschaft W., der mit einer leicht befremdeten Distanziertheit betrachtet wird. Seltsamerweise hatte man ihm das Bureau des verstorbenen Baptist Seelos vermietet. Zirka fünfundzwanzigjährig hat er in der Küche große Mengen türkischen Honig hergestellt und dann auf den Jahrmärkten verkaufte. Der Seelos hat er das Mokkasieden beigebracht, und die Seelos Lena ist eines Tages mit einem Kind von ihm niedergekommen, das aber zum Glück bloß eine Woche gelebt hat. Der Ekrem ist bald darauf, wenn nicht zuvor schon, aus W. verschwunden und hat in München einen Südfrüchtehandel angefangen.
Die offizielle Erwartung wird in unseren Tagen dahin gehen, daß der gereifte Selysses der Xenophobie der Dörfler seine eigene Xenophilie, oder besser noch, als Steigerung, eine vollkommene Adiaphorie in Bezug auf das Merkmal des Fremden entgegenhält. Diese Erwartung muß aber enttäuscht werden aus ethischen sowohl wie aus künstlerischen Gründen. Ein deutliches Signal ist die Mißachtung der verbindlichen lexikalischen Präskriptionen, die Sinti bleiben bei Sebald Zigeuner, die Afrikaner Neger und die anderweitig Normalen bleiben die Irren. Die Idee, ein Gott - wie müßte es um ihn bestellt sein - könne den Menschen nach seinem Bilde geschaffen haben, ist den Bewohnern der Sebaldschen Prosa gründlich fremd, ebenso fremd aber die Idee, der Mensch sei neu und einheitlich nach den vorgeblich universellen Mustern der europäischen Aufklärung zu erstellen. Dem aus Europa entflohenen Novelli könnte nichts Schlimmeres geschehen, als wenn unter der Haut der kleinen, kupfrig glänzenden Leute in der grünen Wildnis am Amazonas europäische Wesensart zum Vorschein kämen, und Aurach sucht nicht allabendlich das Wadi Halfa auf, um mit den Wüstensöhnen deren Europäisierung und das fortan vereinheitlichte Menschenbild zu feiern. Bei dem fast zwei Meter großen, auf die Achtzig zugehenden Koch soll es sich um einen ehemaligen Massaihäuptling handeln, den es aus den südlichen Regionen Kenias in das nördliche England verschlagen hatte. Die zahlreiche, mit dem Ausdruck größter Langeweile herumstehenden und herumsitzende Kellnerschaft bestand ausschließlich aus den Söhnen des Häuptlings, von denen der älteste schätzungsweise etwas über sechzig, der jüngste zwölf oder dreizehn Jahre zählen mochte. Wenn Aurach hier regelmäßig eines der grauenvollen, halb englischen, halb afrikanischen Gerichte verzehrt, so nicht weil er in irgendeiner Weise die Annäherung an oder gar die Aufnahme in den Clan sucht, sondern weil die erlebte Distanz ihn frei setzt von den Menschen überhaupt.

Vereinnahmung sowohl wie romantisierende Verklärung der Fremden sind vermieden. Das gilt auch für Selysses, als er in Den Haag auf die vor den Eingängen der diversen Unterhaltungs- und Eßlokale in kleinen Gruppen versammelten morgenländischen Männer trifft, von denen die meisten stillschweigend rauchen, während der eine oder andere ein Geschäft abwickelt mit einem Klienten. Die Distanz gewinnt beträchtlich an Ausmaß, als dann ein dunkelhäutiger Mensch auf Selysses zustürzt, das blanke Entsetzen im Antlitz, verfolgt von einem seiner Landsleute dessen Augen geradezu glänzten vor Mordlust und Wut, ein langes, blitzendes Messer in der Hand.

Das Medium der Kunst ist die Wahrnehmung, also der Unterschied. Wenn die Scheu vor ungerechtfertigter Vereinnahmung der Fremden als ethische Barriere den Weg zur Xenophilie versperrt, so hat Adiaphorie, als Leugnung des Unterschieds, auch in Bezug auf das Fremde im Kunstwerk keinen Platz. Der Künstler kann sich als Bürger die zahlreichen Gleichheitsgebote der Moderne zu eigen machen, zu bezweifeln ist aber, daß sie Teil der künstlerischen Wahrheit im Sinne von Deleuze sein können.

Wenn die Betreiber des Wadi Halfa und die morgenländischen Männer in den Haag in der gleichen Weise wahrgenommen werden wie bereits der Türke Ekrem, so hat auch die mythologisierende Verwandlung des Chauffeurs der lila Limousine in den morgenländischen König Melchior ihre Fortsetzung. Kunst ist immer die Kunst der Wahrnehmung, und die Wahrnehmung kann nicht Halt machen, sie durchdringt ihren Gegenstand, vermutet Türen, die zu öffnen sind auf ein wie immer geartetes Jenseits, zumal, wenn es um das Fremde, schon mit einem Fuß im Transzendenten Stehende geht, Trompe-l'œil-Türen wahrscheinlich nur und die Transzendenz nicht als Augenwischerei: gleichwohl. Die mit erstaunlicher Kunstfertigkeit gemalte Tür führte in ein tief in ein tief verstaubtes, seit Jahren offenbar nicht mehr betretenes Kabinett, das Aurach nach einigem Zögern als das Wohnzimmer der Eltern erkennt. Ein wenig seitwärts auf dem Kanapee sitzt ein fremder Herr, Frohmann, aus der fernen Stadt Drohobycz mit ihren exotischen Zimtläden und hält ein winziges Modell des Tempels Salomonis auf dem Schoß, bei dessen Anblick Aurach zum ersten Mal weiß, wie ein wahres Kunstwerk aussieht. Der Schritt durch die trügerische, lügnerische Tür hat sich wahrhaft gelohnt, führt sie Aurach doch auf einem Wege zurück nach Hause, in die Fremde und zur Offenbarung.
Jetzt also stand Selysses auf dem Trottoir vor dem Eingang zu der fraglichen Station, an der er nie jemanden hatte ein- oder aussteigen sehen, und brauchte, um sich die Mühe des letzten Wegstücks zu ersparen, bloß einzutreten in die dunkle Vorhalle, in der außer einer sehr schwarzen, in einer Art Schalterhäuschen sitzenden Negerfrau nicht ein lebendiges Wesen zu sehen war. Vielleicht erübrigt sich die Feststellung, daß er letztlich doch nicht in diese Untergrundstation hineingegangen ist. Zwar stand er eine beträchtliche Zeit sozusagen an der Schwelle, wechselte auch einige Blicke mit der dunklen Frau, aber den entscheidenden Schritt wagte er nicht zu tun. Welche dunklen oder aber erhellenden Geheimnisse jenseits der Schwelle auf ihn warteten, werden er und wir nicht erfahren. Die Schwelle nicht übertreten zu haben, müßte ihn reuen bis auf den heutigen Tag, so wie es ihn reut, die Einladung zu den Festspielen in Bregenz angenommen zu haben, und wie es ihn reut, das Leben der immer unschuldiger werdenden Ashburys nicht auf Dauer geteilt zu haben. Aber niemand kann im voraus wissen, was geschieht, wenn eine Türe aufgeht, und welche Schrecken dahinter verborgen sind.

In der Liverpool Street Station schaut Austerlitz einem Menschen zu, der zu einer abgewetzten Eisenbahnuniform einen schneeweißen Turban trug und mit einem Besen einmal hier und einmal da etwas von dem auf dem Pflaster herumliegenden Unrat zusammenfegte. Bei diesem Geschäft bediente sich der in tiefer Selbstvergessenheit immer dieselben Bewegungen vollführende Mann statt einer richtigen Kehrschaufel eines Pappdeckelkartons, aus dem eines der Seitenteile herausgerissen war. Schließlich hatte er seinen Ausgangspunkt wieder erreicht, eine niedrige Türe im Bauzaun, aus welcher er vor einer halben Stunde hervorgekommen war und durch die er jetzt wieder verschwand. – Die Fremden sind die Türaufschließer zum Unbekannten oder zum Verlorengegangenen. Anders als Selysses gibt Austerlitz der Aufforderung nach, die Schwelle zu überschreiten, obwohl er bis heute nicht weiß, was ihn veranlaßt hat, dem Inder durch die Tür zu folgen. Für Austerlitz ist es der entscheidende Schritt aus einer Heimat, die ihm immer fremd gewesen ist hinüber in das langsam aus einem fremden Dunkel auftauchende und immer schemenhaft bleibende ferne Vertraute.

Der Komparse Le Strange überstrahlt alle Protagonisten, obwohl er nur wenige Erzählseiten in Anspruch nimmt, führen alle Wege zu ihm, den Ausweis der Fremdheit trägt er, der Einheimische, im Namen. Er war als Krieger in die Fremde gezogen und am 14. April 1945 durch die Tür der Lagers Bergen Belsen gegangen. Genau kann niemand erklären, was in uns geschieht, wenn die Türe aufgerissen wird, hinter der die Schrecken verborgen sind, jedenfalls aber ist ihm seither alles fremd geworden. Er hat die Tür seines Landsitzes in Suffolk hinter sich geschlossen, um sie nicht wieder zu öffnen. Es ist die Inversion der Fremdheit, die sich seines Inneren und auch seines Zuhause bemächtigt hat. Genaueres wissen wir nicht, Genaueres könnte Florence Barnes berichten, aber sie schweigt.

Donnerstag, 28. November 2013

Andromeda Lodge

East of Sense

Lle syberwyd, lle da byd, perllan, gwinllan ger gwenllys, hoff yw'r lle

Sinn ist für Luhmann, in der Auslegung Claudio Baraldis, das selektive Medium, das die Erzeugung aller sozialen und psychischen Formen ermöglicht. Sinn sei eine evolutionäre Errungenschaft der sozialen und psychischen Systeme, die deren Selbstreferenz und Komplexitätsaufbau Form gibt. Danach würden die Menschen im Gefängnis des Sinns leben, Un-Sinn wäre ihnen, wie alles andere, nur sinnhaft, mit Mitteln des Sinns erfaßbar, den Bereich der Sinnlosigkeit betreten können sie nicht. Gleichzeitig berechtigt das Verständnis von Sinn als Produkt der Humanevolution zu der Annahme, daß die gesamte nichthumane Welt in diesem Sinne ohne Sinn ist. Auch Gott, den man sich schlecht als Teilnehmer an der menschlichen Evolution und ihr unterworfen denken kann, wäre sinnfrei, dem Joch des Sinns ebensowenig unterworfen wie die der Wahrnehmung zugängliche Außenwelt. Ihn sinnhaft auszumalen, wäre in jedem Fall verfehlt. Gott ist sinnlos, aber das muß ihn weiter nicht kümmern, es schadet ihm nicht. Wenn der menschliche Sinnbereich dem Grunde nach homogen ist, so gilt das für den außen liegenden Un-Sinn nicht, Gottes Sinnfreiheit muß nicht das Gleiche sein wie die Sinnlosigkeit der interstellaren Leere. - Das ist nicht die bloße Neufassung der alten Theologenweisheit, wonach Gott für uns nicht erreichbar und sein Ratschluß unergründlich ist, dies aber in bloßer Erweiterung und Überhöhung des menschlichen Sinnbereichs - so als sei Gott eine Art Verlängerung von Grigori Perelman, dessen Beweis der Poincaré-Vermutung, abgesehen von einigen wirklich hohen Priestern der Mathematik, die denn auch, und vielleicht zu recht, beanspruchen, Gottes Sprache am ehesten noch zu verstehen, ebenfalls für alle unergründlich bleibt - und nicht außerhalb des menschlichen Sinnbereichs und ohne Berührung mit ihm. Nach christlichem Glauben aber hat Gott sich kurzfristig in den menschlichen Sinnbereich begeben und dort das mit menschlichen Mitteln nicht lösbare, unergründliche Rätsel de Kreuzes hinterlegt.

