Mittwoch, 24. April 2024

Zum Tod

Die Suche

Sebald starb am 14. Dezember 2001 im Alter von 57 Jahren bei einem Autounfall in der Nähe seines Wohnorts. Die Untersuchung der Todesursache ergab, daß er einen Herzinfarkt erlitten und den Wagen nicht mehr gelenkt hatte. Stachura hat ein Bild hinterlassen, das ihn läßig angelehnt an ein Auto zeigt, ein Auto, das aber nicht das seine ist und das er nicht fährt und wohl auch nicht zu fahren versteht. Wo immer es auch hingeht, er verläß sich auf die Bahn oder andere gängige, von ihm genutzte Verkehrsmittel. Viele Fahrten in viele Länder, das ist eine Besonderheit seines noch jungen Lebens, das und der nahezu tägliche Briefaustausch mit Zita, seiner Ehefrau. Auch bei zunehmender Seßhaftigkeit wird es, so die Erwartung, nicht anders sein. Es zeigt sich aber, daß zu Haus das Leben zu zweit ein anderes ist. Zita trennt sich bald von ihm, Einzelheiten kennt man nicht. Stachura begibt sich bald auf die Suche nach dem Tod, ohne ihn gleich zu finden. Er weicht dem sich nahenden Zug nicht aus und ramponiert sich die rechte Hand. Er lernt schnell, mit der linken Hand zu schreiben, und es scheint, als würde er sich unter der Obhut der Mutter wiederfinden. Bei einem geplanten Kurzaufenthalt in seiner Warschauer Wohnung erhängt er sich. Zita hat nicht darüber gesprochen und jegliche Auskunft über Stachura verweigert. Auch Sebalds Verwandte haben nach seinem Tod über ihn wenig preisgegeben 

Samstag, 13. April 2024

Ungute Zeit

Selsames Erleben
 

Er hoffte, durch eine Ortsveränderung über eine besonders ungute Zeit hinwegzukommen, man kann bestätigen, daß ihm das nicht gelungen ist. An Nachdenken und Vorbereitung fehlt es offenkundig. Hat er Bücher mitgebracht, die ja im Notfall immer ein wenig über die Langeweile hinweghelfen können? Bücher werden nicht erwähnt. Hatte er überhaupt irgendetwas geplant? Wir jedenfalls erfahren es nicht. Was hatte überhaupt die sogenannte ungute Zeit hervorgerufen, und woraus besteht sie? Jeden Morgen macht er sich in aller Frühe auf seine ziellosen Wege, die ungewollt immer auf den gleichen Ablauf und das gleiche Ziel hinauslaufen. Die Einkehr in Kaffeehäuser und Gastwirtschaften sind noch das gelungenste. Er bemerkt erst jetzt, daß er die ganze Zeit eine Plastiktasche voller unnützer Dinge mit sich herumträgt und sein Schuhwerk bereits völlig aufgelöst ist. Entsetzt über sich selbst, spürt er eine gewisse Genesung und verläßt das Wiener Hotel, um nach Venedig zu fahren. Eine Ortsveränderung der erlebten Art hat er vorher nicht gemacht und wird es ein zweites mal nicht machen. Ein einsames und lehrreiches Erlebnis, die zweite Reise nach Venedig sieben Jahre später gewinnt einen ganz anderen Charakter und ist nicht vergleichbar.

Samstag, 6. April 2024

Philosophische Glaubensfragen

Demut

Schon bald hatte er seine Tätigkeit als Meßdiener eingestellt und sich kaum noch zu Fragen der Religion und des Glaubens geäußert. Bei einem Rückblick ins Altertum hatte ihn die Philosophie der Griechen wohl tiefer beeindruckt als der aufkommende Glauben Christi. Die griechischen Philosophen erhofften, im Laufe der Zeit ein lückenloses Bild der Welt zu erreichen, eine sicher überzogene Erwartung, schon weil das Bild der Welt sich ganz anders entwickelte als ursprünglich erwartet. Die plötzliche Entwicklung des Christentums in der Jahrtausendwende überraschte mit ganz anderen Folgen, der Glaube tritt an die Stelle von Vernunft und Erkenntnis, eine der seltsamsten und folgenreichsten Umstellungen über zweitausend Jahre hin, Demut ist die leitende Stimmung. Das weitere Erkenntnisvorhaben ist so gut wie stillgelegt, nicht die Erkenntnis von Philosophen ist weiterin erforderlich, sondern die fromme Demut der einfachen Menschen. Jenseits der Demut herrscht die Hochmut, das ist nicht das Feld Gottes und Christi, seines Sohns. Nicht die Kraft, sondern die Bescheidenheit war das Ziel. Hat uns die über zweitausend Jahre hin überwiegend demütige Begleitung des Herrn eher erfüllt oder aufgehalten in unserer Entwicklung? Wie hätte sich die Welt entwickelt, wenn der Christ nicht aufgetreten und die Griechen ungestört ihre Philosophie hätten entwickeln können? Inzwischen zieht sich der Glaube von Tag zu Tag mehr zurück. Einige glauben, sich anstelle des ewigen Lebens mit dem sogenanten guten Leben zufrieden geben, nicht gerade erfolgreich.