Wenn Sebald also im Gespräch erklärt, die Welt sei sinnlos und jeder wisse das, so hat er im Licht der Systemtheorie zumindest im ersten Teil recht. Offen hat er sich auch immer wieder als nicht religiös eingestellt bekannt, dabei aber die Formulierung, er sei religiös unmusikalisch, vermieden. Zum einen hatte er keinen Grund, sich als Papagei Webers und Habermas' zu betätigen, und zum anderen konnte er an seinem Prosaarbeitstisch nicht anders als musikalisch sein. Die Heiligen taumeln denn auch als so viele schöne, unreine Noten durch seine Partituren, der heilige Franz mit dem Gesicht nach unten im Morast, die heilige Katharina mit ihrem Marterrädchen in der Hand, Saint Jérôme im Erdloch und Mrs. Ashbury bei der an sich verdienten Himmelfahrt steckengeblieben im Plafond. Gottlos zwar, zeigt Sebald sich als Freund der Metaphysik und der Maler, die noch wußten, was über unseren Köpfen geschieht und die Gotteswelt beherzt ausmalten, Giotto, Grünewald, Pisanello, Tiepolo. Ähnlich wie die Astronomen mit ihren Riesenteleskopen das Hintergrundrauschen der Entstehung der Welt wahrnehmen, lauscht er in den Bildwerken auf den Nachhall der vergangenen Zeit. Zudem folgt er, auf einer niederen Stufe artikulierter Metaphysik, gern einer Koinzidenz- und Zahlenmystik. Mit den Worten des englischen Papageienforschers: Coincidences make you sense momentarily what it must be like to live in an ordered, God-run universe, with Himself looking over your shoulder and helpfully dropping coarse hints about a cosmic plan: bei Sebald ist es nicht mehr als das Aufschlaggeräusch seines Wanderstabes, you shall not want. Innerhalb einer sinnlosen, unbewohnbaren Welt hat er uns im Inneren seine Prosa einen eminent bewohnbaren Raum geschaffen. Thematisch spiegelt sich das an den Orten des Geschehens kaum, Manchester das einstige Jerusalem der Industrialisierung ist so menschenleer wie das offenbar verfluchte Terezín, und um Paris oder Venedig steht es nicht viel besser. Allenthalben tauchen die Karawanen der Wüstenmenschen auf. Aber nicht alle Orte auf der Erde sind unbewohnbar, am bewohnbarsten von allen ist Andromeda Lodge, der Wohnsitz der Fitzpatricks, an der walisischen Küste, unweit des Ortes Abermaw. Es ist der schönste Platz überhaupt, der Garten Eden in neuzeitlicher Fassung, unter den Bedingungen der Sterblichkeit. Noch heute wünscht sich Austerlitz, während er davon erzählt, daß er in dem Frieden, der dort ununterbrochen herrschte, spurlos hätte vergehen können. Diese Stimmung ist Selysses von Haus aus nicht fremd, so wenn er sich zurücksehnt nach einer Wiederholung der im Inneren den zahlreichen, in der Gegend von W. liegenden Kapellen herrschenden vollkommenen Stille. Meistens sind es nur kurze mystische Augenblicke, wie in Ajaccio, wo er sich vorstellt in einer der steinernen Burgen zu wohnen, bis an sein Lebensende mit nichts beschäftigt als mit dem Studium der vergangenen und der vergehenden Zeit, dann aber sogleich ein Billett für das Musée Fesch ersteht.
Schon die Anreise nach Abermaw und Andromeda Lodge ist eine Fahrt ins Licht, vorbei an glänzenden Schieferdächern und silbrig wogenden Weiden, die sich abheben von den dunkleren Erlengehölzen. Andromeda Lodge selbst ist ein Lichtfest, mit dem weiter draußen schimmernden Meer, der durch die Dunstschleier über dem Mawddach brechenden Licht, der Lichtflut über dem Wasser und schließlich der Lichtverklärung Adelas, als sie aus der Tiefe des Gartens kommt, in grünlichbraunen Wollsachen, an deren hauchfein gekräuseltem Rand Millionen winziger Wassertropfen eine Art von silbrigem Glanz um sie bildeten. Beim Federballspiel schwebte Adela viel länger oft, als es die Schwerkraft erlaubte, ein paar Spannen über dem Parkettboden in der Luft, offenbar hat ein Paar der in Andromedas Haushalt gebräuchlichen Flügelschuhe überdauert.

Bevor wir aber noch auf die Menschen treffen, gehen wir durch den vollkommen verwilderten Garten, in dem Pflanzen und Stauden wuchsen, die sonst nirgends in Wales zu sehen waren, Riesenrhabarber und mehr als mannshohe neuseeländische Farne, Bambusdickicht und Palmen, bewohnt vom Volk der weißgefiederten Kakadus, die überall herumflogen und aus den Gebüschen hervorriefen: der Garten Eden ist nicht allein die Domäne des Menschen. Zugleich aber ist er nicht abgeschnitten von der uns bekannten Welt, die beiden großen Fraktionen sind vertreten, die von Gott Erleuchteten und die Erheller unseres Daseins. Auf Pisanellos Bild Giorgio con cappello di paglia sind sie unter der Aufsicht der Madonna in einem gewissen Zustand des Gleichgewichts, aber doch mit einem deutlichen Standortvorteil für den befreienden Ritter und Drachentöter, dessen aus weißem Metall geschmiedete, kunstreiche Rüstung alles Licht auf sich versammelt. Dieser Vorteil hat sich auf Rembrandts Bild von der Prosektur des Dr. Tulp wieder verloren, hinter der Demonstration des unerschrockenen Forschungsdrangs der neuen Wissenschaft, schaut das archaische Ritual der Zergliederung eines Menschen hervor, die nach wie vor zum Register der zu verhängenden Strafen gehörende Peinigung des Fleisches des Delinquenten bis über den Tod hinaus. Andromeda Lodge steht wieder im Zeichen des siegreichen, lichtvollen Ritters Georg. Die ansonsten unschuldige walisische Haushälterin wird jedesmal, wenn sie ihren schwarzen Hut aufsetzt, um ins Bethaus zu gehen, von den Kakadus mit regelrechtem Haß verfolgt und auf das unflätigste beschimpft. Der Papist Evelyn Fitzpatrick scheint den Unmut Herrn erregt zu haben, so daß der ihn mit der Bechterewschen Krankheit schlug und gleichsam eigenhändig auf sein Zimmer verwies, wo er, den abgewinkelten Oberkörper kaum höher als die Hand, nur Zoll für Zoll leise jammernd an einem eigens angebrachten Geländer vorrücken konnte. Die Seite der Aufklärer wird prominent nicht vom Sezierer Descartes vertreten, sie liegt in besseren Händen bei dem milden, beobachtenden Darwin, der im nahegelegenen, nur fünfzehn Kilometer landeinwärts von Abermaw entfernten Dolgellau an seiner Studie über die Abstammung des Menschen gearbeitet hat, die den Tieren zu ihrem Recht verhalf, indem sie die arrogant behauptete Distanz zum Menschen bis auf einen kaum wahrnehmbare Rest verdampfen ließ, auch wenn man der Kreatur ihr Recht außerhalb des Paradieses bis heute vorenthält.
Im Clan der Fitzpatricks ist in jeder Generation einer der beiden Söhne dem Katholizismus abtrünnig geworden, jetzt ist es der Großonkel Alphonso. Vom Sezieren hat er sich noch weiter entfernt als Darwin, er macht weitläufige Exkursionen und noch lieber sitzt er, hell wie der Ritter Georg, in einem weißen Kittel und mit einem Strohhut irgendwo in der Umgebung auf einem Feldstühlchen und aquarelliert, offenbar in der Nachfolge Turners, eigentlich nur Andeutungen von Bildern, hier ein Felsenhang, dort eine Böschung. Seinen begeisterten Vortrag über die verschiedenen Formen des nichtmenschlichen Lebens und besonders über die Falter und Motten schließt er mit dem Hinweis, es gebe eigentlich keinen Grund, den geringeren Kreaturen ein Seelenleben abzusprechen. Mäuse und Maulwürfe halten sich schlafend, wie man an ihren Augenbewegungen erkennen kann, in einer einzig in ihrem Inneren existierenden Welt auf, und wer weiß, vielleicht träumen auch die Motten oder der Kopfsalat im Garten, wenn er zum Mond hinaufblickt in der Nacht - Fragen, die eher schon über den unserer Gattung zur Verfügung stehenden, beurteilbaren Sinn hinausgehen, ohne die es aber das Paradies nicht geben kann.

Der Ausblick aus dem Zimmer mit dem blauen Plafond grenzte wahrhaftig ans Überwirkliche. Über der ganzen Bucht von Abermaw lag ein gleichmäßiger Glanz, in einem perlgrauen Dunst lösten sämtliche Formen und Farben sich auf, es gab keine Abstufungen mehr, nur noch fließende, vom Licht durchpulste Übergänge, und es ist gerade die Flüchtigkeit dieser Erscheinungen gewesen, aus der so etwas wie ein Gefühl der Ewigkeit entstand. Am Abend dann, als wir hineinblickten in die verdämmernde Welt, fragte Adela: Seht ihr die Wipfel der Palmen und die Karawane, die dort durch die Dünen kommt? – Das Paradies ist nicht auf Dauer angelegt. Die rätselhafte Karawane, die immer wieder Sebalds Texte durchquert, in Paris, in Manchester, in Amerika erscheint auch hier. Was ist ihr Ziel, erreicht sie in Andromeda Lodge die ersehnte Oase, oder bringt sie die Wüste mit sich? Das Medium der Ewigkeit ist das Flüchtige, Austerlitz hatte in Andromeda Lodge nicht bleiben, sondern vergehen wollen. Sebalds immer geschmeidige und auch im Flüchtigen bedachtsame und sorgfältige Prosa aber sichert uns ein Bleiben im Vergehen.

Nachdem die beiden ungleichen Zwillinge Evelyn und Alphonso im Abstand von nur wenigen Tagen verstorben waren, verkauft Adela Andromeda Lodge und geht mit einem Entomologen namens Willoughby nach North Carolina. Ob Willoughby die Forschungen zum Seelenleben der niederen Tiere fortführt oder aber die Tiere zergliedert im modern-archaischen Ritual, erfahren wir nicht. Andromeda Lodge wird mit dem Auftritt des Entomologen ähnlich lakonisch beschlossen wie der kurze Sehnsuchtstraum in Ajaccio mit dem Kauf der Eintrittskarte zum Museum.
Gerald Fitzpatrick hat dann den Beruf des Astrophysikers ergriffen. Mehr noch als der Andromeda- begeistert ihn der Adlernebel, riesige Regionen interstellaren Gases, die sich zu gewitterwolkenartigen, mehrere Lichtjahre in den Weltraum hinausragenden Gebilden zusammenballen und in denen, in einem unter dem Einfluß der Schwerkraft ständig sich intensivierenden Verdichtungsprozeß ständig neue Sterne entstehen, eine wahre Kinderstube von Sternen. Während Gerald versucht, die sinnlose Weite des Universums mit dem anthropomorphen Bild der Kinderstube unserem Sinn zugänglich zu machen, ist sein Studien- und Berufskollege Malachio in Venedig zu den alten metaphysischen Fragen zurückgekehrt. In letzter Zeit habe er viel nachgedacht über die Auferstehung und zumal über den Satz, demzufolge unsere Gebeine und Leiber von den Engeln dereinst übertragen werden in das Gesichtsfeld Ezechiels. Das an sich schon schier unlösbare Problem verschärft sich noch einmal erheblich, wenn man es mit Alphonso Fitzpatricks Überlegungen zum Seelenleben auch der niederen Kreaturen kombiniert. Ohnedies hat Malachio Antworten nicht gefunden, aber es genügen ihm eigentlich auch schon die Fragen.

Montag, 18. November 2013

Psittaciformes

Ornithologische Metaphysik

Tatsächlich, so Sebald, habe er seine Art zu schreiben dem Hund abgeschaut, wie er, allein dem Rat der Nase folgend, über das Feld läuft. Er durchquert das Areal auf eine Weise, die sich jeder Planung entzieht und findet doch immer, wonach er sucht. Was aber sucht der Hund? Sucht er etwas Bestimmtes, etwas Allgemeines oder das, was sich im Augenblick aufdrängt? Folgt er weiter der Spur des Hasen, wenn er auf die überlegene Spur eines Wildschweins stößt, und was, wenn anstelle des Beutetiers ein übler Feind vor ihm auftaucht, ein Fuchs, ein Dachs oder gar der Hund des Nachbarn.

Sebalds Werk hat eine Unmenge von Spuren, die den Hund verwirren können. Da sind Hasen und Schweine, ungezählte Insekten, vereinzelt gibt es unter den Hunden begeisterte Fliegenschnäpper. Was die kaum weniger zahlreichen Vögel anbelangt, so hat der ausgewachsene Hund mit hinreichendem Intelligenzquotienten allerdings begriffen, daß sie für ihn unerreichbar sind, und wenn er sie jagt, dann nur aus Langeweile, just for the hell of it, ohne Erfolgserwartung. Bei den Fischen, den Heringen und Makrelen aber müssen wir den Hund verlassen und uns, um sie einzubeziehen, dem kynisch veranlagten Dichter zuwenden.

In Prag trifft Austerlitz bei seiner Spurensuche, bevor er noch einem Menschen begegnet, im Traum auf einen Papagei. Der gesuchte Volksstamm der Azteken sei leider vor vielen Jahren schon ausgestorben, heißt es, höchstens daß hie und da noch ein alter Papagei überlebe, der noch etliche Worte ihrer Sprache versteht; Papageien sind dafür bekannt, daß sie jedwede Menschensprache wie im Flug erlernen, mit gewissen Defiziten auf der Verständnisseite. Wie nicht anders zu erwarten, bildet der Traum die Realität nicht korrekt nach, die Azteken sind im engeren Sinne nicht ausgestorben, und die verschiedenen Dialekte des Nahuatl werden auch heute noch von vielen Menschen und nicht ausschließlich von Papageien gesprochen. Austerlitz, das ist der Hintergrund des Traums, hat, wie er glaubt, die tschechische Sprache verloren und muß befürchten, daß die Menschen, die er in der Tschechei sucht, nicht mehr leben.

Dem Spürhund fällt es nicht schwer, den Traumpapagei zurückzuverfolgen im Buch, es dürfte sich um Jaco handeln, den Aschgrauen Papagei, Psittacus erithacus L., wie die Aufschrift auf seinem grünen Pappdeckelsarkophag zu verstehen gibt. Zu Lebzeiten hatte Jaco nur eine Unsitte, wenn man ihm nicht genug Aprikosenkerne und harte Nüsse zu knacken gab, ging er mißgelaunt umher und zernagte überall die Möbel. Daß man ihn gewähren ließ und dann nach dem Tod auch noch ehrenhaft verwahrte, ist ein deutliches Zeichen für das, sofern man vom Onkel Evelyn absieht, aufgeschlossene und liberale Klima in Andromeda Lodge.
Das Exotische in Andromeda Lodge aber waren in erster Linie die weißgefiederten Kakadus, die bis zu einem Umkreis von zwei, drei Meilen überall um das Haus herumflogen und aus den Gebüschen herausriefen. Aber nicht nur in der Sprechfähigkeit ähnelte die gefiederte Population auf eine, je nach Einstellung des Betrachters, beglückende oder erschreckende Weise den Menschen. Wenn sie nicht flogen oder kletterten, hüpften sie über den Boden dahin, immer geschäftig und, so hatte man den Eindruck, immer auf irgend etwas bedacht. Man hörte sie seufzen, niesen, lachen und gähnen. Auch wie sie sich in andauernd wechselnden Gruppen zusammenrotteten und dann wieder paarweise beieinander saßen, als kennten sie nichts als die Eintracht und seien auf ewig unzertrennlich, war ein Spiegel der menschlichen Sozietät. Auf einer Lichtung hatten sie sogar ihren eigenen, wenn auch nicht von ihnen selber verwalteten Friedhof mit einer langen Reihe von Gräbern. - Unwillkürlich hält man in der Nähe der Gräber zur Vervollständigung des gewohnten Bildes Ausschau nach einem Kakadukirchturm. Den verschiednen Formen des Totenkults geht Sebald nach, wo immer sich die Möglichkeit eröffnet, im walisischen Bala, auf Korsika, bei der Lektüre Thomas Brownes. Ganz ähnlich wie die toten Kakadus in Andromeda Lodge verwahrt Austerlitz später die verblichenen Motten in kleinen Bakelitschächtelchen. Aus dem Fenster seiner Wohnung sah man hinter einer Ziegelmauer einen von Lindenbäumen und Fliederbüschen bewachsener Platz, auf dem man seit dem 18. Jahrhundert Mitglieder der aschkenasischen Gemeinde beigesetzt hatte, unter anderem den Rabbi David Tevele Schiff und den Rabbi Samuel Falk, den Baal Schem von London. Von diesem Platz, so ist zu vermuten, waren die Motten ins Haus geflogen. Mythologisch Vorstellungen von den Seelen, die als Schmetterlinge aus den toten Körpern ausfahren drängen sich auf. Wenn aber der Tod der Beginn der Metaphysik ist, warum soll man sie dann den Tieren vorenthalten, indem man ihnen nur metaphorischen Zutritt gewährt, ihnen, die nicht weniger sterblich sind als wir, und deren Lebensspanne oft noch beträchtlich kürzer ist als die unsere, ganz abgesehen von den Abermilliarden, die wir hinmeucheln vor der Zeit.
Sebald ist nicht der erste, der auf die metaphysische Tauglichkeit des Papageis aufmerksam geworden ist. Nach Korsika hat Selysses einen Band der Bibliothèque de la Pléiade mitgenommen, der unter anderem Flauberts Erzählung Un cœur simple enthält. Die zweite Hälfte der Geschichte steht ganz im Zeichen des Papageis Loulou, der seine hohe Form und Verklärung erst nach dem Tod als Mumie erfährt. Félicité, die Frau mit dem schlichten Herzens, ist unberührt von jeder Schulbildung und religiösen Erziehung, und als sie eine verspätete Einführung in die Geheimnisse der Christenlehre erfährt, findet sie sich doch nie ganz zurecht in der christlichen Ordnung der Dinge und insbesondere nicht in der schwierigen Sache der heiligen Trinität. Von dem in ihrem Zimmer hängenden Bild des heiligen Geists schaut sie immer auch ein wenig hinüber zu ihrem über alles geliebten Papagei. Elle contracta l’habitude idolâtre de dire ses oraisons agenouillée devant le perroquet. Sie ist überzeugt, daß der Herr, um sich der Mutter Gottes zu verkündigen, nicht eine einfache weiße Taube geschickt hatte, sondern einen der schönen Vorfahren Loulous, und in der Stunde ihres Todes sieht sie hoch über sich einen gigantischen Papagei seine Kreise ziehen in dem zur Hälfte schon geöffneten Himmel. - Loulous sterbliche Hülle hat dann ihren Weg auf Flauberts Schreibtisch gefunden, Julian Barnes ist den Einzelheiten nachgegangen.

Sebald hat einigen Motiven des aufgegebenen Korsikaprojektes Logis im Austerlitzbuch gewährt, darunter dem der Psittaciformes. Seine Nachdichtung der Erzählung Flauberts ist eigentlich die schönere Geschichte, jedenfalls ist sie von mehr Mitgefühl und Nähe getragen als das Original, vielleicht kein Maßstab, denn Flaubert hatte aus schriftstellerischer Überzeugung sichtbare Zeichen von Empathie immer vermieden. So gern Selysses Janine Rosalind Dakyns’ begeisterten Flaubertvorträgen lauscht, ihre Begeisterung für den normannischen Dichter teilt er wohl nur eingeschränkt, mit der Éducation sentimentale jedenfalls hat er sich ziemlich geplagt. In Austerlitz macht sich Sebald das Papageienmotiv dann ganz zu eigen, löst den Papagei nicht nur aus Flauberts Erzählung, sondern befreit ihn auch vom blasphemischen Dienst innerhalb der hochartikulierten christlichen Metaphysik. Stattdessen verleiht er den Kakadus mit dem Gräberfeld sozusagen eine metaphysische Grundausstattung, wie weit sie sie nutzen konnten, wie weit sie zum Nachdenken über dem Tod angeregt wurden, wissen wir nicht. Bei Elephanten und anderen höheren Säugetieren glaubt man, Spuren eines durch den Tod der Stammesangehörigen verursachten metaphysischen Schocks ausgemacht zu haben. Malachio, der venezianische Astrophysiker, merkt an, er habe in letzter Zeit viel nachgedacht über die Auferstehung und zumal über den Satz, demzufolge unsere Gebeine und Leiber von den Engeln dereinst übertragen werden in das Gesichtsfeld Ezechiels, und ein weites Feld lag voller Totengebein, und des Gebeins lag sehr viel auf dem Feld, sie waren sehr verdorrt. Schon mit den menschlichen Gebeinen scheint der Herr vor kaum lösbare Aufgaben gestellt, was aber, wenn die der Psittaciformes noch hinzukommen, und mit ihnen könnte es ja kein Bewenden haben. Antworten, so Malachio, habe er nicht gefunden, aber es genügten ihm eigentlich auch schon die Fragen.

Donnerstag, 24. Oktober 2013

Vom Himmel gefallen

Leselücken
Die Großmutter hat das Buchgeschenk mit größter Sorgfalt und unter diffiziler Abwägung verschiedenster pädagogischer Gesichtspunkte ausgesucht, dem Beschenkten scheinen die Bücher wie vom Himmel gefallen. Schon der Titel des einen, François le Champi, läßt ihn etwas Unbestimmbares und Köstliches erwarten. Die Handlung erscheint ihm umso dunkler und schöner, als er in jenen Kindertagen beim Vorlesen oft ganze Abschnitte und Seiten verträumt. Die durch Unaufmerksamkeit verursachten Lücken werden noch dadurch vermehrt, daß die Mutter zur Schonung des Knaben alle Liebesszenen überspringt. Die bizarren Bewegungen, denen das Geschehen auf diese Weise unterworfen war, schienen die tiefsten und erregendsten Geheimnisse zu bergen. - Die Zensur der Mutter wird bald entfallen, die Konzentrationsfähigkeit wird steigen, sollen wir aber hoffen, daß die Lücken sich vollends schließen? Vieles in der Recherche geht auf eine aufmerksame Lektüre von Balzac, Ruskin und anderen zurück, der endlose Strom der Worte aber steigt auf aus den Bereichen des Verträumten, endlose Wortfolgen, die ihrerseits auf Lückenlosigkeit bedacht scheinen und uns, die Leser, doch nicht daran hindern können, in Träumereien zu verfallen.
Für jeden obsessiven oder professionellen, Leseprogramme abarbeitenden Leser ist es eine Wohltat, wenn ihm durch einen Zufall ein Buch in die Hand kommt, auf das er von sich aus nie verfallen wäre. Ein solches Buch kann lebensrettend sein. Marie de Verneuil hat Austerlitz als Berufsleser in der Nationalbibliothek in der rue Richelieu kennengelernt, wo er meist bis in den Abend hinein in stummer Solidarität mit den zahlreichen anderen Geistesarbeitern an seinem Platz beschäftigt mit seinem Lesepensum gesessen ist. Als Austerlitz nach Verlassen des Veterinärmedizinischen Museums in Paris zusammengebrochen ist, bringt Marie bei einem ihrer regelmäßigen Besuche am Krankenbett aus der Bibliothek ihres Großvaters ein altes Arzneibüchlein mit, pour toutes sortes de maladies, internes et externes, invéterées et difficiles à guérir. Eine jede Zeile des schönen Vorworts hat er mehrfach gelesen und desgleichen die Rezepturen für die Herstellung von aromatischen Ölen, Pulvern, Essenzen und Infusionen zur Beruhigung der kranken Nerven, zur Reinigung des Blutes von den Säften der schwarzen Galle und Austreibung der Melancholie, und wirklich hatte er über der Lektüre dieses Büchleins sein verloreneres Selbstgefühl und seine Erinnerungsfähigkeit wieder erlangt. - Austerlitz liest das Arzneibüchlein sicher nicht in der Hoffnung, die richtige Rezeptur für ein sein Leiden heilendes Medikament zu finden, die Lektüre selbst ist das Remedium, er läßt sich von ihr aus der Welt tragen, in der ihm der Aufenthalt zu schwer geworden ist. In dem Büchlein trifft er sich mit Marie de Verneuil, die es ihm nicht ohne Bedacht geschenkt hat und die, so kann er annehmen, den gleichen Sätzen gefolgt ist. Oft wird er die Zeit beim Lesen verträumt haben.

Die Schwindel.Gefühle und die Ringe des Saturn sind Bücher einer Lesepause, das heißt nicht, Bücher würden ganz aus dem Blickfeld geraten, sie werden aber nur beiläufig erworben und zur Hand genommen. Die Memoiren des Duc de Sully hat Selysses vor Jahren auf einer Auktion in dem nördlich von Norwich gelegenen Landstädtchen Aylsham erworben, und seither gehören sie zu seiner liebsten Lektüre. In einer Bar an der Riva blättert er in Grillparzers Tagebuch auf der Reise nach Italien. Auf einem Dachboden in W. dann stößt er in einem Regal, in sich zusammengesunken, wie es den Anschein hatte, auf die bald an die hundert Bände umfassende, ihm in der Folge in zunehmenden Maße wichtig werdende Bibliothek der Mathild. Neben Literarischem aus dem letzten Jahrhundert und einem türkischen Lexikon samt kleinem Briefsteller gab es zahlreiche religiöse Werke spekulativen Charakters, Gebetsbücher aus dem 17. und frühen 18. Jahrhundert mit zum Teil drastischen Abbildungen der uns alle erwartenden Pein. Zum anderen fanden sich mit den geistigen Schriften vermischt mehrere Traktate von Bakunin, Fourier, Bebel, Eisner, Landauer sowie der biographische Roman von Lily von Braun.

Jeder wahre Leser ist überzeugt, den anderen Menschen nicht besser erkunden und verstehen zu können als durch das Studium des Bücherregals. Findet er nichts vor als vielleicht Kochanleitungen und andere praktische Ratgeber, ist er hilflos. Wenn Selysses die in seinen Besitz gelangte Bibliothek der Mathild immer wichtiger geworden ist, so nicht so sehr des zusätzlichen Lesestoffs wegen. Vielmehr steigt ihm aus den Büchern das Leben der Mathild auf, die unmittelbar vor dem ersten Krieg in das Regensburger Kloster der Englischen Fräulein eingetreten war, das Kloster aber noch vor Kriegsende unter eigenartigen Umständen wieder verlassen und einige Monate lang, in der roten Zeit, in München sich aufgehalten hatte, von wo sie in einem arg derangierten und fast sprachlosen Zustand nach Haus zurückgekehrt ist. Jeder Blick auf die Bibliothek der Mathild ist Anlaß für neue Fragen und Überlegungen. Man möchte meinen, aus der Beschäftigung mit der Bibliothek der Mathild heraus habe Selysses seinen Meister Sebald angeregt zu dem Plan, ein Buch über die Münchener rote Zeit zu verfassen.
In der Prager Wohnung Věra Ryšanovás sind es die in einem verglasten Bücherschrank verwahrten fünfundfünfzig kleinen karmesinroten Bände der Comédie humaine, die ins Auge fallen. Věras Verhältnis zu Balzac ist weniger durchsichtig als das der Mathild zu der bunten Mischung aus Gebetsbuch und Sozialutopie, aber es ist das Dunkel, das Austerlitz zur Lektüre des Colonel Chabert anregt. Seine geraffte Wiedergabe des Buchinhalts könnte auf eine ähnlich lückenhafte Lektüre schließen lassen wie im Fall des François le Champi, Lücken, die auch hier, wie der eine oder andere urteilen mag, dem vorgefundenen Lesestoff nur guttun konnten.

Auf seiner Reise durch Oberitalien hat Selysses nicht nur Grillparzers Tagebuch dabei, auf der Fahrt nach Mailand zieht er den Beredten Italiener aus dem Reisegepäck hervor, ein praktisches Hülfsbuch der italienischen Umgangssprache. Er greift zu dem Hülfsbuch, als er seine Reisegefährtinnen, die eine in ihr Brevier und die andere in ihren Bilderroman, versunken sieht. Die schönen und weitreichenden Gedanken zu einer harmonischen Welt wären ihm wohl nicht durch den Sinn gegangen, hätte er ernsthaft studiert und es in der reizenden Lesegemeinschaft nicht beim bloßen Blättern belassen. Im weiteren Verlauf der Reise stößt Selysses auf die Winterkönigin, auf das tiefste versenkt in ein Buch, welches den Titel Das böhmische Meer trug und verfaßt war von einer ihm unbekannten Autorin namens Mila Stern. Vergeblich hat er in der Folge geforscht nach dem Buch, das sie in der Hand gehalten hatte, das aber, obschon für ihn von größter Wichtigkeit, in keiner Bibliographie, in keinem Katalog, ja, absolut nirgends verzeichnet war. – Wohl jeder Leser kennt die Sehnsucht nach dem einen, wahren, über alle anderen Bücher hinausgehenden Buch, das jede denkbare Sehnsucht stillt. Dieses Buch scheint auf in den François le Champi transzendierenden Leselücken, und es ist beglückend, wenn auch ein so unerhörtes Buch wie die Schwindel.Gefühle noch das Verlangen nach dem ganz und gar unerhörten Buch sozusagen offiziell aufrecht erhält.

Die Großmutter hat das Buch für Prousts jungen Erzähler ausgewählt, die Mutter liest es ihm vor, der Vater ist kaum beteiligt. Auf der Vaterseite ist die Situation für Selysses ähnlich: Im Aufsatz des Schranks hatten nebst dem chinesischen Teeservice eine Reihe in Leinen gebundener dramatischer Schriften ihren Platz, und zwar diejenigen Shakespeares, Schillers, Hebbels und Sudermanns. Es waren dies wohlfeile Ausgaben des Volksbühnenverbands, die der Vater, der gar nie auf den Gedanken gekommen wäre, ins Theater zu gehen, und noch viel weniger auf den, ein Theaterstück zu lesen, in einer Anwandlung von Kulturbewußtsein eines Tages einem Reisevertreter abgekauft hatte. Nicht krasser dagegen könnte der Unterschied auf der Seite der Mutter sein, die bei Selysses gar nicht in Erscheinung tritt, geschweige denn mit einem Buch in der Hand. Da mag es kaum verwundern, wenn später ein Großteil der wie vom Himmel gefallenen Bücher, wie um den Schaden wieder gut zu machen, aus Frauenhand stammen, die Bibliothek der Mathild, Maries Arzneibüchlein, Věras karmesinrote Balzacbände, der Beredte Italiener, den erst die Reisegefährtinnen hervorzaubern, das unerhörte Buch der Winterkönigin. Es könnte scheinen, als würden wahre Leser nur à l’ombre weiblicher Fürsorge gedeihen.
Weibliche Fürsorge hält die Kindheit wach, und bei genauerem Hinsehen zeigt sich, daß auch das Kind Selysses nicht ohne diese Fürsorge auskommen mußte. Da ist einmal die in drei großen Folianten untergebrachte Ansichtskartensammlung, die er sich immer wieder bei der trunksüchtigen Engelwirtin Rosina Zobel anschaut, und zum anderen der alte Atlas, den die Mathild bei seinen Besuchen in der Begleitung des Großvaters jedesmal für ihn bereitlegt, und in dem ihn jedesmal das Blatt mit den größten Strömen und den höchsten Erhebungen in ein wohliges Grübeln versetzt. Ähnlich vertieft sich Austerlitz in der kymrischen Kinderbibel, die ihm Miss Parry geschenkt hat, nahezu ausschließlich in das Studium des großformatig abgebildeten Heerlagers in der Wüste Sinai. Von diesen frühen, eher von den Bildern als von den Worten geprägten Eindrücken her läßt sich erahnen, warum noch die Prosabücher, durch die sich Selysses später bewegt, in so auffälliger Weise mit Bildern durchsetzt sind.

Dienstag, 15. Oktober 2013

Siebenundneunzig Stufen

Dorfkirchen
Das Großartigste an der Kirche von Combray, so der Curé, sei der Ausblick vom Glockenturm. Quatre-vingt-dix-sept marches müsse man überwinden, um nach oben zu gelangen, juste la moitié du celèbre dôme de Milan. Selysses hat die doppelte Anzahl von Stufen nicht gescheut und ist bis auf die oberste Galerie des Mailänder Doms aufgestiegen, ohne sich einen die Mühe lohnenden Aussichtserfolg einzuhandeln. Das vom Dunst verdüsterte Panorama einer ihm vollends fremd gewordenen Stadt nimmt er in Augenschein, und weit unten auf der Piazza bewegen sich die Menschen in seltsamer Neigung vor dem starken Wind dahin, als stürze jeder einzelne von ihnen seinem Ende entgegen. Weder die spirituelle Kraft des Kirchengebäudes noch die Weite des Ausblicks jedoch können die Schwindelgefühle lindern.
Es war der Glockenturm von Saint-Hilaire de Combray, qui donnait à toutes les occupations, à toutes les heures, à tous les points de vue de la ville, leur figure, leur couronnement, leur consécration. Auf dem Ölbild der Ortschaft W., das die Wand über dem Sofa der nach Amerika ausgewanderten Verwandten schmückt, ist die Kirche in ähnlicher und selbstverständlicher Weise das Zentrum, außer ihr und umgebender Gegend vermag das unbewaffnete Auge kaum etwas erkennen. Selysses aber gelingt es, von Oberjoch herab den Sebaldweg entlang auf W. zuzuhalten, ohne daß ihm der Kirchturm ins Gesichtsfeld gerät. Schon als Kind konnte er in nächster Nähe an der Kirche des Ortes vorbeigehen, ohne sie auch nur wahrzunehmen. Mein Weg ging am Lehrerhaus und am Kaplanhaus vorbei und die hohe Kirchhofsmauer entlang. Dann mußte ich den Kirchberg hinunter und durch die obere Gasse, und dann ist er schon bei der Schmiede angelangt. Nachweislich aber hat er die Kirche von innen gesehen, sonst hätten die Kreuzigungsbilder und das große Gemälde von der Schlacht auf dem Lechfeld nicht den vernichtenden Eindruck auf ihn machen können, den sie tatsächlich auf ihn gemacht haben. Auch die kirchenmusikalischen Erlebnisse waren zwiespältig. Der Chorregent, der das vom Geheul der Gemeinde begleitete Abspielen der ewigselben zwei Dutzend Lieder mehr oder weniger im Schlaf absolvierte, kam jedesmal erst am Ende der Messe wieder zu sich, wenn er die Herde der Gläubigen mit einem von ihm in freier Phantasie auf der Orgel entfesselten Sturm gleichsam beim Kirchentor hinausfegte.

Ganz anders ist das Erleben des noch kindlichen Erzählers bei Proust. Que je l’aimais, notre Église! Le doux effleurement des mantes des paysannes entrant et de leurs doigts timides prenant de l’eau bénite. Die Kirchenfenster, deren Licht nie schöner ist je weniger draußen die Sonne scheint. Die Tapisserien, die die Krönung Esthers in der Gestalt einer Dame aus dem Hause Guermantes zeigen, die vielen anderen Spuren der Geschichte, die der Kirche eine vierte Dimension verleihen, die der in ihr verwahrten Zeit. Anders als in Chartres oder Reims hat der glaubenslose Gläubige Proust, der sein eigenes Werk einer Kathedrale verglichen hat, sich in der schlichten Dorfkirche von Combray nicht gefragt, auf welche Weise und mit welcher Kraft hier das Gefühl der Religiosität zum Ausdruck gebracht werde. Aber auch die Großmutter, entschiedene Vertreterin des Natürlichen, spricht den Glockenturm von Combray frei von allem Vulgären, von Anmaßung sowohl wie von kleinlichem Wesen.
Hätte die Großmutter auch die, wie wir sie kennen, barock ausgestattete Kirche von W. freigesprochen, hätte der heilige Ulrich auf dem Lechfeld Prousts jungen Erzähler auf gleiche Weise ins Träumen versetzt wie die als Esther verkleidete Dame de Guermantes? Das ist schwer vorstellbar. Schmerzlich mußte Selysses überdies die auf den Kirchgang einstimmenden paysannes belles et timides vermissen, da die Weiberschaft von W., wie dem Leser mit Bernhardscher Entschiedenheit vor Augen geführt wird, ausnahmslos fast aus kleinen, dunklen, dünnzopfigen und bösen Bäuerinnen und Mägden bestand. Befreit aber von jeglicher Gemeinde, vom Pfarrer, vom Organisten und dem heiligen Ulrich, kommt Selysses schließlich doch zu Empfindungen, die denen des Proustschen Erzählers nicht unähnlich, wenn auch weniger eindeutig sind, und zwar in der Krummenbacher Kapelle, die so klein ist, daß mehr als ein Dutzend auf einmal gewiß nicht ihren Gottesdienst verrichten oder ihre Andacht üben konnten. Kapellen wie die von Krummenbach gab es zahlreiche um W. herum, und vieles von dem, was ich damals von ihnen gesehen und gespürt habe, wird in mir geblieben sein, die Angst vor den dort abgebildeten Grausamkeiten nicht weniger als in seiner Unerfüllbarkeit der Wunsch nach einer Wiederholung der in ihrem Inneren herrschenden vollkommenen Stille. So ist er auch erfüllt von ungewohnter Milde gegenüber dem Maler, der die Kreuzwegstationen mit ungeschickter Hand zwar aber vielleicht mit nicht geringerer Mühe zustande gebracht hat als in den gleichen Tagen Tiepolo sein großes Deckengemälde in der Würzburger Residenz. Von Krummenbach zu Tiepolo, das ist ein fast noch weiterer Weg als von Combray nach Chartres oder Reims.

Die Neben-, wenn nicht gar die Hauptbeschäftigung des Curé de Combray ist die Etymologie, und wie alle Anhänger dieser schönen Wissenschaft ist er gesegnet mit Unverständnis und Rücksichtslosigkeit in seinen Vorträgen gegenüber dem Teil der Menschheit, der seine Vorliebe nicht teilt. In gewisser Weise ähnelt er dem Reverend Ives. In seinem Pfarrhaus in Ilketshall St. Margaret bekommt er in den Sommermonaten des Jahres 1795 öfters Besuch von einem jungen französischen Adeligen, der vor den Schrecken der Revolution nach England geflohen ist. Reverend Ives ist ein Mann der Aufklärung und der Mathematik und Hellenistik womöglich enger verbunden als der Theologie. In seinem wahren Leben kommt Selysses in Berührung mit dem Pfarrer Wurmser, einem Gottesmann anderen Schlags, Doppelgänger oder Schattenreiter des gleichfalls nicht mehr zu den Jüngsten zählenden Arztes Piazolo. Seine Versehgänge macht Wurmser die längste Zeit schon wie dieser mit dem Motorrad, wobei er das Versehgerät, das Salböl, das Weihwasser, das Salz, ein kleines silbernes Kruzifix sowie das Allerheiligste Sakrament in einem alten Rucksack mit sich führt.  Wurmsers theologische Ausrichtung wird nicht greifbar. In der Schule wird der für den katholischen Religionsunterricht vorgesehene Katechet Meier mit Duldung, wenn nicht mit Hilfe des Dichters gemobbt. Ein neben der Türe angebrachtes, das flammende Herz Jesu darstellendes Weihwasserbehältnis wurde von Bereyter rechtzeitig vor jeder Religionsstunde mit der sonst zum Gießen der Geranienstöcke verwendeten Kanne bis zum Rand gefüllt. Nie ist es darum dem Benefiziaten gelungen, die Weihwasserflasche, die er stets in seiner Aktentasche bei sich führte, zum Einsatz zu bringen. Tiefe Zuneigung dagegen empfindet Sebald für den von ihm als katholischer Strafprediger erlebten Thomas Bernhard, und seine stille Achtung hat auch der kalvinistische Prediger Elias, der am Sonntag der versammelten Gemeinde mit erschütternder Wortgewalt das allen bevorstehende Strafgericht, die Farben des Fegefeuers und die Qualen der Verdammnis vor Augen führte. Strafpredigten sind angesichts des vom Dichter diagnostizierten Zustands der Menschheit angemessen, naturgemäß aber ohne heilsame Folgen.

Selysses besucht nicht Reims oder Chartres und auch nicht das Baptisterium des Markusdoms, mit Prousts Erzähler trifft er sich aber in Padua, in der Cappella degli Scrovegni, einer von Giotto ausgemalten Königin unter den Kapellen der Welt. Dabei richtet sich seine Aufmerksamkeit freilich ganz auf die obere Bildhälfte der Beweinung Christi. Die dem Charakter der Frohen Botschaft näher stehenden Bildwerke bleiben unbeachtet. Am meisten erstaunt ihn die lautlose Klage, die seit nahezu siebenhundert Jahren von den über dem unendlichen Unglück schwebenden Engeln erhoben wird. Wie ein Dröhnen war diese Klage zu hören in der Stille des Raums. Die Engel selbst aber hatten die Brauen im Schmerz so sehr zusammengezogen, daß man hätte meinen können, sie hätten die Augen verbunden. Und sind nicht, dachte ich mir, die weißen Flügel mit den wenigen hellgrünen Spuren der Veroneser Erde das weitaus Wunderbarste von allem, was wir uns jemals haben ausdenken können? - Man vermag eine religiöse Stimmung auszumachen, die aber ganz auf den Ton der Weltklage eingeengt und, wie bei Proust, allein ästhetisch verankert ist.

Ähnlich wie Selysses auf seinen Wegen durch die Städte Dante, dem Bayernkönig Ludwig und anderen üblicherweise Verborgenen begegnet, findet sich kaum eine Gestalt in Prousts Werk, die sich nicht irgendwann und zumeist für kurze Zeit nur in einen Heiligen oder eine Heilige verwandelt. Durch Sebalds Werk ziehen die Heiligen wie entlaufene und schuldlose Sträflinge, der heilige Franz treibt mit dem Gesicht im venezianischen Sumpfwasser, die heilige Katharina geht mit ihrem Marterrädchen an ihm vorbei, der heilige Hieronymus gräbt sich eine Grube im Garten eines englischen Gutshofes, Mrs. Ashbury, von der es heißt, sie werde immer unschuldiger, heiliger noch, bleibt ihm Plafond stecken, als sie zum Himmel auffährt. Die lautlose Klage der Engel Giottos wird nicht leiser.

Freitag, 11. Oktober 2013

Heilende Hand

Gesundheitsfürsorge
Selwyn und Bereyter gehen aus dem Leben, bevor noch die Medizin Anlaß hat, eine heilende Hand nach ihnen auszustrecken. Aurach hat den rechten Augenblick verpaßt, er liegt, bevor er dem vorbeugen konnte, im Withington Hospital, einer ehemaligen Besserungsanstalt für Obdach- und Beschäftigungslose, in einem Männersaal mit weit über zwanzig Betten. Medizinisches Personal begegnet uns nicht. Seinen Zustand empfindet Aurach als schandbar und er hat den Vorsatz gefaßt, ihm möglichst bald zu entkommen auf die eine oder die andere Weise. Der Richter Farrar bringt es auf seinem morgendlichen Rundgang fertig, mit dem Feuerzeug, das er immer in der Tasche trug, seinen Schlafrock in Brand zu stecken. Seinen schweren Verbrennungen erliegt er noch am selben Tag, über Art und Umfang der ärztlichen Rettungsbemühungen werden wir nicht unterrichtet. Der Major Le Strange ist, einer Zeitungsnotiz zufolge, ohne Vorwarnung im Hallway seines Gutshauses in Henstead, Suffolk, zusammengebrochen und gestorben, jede ärztliche Hilfe kam zu spät, er hätte sie sich auch verbeten.

Als Kind war Selysses in seinem Heimatort W. schon früh mit Vertretern des ärztlichen Standes in Kontakt gekommen. Die Patienten, die die Praxis des Dr. Rambousek aufsuchten, waren nur um ein Geringes zahlreicher als die Besucher des von den Schwestern Babett und Bina betriebenen Café Alpenrose, das nie ein Gast betreten hat. Als Selysses den Dr. Rambousek aufsucht, nicht in eigener Sache, sondern in der des an einer sich nicht schließenden Wunde leidenden Engelwirts, findet er den Mediziner seinerseits tot am Schreibtisch. Die Hilfe des Kollegen Dr. Piazolo hatte er nicht mehr in Anspruch nehmen können und auch nicht wollen. Piazolo ist von weitaus robusterer Natur. Zu jeder Tages- und Abendstunde sah man ihn auf seiner Zündapp im Dorf herum oder bergauf und bergab zwischen den umliegenden Ortschaften hin und her fahren. Winters wie sommers trug der Dr. Piazolo, der in Notfällen ohne weiteres auch Veterinärgeschäfte zu übernehmen bereit war und der offenbar den Vorsatz gefaßt hatte, im Sattel zu sterben, eine Fliegerhaube mit Ohrenklappen, eine ungeheure Motorradbrille, eine lederne Montur und lederne Gamaschen. Dem verunfallten Jäger Schlag kann er nicht mehr helfen, Selysses’ Diphtheritis behandelt der Großvater nach Piazolos ärztlichen Anweisungen erfolgreich. Der Dr. Piazolo hatte einen Doppelgänger oder Schattenreiter in dem gleichfalls nicht mehr zu den Jüngsten zählenden Pfarrer Wurmser, der seine Versehgänge auch die längste Zeit schon mit dem Motorrad machte, wobei er das Versehgerät, das Salböl, das Weihwasser, das Salz, ein kleines silbernes Kruzifix sowie das Allerheiligste Sakrament in einem alten Rucksack mit sich führte, der dem des Dr. Piazolo bis aufs Haar glich, weshalb die beiden, als sie einmal beim Adlerwirt beieinandergesessen sind, auch verwechselt haben, so daß der Dr. Piazolo mit dem Versehgerät zu seinem nächsten Patienten und der Pfarrer Wurmser mit dem Arztwerkzeug zum nächsten im Erlöschen liegenden Mitglied seiner Gemeinde gekommen sein soll. – Die slapstickartige Anlage der Szene darf über den Ernst der Lage nicht hinwegtäuschen, überkommene Seelenheilkunde und neuzeitliche Körperheilkunde sind durcheinandergeraten und haben sich gegenseitig lahmgelegt, der heilige Georg mit dem Strohhut und der heilige Antonius haben ihre Plätze verlassen, das von Pisanello festgehaltene wohl austarierte Verhältnis von Alt und Neu ist zerstört. Oder bringt das Vertauschen der Rucksäcke nicht vielmehr an den Tag, daß beider Inhalt unzureichend und unangemessen ist und auch nicht hinreichend und angemessen sein kann. Möglich ist aber auch die Lesart, in der zu der fraglichen Zeit die Institutionen des Landarztes und des Dorfpfarrers noch so solide installiert waren, daß selbst der versehentliche Austausch des Arbeitsgerätes ohne nennenswerte Folgen blieb.

Zu Beginn der Ringe des Saturn treffen wir Selysses in einem Zustand gänzlicher Unbeweglichkeit im Spital, ein behandelnder Arzt ist nicht in Sichtweite. Mit literarischen Mitteln nimmt Selysses seine Heilung selbst in die Hand. Indem er sich in Kafkas Käfer verwandelt, gelingt es ihm immerhin, sich am Fenster aufzurichten und, ähnlich wie Gregor in die stille Charlottenstraße, hinauszublicken über die Stadt, die sich bis weit gegen den Horizont sich erstreckte. Gleich anschließend erfahren wir von zwei Todesfällen, in denen weder die ärztliche Kunst noch die Selbstheilungskräfte etwas auszurichten vermochten. Michael Parkinson, den seit ein paar Tagen niemand gesehen hatte, wird in seinem Bett tot aufgefunden. Die gerichtliche Untersuchung ergibt that he had died of unknown causes. Rosalind Dakyns, seine Kollegin, erliegt in der kürzesten Zeit einer ihren Körper zerstörenden Krankheit.

Der Erste Teil der Ringe verharrt dann weiterhin bei der Medizin, indem er sich dem Arzt und Prosakünstler Thomas Browne zuwendet, Arzt in der Zeit, als sich die moderne Medizin, ähnlich wie die Astronomie von der Astrologie, von der mittelalterlichen Heilkunde befreit. Browne war, wie der Dichter vermutet, anwesend bei der öffentlichen, von Rembrandt im Bild festgehaltenen Prosektur des Stadtgauners Aris Kindt. Die Leichensektion war das Kernstück der medizinischen Grundlagenforschung, und als solches wollte sie gesehen werden. Zweifellos auch handelte es sich bei der Prosektur einesteils um eine Demonstration des unerschrockenen Forschungsdrangs der neuen Wissenschaft, andernteils aber, obzwar man das sicher weit von sich gewiesen hätte, um das archaische Ritual der Zergliederung eines Menschen, um die nach wie vor zum Register der zu verhängenden Strafen gehörende Peinigung des Fleisches des Delinquenten bis über den Tod hinaus. Daß es bei der Amsterdamer anatomischen Vorlesung um mehr ging als um die gründliche Kenntnis der inneren menschlichen Organe, dafür spricht der an Rembrandts Darstellung ablesbare zeremonielle Charakter der Zerschneidung des Toten. Die unförmige Hand ist das Zeichen der über Aris Kindt hinweggegangenen Gewalt. Mit ihm, dem Opfer, und nicht mit der Gilde, die ihm den Auftrag gab, setzt der Maler sich gleich. Er allein hat nicht den starren Blick, er allein nimmt ihn wahr, den ausgelöschten, grünlichen Leib, sieht die Schatten in dem halboffenen Mund und über dem Auge des Toten. – Mit den Mitteln der Kunst erkennt Rembrandt die Medizin als Wissenschaft nicht des Lebens, sondern des Todes.

Als Austerlitz nach Verlassen des Veterinärmedizinischen Museums in Paris zusammengebrochen ist, kommt er in der Salpêtrière wieder zu sich, einem ein eigenes Universum bildenden Gebäudekomplex, in welchem die Grenzen zwischen Heil- und Strafanstalt von jeher unsicher gewesen sind, wo er in einem der oft mit vierzig Patienten und mehr belegten Männersälen lag. Die Unterbringung ähnelt der Aurachs, Foucault ist in seinem philosophischen Werk ähnlichen Eindrücken nachgegangen. Vertreter der Heilkunst lassen sich nicht blicken. Hätte nicht der Krankenpfleger Quentin Quignard im Notizbuch des Kranken die Adresse M. de V., 7 Place des Vosges gefunden, weiß man nicht, was aus ihm geworden wäre. Bei einem ihrer regelmäßigen Besuche bringt Marie aus der Bibliothek ihres Großvaters ein altes Arzneibüchlein mit, pour toutes sortes de maladies, internes et externes, invéterées et difficiles à guérir. Die Lektüre dieses Büchleins, von dem er bis zum heutigen Tag noch ganze Passagen auswendig weiß, läßt Austerlitz, ohne sonstige heilkundliche Maßnahmen, sein verlorenes Selbstgefühl und seine Erinnerungsfähigkeit wiedererlangen.

Selwyn und Bereyter haben die Fürsorge des Gesundheitswesens vermieden, Aurach will ihr entkommen, Adelwarth liefert sich ihr aus, have gone to Ithaca. Anstelle eines Heilers findet er, wohl seinem geheimen Wunsch entsprechend, seinen Henker. Die Diagnose lautete auf schwere Melancholie im Senium, verbunden mit stupuröser Katatonie, doch stand hierzu im Widerspruch die Tatsache, daß der Patient keine Anzeichen der gemeinhin mit diesem Zustand einhergehenden körperlichen Verwahrlosung zeigte. Bemerkenswert war auch, mit welcher Bereitwilligkeit er sich der Schockbehandlung unterzog, die in dieser Zeit wahrhaftig an eine Folterprozedur oder ein Martyrium heranreichte. Zum anberaumten Zeitpunkt saß er jedesmal schon auf dem Hocker vor der Türe und wartete, den Kopf an die Wand gelehnt, die Augen geschlossen, auf das, was ihm bevorstand.

Nach Rembrandts gültigen Einsichten in das Wesen der Prosektur war Gutes nicht mehr zu erhoffen. Halbgötter in Weiß, die sich auf die Stelle des toten Gottes drängen mit dem Anspruch, über den Verlust des versprochenen Ewigen Lebens hinwegzutrösten, indem sie dem begrenzten irdischen Dasein die größtmögliche Ausdehnung verleihen, sind in Sebalds Werk nicht anzutreffen. In den Krankensälen sind die Moribunden allem Anschein nach sich selbst überlassen. Besser, man geht ohne ärztliche Hilfe aus dem Leben. Rambousek gilt bei den wenigen, die seine Praxis aufsuchen, als guter Arzt, einen Einfluß auf die Gesamteinschätzung der Lage hat das nicht. Wenn Farrar auf sein Berufsleben als Richter mit einigem Befremden zurückblickt, so Abramsky auf das seine als Arzt mit schierem Entsetzen. Der Folterknecht Professor Fahnstock muß nicht ausdrücklich erwähnt werden. Die überwiegend dem Großvater obliegende Heilung des Schülers Selysses von der Diphtherie ist weithin der einzige zu vermeldende medizinische Erfolg, Piazolos gleichsam nomadenhafte Ausübung der ärztlichen Kunst im ländlichen Terrain vom Krad aus mag noch angehen. Austerlitz gesundet nicht dank der modernen Medizin, er kuriert sich durch die bloße Lektüre eines heillos veralteten Arzneibüchleins.

In dem Augenblick, als Luciana Michelotti möglicherweise seine Schulter berührt, erinnert Selysses sich an einen Besuch in einem Brillengeschäft in Manchester. Neben ihm stand eine chinesische Optikerin, die, wie ein kleines Schildchen an ihrem Berufskittel anzeigte, wunderbarerweise Susi Ahoi hieß. Wiederholt rückte sie die schwere Testbrille zurecht, und einmal rührte sie sogar, viel länger, wie ich mir einbildete, als nötig gewesen wäre, mit ihren Fingerkuppen wie mit einer heilenden Hand an seine wie so oft vor Schmerzen klopfenden Schläfen, wenn auch wahrscheinlich bloß, um mir den Kopf etwas besser auszurichten. Da die Erinnerung an sie unmittelbarer von der Limoner Wirtin abzweigt, ist die optische Fachkraft gleichsam deren Schwester, und sicher ist es auch nicht ohne Bedeutung, daß es eine Chinesin ist. Es gibt keine Hinweise, der Dichter habe der europäischen Medizin die chinesische gegenüberstellen wollen, die Suche nach einem anderen Denken als dem in Europa nicht nur in der Medizin eingeschlagenen gilt ihm aber als unerläßlich wenn wohl auch aussichtslos. Auch unser Herr, wenngleich ihm bei der Behandlung des wahnsinnigen Gadareners zweifellos ein schwerer Kunstfehler zuungunsten der zweitausend Exemplare starken Sauherde unterlaufen war, setzte für gewöhnlich ganz auf die Heilkraft der unbewaffneten Hände.

Dienstag, 1. Oktober 2013

Menschenrassen

Race de Combray

Dem mit dem Rassismusverbot noch nicht vertrauten Proust zerfällt die Menschheit in zwei Rassen, so unterschiedlich wie in der Vorzeit Cro-Magnon und Neandertaler. Auf der einen Seite haben wir la race de Combray, bestehend aus der Mutter und der Großmutter des Erzählers, mit Einschränkungen ferner dem Vater, der Tante Leonie und, in spezieller Weise, auch Françoise, und auf der anderen Seite alle anderen. Was die einen ausmacht, fehlt den jeweils anderen völlig. Der Leser wundert sich, daß diese beiden Abteilungen die gleiche Welt teilen sollen und noch mehr, daß vermittels des Mediums der französischen Sprache eine Verständigung möglich sein soll; sie besteht aber wohl auch nur zum Schein. Während des Aufenthalts in Balbec nimmt denn die Großmutter die mondäne Welt des Grand Hotels so gut wie nicht wahr, sie geht an ihr vorüber. Et depuis que la race de Combray, la race d’où sortaient des êtres absolument intacts comme ma grand-mère et ma mère semble presque éteinte, verbleibt der Erzähler in einer ihm gänzlich fremden Menschenwelt, die er, als sei er auf einem fremden Stern ausgesetzt und ohne andere Wahl und Beschäftigung, umso penibler mit dem Blick eines Humanethologen erforscht, im Hinblick auf die im Werk dominante mondäne Welt möchte man im Hinblick auf die dort vorgefundenen bizarren Formen vom Humanentomologen sprechen.
So rein und unvermischt die Rasse von Combray ist, in so viele Sphären zerfällt der Rest der Menschenwelt, Sphären die nach der Annahme des jungen Humanentomologen klar und unaufhebbar voneinander geschieden sind. Bald schon muß er aber erkennen, daß sein Forschungsansatz nicht hinreicht, daß er den moderneren eines Beobachters der zweiten Ordnung annehmen muß. Die Sphären stellen sich ganz anders da, ob sie nun von Mme Verdurin, dem Baron Charlus, Saint-Loup, der Großmutter oder Françoise wahrgenommen werden. Erst als es dem Erzähler gelingt, alle Blickwinkel nachzuvollziehen, klärt sich ihm das Bild. Erst jetzt hat er den Blick frei für die realen Übergänge zwischen den Sphären, die am leichtesten auf der Seite der Frauen zu verfolgen sind, da hier in der Regel jeder Sphärenwechsel mit einem Namenswechsel verbunden ist. So wird aus Miss Sacripant Odette de Crécy, dann Mme Swann, dann la Comtesse de Forcheville und schließlich die Maitresse des Duc de Guermantes. Beim letzten großen Empfang des Prince de Guermantes im Temps retrouvé  ist der Erzähler nach langer Abwesenheit einer Fülle solcher zum Teil unglaublicher Szenenwechsel ausgesetzt, am verstörendsten die Verwandlung von Mme Verdurin in Mme de Guermantes. In gewisser Weise werden die Aufsteiger aber um die Früchte ihres Erfolgs gebracht, da die für die Würdigung unerläßlichen Kenntnisse der Sphärenordnung beim Publikum drastisch zurückgehen. Noch verstörender als die gesellschaftlichen Bewegungen sind die bei allen zu beobachtenden biologischen Spuren, mit denen das Leben den Eintritt des Todes schon vorbereitet hat. Die Race de Combray, die Mutter und die Großmutter, ist dagegen keinerlei Veränderungen unterworfen mit der einzigen Ausnahme der des Todes, und selbst der trifft bei ihnen, bevor er eintritt, keine sichtbaren Vorbereitungen.

Wegen der prominenten Bedeutung verschiedener Formen des Erinnerns in beider Werk werden Proust und Sebald häufig in einem Satz genannt. Die Unterschiede sind aber kaum weniger auffällig als die Ähnlichkeiten, und der nicht geringste Unterschied ist das entschiedene Fehlen der Race de Combray bei Sebald. Combray ist als die Ortschaft W. vorhanden - hier die Ach und dort die Vivonne -, aber der Platz der Mutter und Großmutter ist sorgfältig herausgeschnitten. Der Großvater steht an der verlassenen Stelle, zieht aber keine bedeutenden Erzählstrecken auf sich. Mit dem Fehlen der Race de Combray rückt auch der Rest der Menschheit in ein anderes Licht.

Prousts Werk bewegt sich auf den Ausbruch des Ersten Weltkriegs zu, den der Dichter in einer sehr unaufgeregten Art kommentiert. Den Niedergang der Gesellschaft, von der er sein Leben lang umgeben war, beobachtet der Erzähler beim Empfang der Guermantes im Temps retrouvé ohne sichtbare Zeichen von Wehmut oder gar Trauer. Wenn Sebalds Werk gleichfalls um das Jahr 1913 kreist, so in einem Rückblick über zwei Generationen hinweg. Die gegenwärtige Menschengesellschaft ist es nicht wert, betrachtet zu werden, wenn es eine Barbarei ist, nach Auschwitz Gedichte zu schreiben, so kann es umso weniger einen poetischen Soziologen wie Proust noch geben. Die Menschen, die Selysses trifft, sind keiner gesellschaftlichen Sphäre zuzuordnen, am sogenannten gesellschaftlichen Leben nehmen sie nicht teil, ob Protagonisten oder Komparsen, es sind allesamt Emeriten wie Selwyn und Bereyter oder Eremiten unterschiedlich strenger Observanz wie Garrad und Le Strange.
Die größte und wohl nicht zufällige Nähe zu Proust erreicht Sebald in seiner, Austerlitz mitgezählt, wohl schönsten Langen Erzählung: Ambros Adelwarth. Das Erzählen beginnt mit einem Familienfest in W./Combray, sogar die Mutter wird kurz erwähnt. In Newark wird der Erzähler von der Tante Fini und dem Onkel Kasimir schon fast wie ein Sohn empfangen. Cosmo Solomon, reich, homosexuell und todesgeneigt, hat das Format eines Prousthelden. Er teilt Züge der Ähnlichkeit mit Swann, Charlus und Saint-Loup, ohne aber einem der drei zu gleichen. Zum Ende aber wird er ein Eremit nach Sebalds Maß, ein Eremit aber auch wie Proust schließlich selbst, im Haus n°102, Boulevard Haussmann. Im Deauviller Hotelzimmer, unweit Balbec, schleicht Selysses sich dann im Traum ein in Prousts Welt und lernt la race du côté de Guermantes kennen, die Welt, in der Saint-Loup, Swann, Montgomery, Fitz James, d’Erlanger, de Massa und Rotschild sich bewegen. Ganz zuletzt erscheinen die schönsten der jungen Damen, les jeunes filles en fleurs, in Spitzenkleidern, durch die die seidene Wäsche hindurchschimmerte, nilgrün, crevettenfarben oder absinthblau. In kürzester Zeit sind sie umgeben von schwarzen Männerfiguren von denen einige besonders verwegen ihre Zylinder auf Spazierstöcken in die Höhe hielten. Am Morgen dann der Blick vom Hotelfenster aus auf eine auf das geschmackloseste zusammengerichtete Person, die ein weißes Angorakaninchen an der Leine spazieren führt. Ein giftgrün livrierter Clubman hält ihm immer dann, wenn es nicht weiter will, ein Stückchen Blumenkohl vor. Proust wäre sicher von diesem, so wie er es verstanden hätte, letzten Blick auf Leben und Werk der Mme Verdurin entzückt gewesen.

Noch von einer anderen Rasse - flüchtig haben wir sie schon erblickt - ist zu sprechen, eher ein Stamm, ein tribu, la petite bande de jeunes filles en fleurs auf der Promenade von Balbec, composée d’êtres d’une autre race, Prousts wohl schönste poetische Kreation. Die Illusion einer fremden Rasse oder auch nur eines besonderen Stamms verfliegt aber schnell. Die einzelnen Mitglieder der petite bande, die, wie sich zeigt, wenig miteinander verbindet, treten hervor, Andrée, Gisèle, Rosemonde und schließlich Albertine, die, als Gefangene und als Flüchtige, titelgebend für zwei Bände der Recherche wird. Der petite bande de jeunes filles am nächsten kommt bei Sebald die Gruppe weiblicher Mitreisender, nicht weniger bezaubernd als die petite bande das junge Mädchen und die Franziskanerin im Zug nach Mailand und die transzendente Erscheinung der Winterkönigin im Zug rheinabwärts. Wir lernen die schönen Reisenden nicht näher kennen, ihren Namen erfährt weder der Erzähler noch einer von uns.

Dienstag, 24. September 2013

Wenn es aufklart

Quatorze Juillet

Sebalds frühe literaturwissenschaftlichen Arbeiten lassen sich gedanklich und sprachlich von Adorno leiten. Die dichterische Prosa dann steht dem Sprachduktus Adornos so fern wie nur denkbar, gedanklich und motivisch aber bewegt sie sich weiter um einen philosophischen Angelpunkt der Frankfurter Schule, der als dialektisch erlebten Aufklärung, einer Illumination, die das Dunkel nur immer klarer beleuchtet, ohne es zu erhellen. Der Quatorze Juillet, an dem nach allgemeiner Übereinkunft die Vernunft die Macht übernahm und umgehend die Guillotine anwarf und auf Betriebstemperatur brachte, wird von Sebald nicht behandelt, seine Zahl ist die Dreizehn. Auf einige Spuren des großen Ereignisses stoßen wir gleichwohl.
Im Pfarrhaus Ilketshall St. Margaret kommt in den Sommermonaten des Jahres 1795 öfters ein junger französischer Adeliger zu Besuch, der vor den Schrecken der Revolution nach England geflohen ist. Sein Gastgeber, der Reverend Ives, ein Mann der Aufklärung, war der Mathematik und Hellenistik womöglich enger verbunden als der Theologie. Als Chateaubriand 1822, nunmehr Botschafter des Königs, nach England zurückkehrt, hatte die hellsichtige Vernunft ihren triumphalen Auftritt im Bereich der Macht fürs erste abbrechen müssen.

Rousseau hat den Quatorze Juillet nicht mehr erlebt aber auf seine Weise maßgeblich auf ihn hingearbeitet. Als er 1765 auf der Peterinsel im Bieler See für eine Weile Zuflucht findet, ist er bereits arg mitgenommen von den Auseinandersetzungen mit den dunklen Mächten der Reaktion zum einen und den konkurrierenden Matadoren der Vernunft, vor allem Voltaire, zum anderen. Tatsächlich ist Rousseau die bunteste Blume im neugepflanzten Beet der Vernunft, allesamt fleurs du mal, wie es scheinen mag, niemand hat zu seiner Zeit, die Frankfurter Schule fast schon vorwegnehmend, den pathologischen Aspekt des Denkens schärfer erkannt als er.
Auf der Peterinsel hat Rousseau auch an seinem Projet de constitution pour la Corse und dabei notiert, qu’un jour cette petite île étonnera l’Europe, wenn er auch nicht wissen konnte, in welch schreckenerregender Weise diese Prophezeiung sich binnen fünfzig Jahren erfüllen würde. Napoleon, einen der ganz großen Synthetiker von Vernunft und Vernichtung, mit einer, aus der Sicht der Vernunft, alles in allem etwas günstigeren Bilanz als Stalin oder Hitler, sehen wir mit den Augen seines Verehrers Stendhal. Der beschäftigt sich dann aber in der Folge stärker mit Fragen de l’amour und reist in Begleitung der imaginären Mme Gherardi an den Gardasee, wo er Kafkas Jäger Gracchus begegnet. Bei seinem Besuch der Casa Bonaparte in Ajaccio wird klar, daß Selysses Stendhals positive Einschätzung des letzten Endes dann doch gescheiterten Empereurs im auf Leichenbergen gegründeten, dem Code Napoléon unterworfenen Reich der Vernunft nicht uneingeschränkt teilt. Schon der extrem händelsüchtige, ständig in Streitereien verwickelte Knabe Ribulione im heimischen Ajaccio ließ wenig Gutes erwarten und angesichts der Unwirklichkeit der späteren Entwicklung ist nicht einmal die gewagte These eines belgischen Forschers einfach von der Hand zu weisen, die von dem Franzosenkaiser bewirkten Umwälzungen seien allein auf seine Farbenblindheit zurückzuführen. Je mehr das Blut floß auf dem Schlachtfeld, desto frischer schien ihm das Grün zu sprießen. Austerlitz freilich hat in jungen Jahren an der Napoleonbegeisterung seines Lehrers Hilary nicht auszusetzen.
 
Der philosophische Begriff der Dialektik der Aufklärung, wachgerufen durch die Schrecken der jüngeren Vergangenheit, zielt über den Quatorze Juillet und seine zeitliche Nachbarschaft hinaus auf den Urbeginn des menschlichen Denkens, da ist es nicht weiter auffällig, wenn Sebald auf ältere Formen des Aufklarens schaut, wie sie nicht zuletzt in der ins Werk eingeschriebenen Bildgeschichte seines Namenspatron sichtbar wird. Zunächst begegnet uns der Heilige Georg bei Grünewald, auf der linken Tafel des Altarbildes tritt er uns entgegen, zuvorderst steht er am Bildrand eine Handbreit über der Welt und wird gleich aus dem Verband der Heiligen und über die Schwelle des mittelalterlichen Rahmens treten. Als er uns bei Pisanello in Verona wiederbegegnet, hat er die Gesellschaft der Heiligen gegen die sieben verwegener Reiter eingetauscht, unter denen sich ein kalmückischer Bogenschütze befindet mit einem schmerzhaften Ausdruck der Intensität im Gesicht. Es gilt nun, das Untier zu erlegen, das wir zur Linken sehen mit zwei noch flügellosen Jungen aus seiner Brut. Einiges an Knochen und Gebein, Überreste der zur Befriedigung des Drachens geopferten Tiere und Menschen, liegen verstreut umher. Auf dem kleinen Bild in der Londoner Nationalgalerie schließlich steht zur Linken der heilige Antonius in einem tiefrotes Kapuzenkleid und einen weiten erdbraunen Umhang. Mit strengem Blick sieht der Eremit auf die glorreiche Erscheinung des Ritters, der ihm gerade gegenübergetreten ist und von dem etwas herzbewegend Weltliches ausgeht. Der Drache, ein geringeltes, geflügeltes Tier, hat sein Leben bereits ausgehaucht. Die aus weißem Metall geschmiedete, kunstreiche Rüstung versammelt auf sich allen Abendschein, der dunkle Wald im Hintergrund erscheint umso dunkler, по мере смены освещенья и лес меняет колорит. Nicht der geringste Schatten der Schuldhaftigkeit fällt auf das jugendliche Gesicht Georgs. Schutzlos sind Nacken und Hals dem Betrachter preisgegeben. Das ganz Besondere aber an diesem Bild ist der außergewöhnlich schön gearbeitete, weitkrempige und mit einer großen Feder geschmückte Strohhut, den der Ritter auf dem Kopf hat. San Giorgio con cappella di paglia - sehr verwunderlich. Die Jungfrau mit dem Erlöserkind, die vor einer aus dem Himmelsblau hervorstrahlenden goldenen Scheibe über allem schwebt, scheint rundum zufrieden mit dem harmonischen Verhältnis von alter und neuer Welt unter ihr. Aber muß nicht einerseits die Schutzlosigkeit des Ritters mit dem Strohhut Befürchtungen erwecken, und kann andererseits ein Zustand, der aus einem blutigen Geschäft resultiert von Dauer sein, auch wenn es einen schlimmen Drachen getroffen hat?
Was bei Pisanello nur eine bange Ahnung ist, wird bei Rembrandt zur Sicherheit. Wenn Pisanello einen mythischen, zeitlosen Augenblick der Erhellung verklärt, so erforscht Rembrandt die verborgene und dunkle Seite des neuzeitlichen wissenschaftlichen Denkens. Zweifellos handelte es sich bei der Prosektur einesteils um eine Demonstration des unerschrockenen Forschungsdrangs der neuen Wissenschaft, andernteils aber, obzwar man das sicher weit von sich gewiesen hätte, um das archaische Ritual der Zergliederung eines Menschen, um die nach wie vor zum Register der zu verhängenden Strafen gehörende Peinigung des Fleisches des Delinquenten bis über den Tod hinaus. Daß es bei der Amsterdamer anatomischen Vorlesung um mehr ging als um die gründliche Kenntnis der inneren menschlichen Organe, dafür spricht der an Rembrandts Darstellung ablesbare zeremonielle Charakter der Zerschneidung des Toten. Die unförmige Hand ist das Zeichen der über Aris Kindt hinweggegangenen Gewalt. Mit ihm, dem Opfer, und nicht mit der Gilde, die ihm den Auftrag gab, setzt der Maler sich gleich. Er allein hat nicht den starren Blick, er allein nimmt ihn wahr, den ausgelöschten, grünlichen Leib, sieht die Schatten in dem halboffenen Mund und über dem Auge des Toten.

Im neunzehnte Jahrhundert, im alemannischen Eck, mag es dann für einen Augenblick so scheinen, als könne sich die von Pisanello gemalte Situation wiederholen, als hätte alles noch anders kommen können, als es dann tatsächlich kam, als könne die Idee von einer im Gleichgewicht gehaltenen Welt ihren Sinn haben, als ließe sich dem blind und taub fortwälzenden Prozeß der Geschichte Begebenheiten entgegen halten, in denen ausgestandenes Unrecht entgolten wird, und als ließe sich im Buch der Natur blättern, in dem selbst die kuriosesten Kreaturen wie zum Beispiel die Prozessionsspinner und die fliegenden Fische ihren Platz haben in der aufs sorgfältigsten austarierten Ordnung. Nachdem sich 1913, im letzten Jahr des neunzehnten Jahrhunderts, die Zeit gewendet hatte und der Funken der Zündschnur wie eine Natter durchs Gras gelaufen war, besteht keine Hoffnung mehr. Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, sei barbarisch, hatte Adorno notiert und Sebald stimmt zu. Die weitaus größere, umfassende Barbarei aber sei, daß die Gesellschaft überhaupt weitermacht. Nun hat sie aber wohl keine andere Wahl als auf die eine oder andere Weise weiterzumachen, bevor sie sich nicht aus eigener Kraft auslöscht hat oder aber von einer höheren Macht aus der Welt befördert wurde, und genau danach sehnt sich Selysses. Immer wieder sucht er den Blick von der Höhe, aus der die Menschen gar nicht und ihre Artefakte nur spielzeuggroß zu sehen sind. Er geht nicht nur durch leere Landschaften, sondern auch durch menschenleere Großstädte. Er schreitet vorbei an maroden Heiligen wie dem heiligen Franz, der mit dem Gesicht nach unten in den Sümpfen von Venedig treibt, oder wie Mrs. Ashbury, die bei ihrer Himmelfahrt im Plafond stecken bleibt, und verstrickt sich in Koinzidenz- und Zahlenmystik, um so auf seine Art die Verschlingung von Mythos und Aufklärung zu demonstrieren. Das sogenannte neue Europa beeindruckt ihn nicht, in Brüssel, der europäischen Hauptstadt, laufen ihm in einem Monat mehr Bucklige und Irre über den Weg als anderswo in einem ganzen Jahr. An den reinigenden Sprachregelungen nimmt er nicht teil, Neger bleiben ihm Neger und Zigeuner Zigeuner. Gern auch würde man wissen, was Adorno von den kurz nach seinem Tode in Vogue kommenden sprachlichen Kunststücken zwecks dauerhafter Einrichtung einer perfektionierten Welt gehalten hätte.
Die Leser lieben Sebald nicht allein und vielleicht nicht einmal vorzugsweise dafür, daß er sie aus der Welt wünscht. Im Zug nach Mailand liest Selysses im Beredten Italiener, einem schweizerischen Hülfsbuch der italienischen Umgangssprache aus der Zeit Kellers und Hebels, in dem alles aufs beste geordnet ist, so als setze sich die Welt tatsächlich bloß aus Worten zusammen. Im Warteraum des deutschen Konsulats zu Mailand dann sitzt er neben dem Hochseilartist Giorgio Santini, der am Namen und mehr noch an dem Strohhut, den er in der Hand hält, als die Reinkarnation des San Giorgio zu erkennen ist. Vielleicht ist dem Dichter hier klar geworden, das Lyrik oder Prosa zu schreiben noch die geringste Barbarei ist, daß es gilt, in einer heillosen und unbewohnbaren Welt ein Hülfsbuch, einen bewohnbaren Raum in den Worten zu schaffen. Wie Dante werden wir durch eine Welt des Dunkels und des Schreckens geführt und fühlen uns doch im milden Taghell der Prosa behütet wie in den alten Bildern vom Stecken und Stab oder von Abrahams Schoß.