Dienstag, 2. April 2024

Rauch

Seine Vielseitigkeit

Die Zigarette hatte er immer parat, in seinen Bücher aber erschien sie nicht. Der Rauch sei tagaus tagein unter der Tür seines Arbeitszimmers hervorgedrungen, heißt es in einem Gespräch, nicht aber in seinen Bücher, dort waren Raucher offenbar nicht zugelassen. Er stieg von der Höhe hinab nach W. und kehrte unterwegs ein, eine Mahlzeit und Rotwein, man stellt sich vor, er habe vor dem Aufbruch noch  eine Zigarette geraucht, davon aber hört man nichts, es wird weder bestätigt  noch verneint. Anderswo geht es anders zu. Man ist mit der Reinigung von Teichen beschäftigt, man ist zu zweit, die Arbeit ist hart, man muß Pausen einlegen, nach oben steigen, eine Zigarette anzünden und sich erholen. Man erzählt das eine und das andere, hält die Zigarette zwischen den Fingern und ist gar nicht so sehr auf den Rauch als solchen erpicht. Die Zigarette bestimmt den Rhythmus des Geschehens. Man steigt zurück in den trocken gelegten Teich, die nächste Schicht beginnt. Man ist nicht gebunden an die Zeit, ob die Arbeit sich über sieben oder acht Wochen erstreckt, der Lohn ist der gleiche. Der früher Tod ist nicht den Zigaretten zuzuschreiben, sondern der Unerträglichkeit des Lebens. Er hat sich völlig gesund in jungen Jahren umgebracht, noch bevor die Zigarette ihm hätte schaden können.

Samstag, 9. März 2024

Ein neuer Tag

 Rückblick

 

Er fuhr von England aus nach Wien, in der Hoffnung, durch eine Ortsveränderung über eine ungute Zeit hinwegzukommen, die Tage neu zu erleben, die Erwartung stellte sich nicht ein. Jeder neue Tag ist als neuer Tag zu erleben, aber das gelingt nicht oft. Man eröffnet den Tag als neuen Tag und bemerkt schließlich erst, daß schon vier Tage unbemerkt dahingegangen sind. Ein Tag vergeht und ein zweiter, ein dritter, das ist kein neuer Tag, vielmehr immer noch derselbe, also nur ein Tag. Erst nach drei oder vier Tagen wird ein neuer Tag bemerkt. Einerseits sind erst zwei Tage wirklich vergangen, unbemerkt und täuschend aber schon sieben oder acht Tage.  Ein trauriger Zustand. Man muß die Ohren spitzen und ständig die Pfeifgeräusche der Zeit erhören.  

Alkohol

 Formen des Lachens

 

Beim Hirschwirt kehrt er gegen Mittag ein, stärkt sich mit einer Brotsuppe und trinkt dazu einen halben Liter Tiroler. Zuvor hatte er an diesem Tag noch keinen Alkohol getrunken und auch im weiteren Verlauf des Tages wird er es sicher nicht übertreiben. Was aber ist mit dieser einen betrunkenen und immer wieder lauthals lachenden Frau? Man hält sie für besonders fragwürdig, gelinde gesagt. Die Stimmung in der Versammlung war großartig, und dann hörte man plötzlich die pijana kobieta, die betrunkene Frau, boże mój, mein Gott, das war schrecklich. Jeder kann lachen, muß lachen sogar, Lachen ist wichtig, man soll viel lachen, aber wie sie lachte, das war schrecklich. Sie fing an zu lachen, und ihm war, als ob man ihm die Luft genommen hätte. So war es. Zum ersten Mal in seinem Leben mußte er derlei hören, dieses Lachen eben. Viele Teilnehmer, auch Frauen, hatten ein Gläschen getrunken, lachten fröhlich, aber das Lachen, dieser Frau, dieses unerhörte Lachen war schlimm. Man trifft einen Menschen, er sagt etwas, man antwortet, und beide müssen lachen, so ist es gut, so soll es sein. Die betrunkene Frau aber war anders, ganz anders, schrecklich, widerlich, ihr Lachen verletzte die menschliche Würde, das menschliche Dasein geradezu. Ergäbe sich im nüchternen Zustand ein anderes Bild von ihr? Der Name der betrunkene Frau ist nicht bekannt.

Mittwoch, 6. März 2024

Olga

 Kurzfassung

Unerwünschte Stille, er beklagt sich, daß keiner da sei, mit dem er sprechen kann, wer könnten das auch sein, und was könnten er ihm sagen? Der polnische Kollege möchte möglichst wenig hören und wenig gestört sein von seinen Gastgebern, er geht durchs Land und durch die Städte, mit besonderer Vorliebe über die Brücken der Bäche und Flüsse. Kein Rinnsal wird ausgelassen. Schon in der Frühe fährt er zu den großen Städten, ein klares Ziel hat er nicht. Ein Bunker bewährt sich als Gaststätte. Nun ist er in einem Bahnhof angelangt, zärtlich geht es da nicht zu. Er schaut auf die anderen, einige schlafen, ach, der köstliche Schlaf, sonst gar nichts. Und dann das Erwachen. Erwachen, wenn er schon nicht mehr nachdenkt. Er wird nicht weiterwandern und nicht mehr nachdenken. Jemand aber geht auf ihn zu, nimmt ihn bei der Hand. Ich heiße Olga. Schließ die Augen. Ich werde dir alles erklären.

Freitag, 1. März 2024

Odysseus

Ewiges Leben

Der Dichter schaut sich um in der Welt, zum Beispiel in den USA, und auch in der Vergangenheit, man denke etwa an das von ihm erzählte Leben der chinesische Kaiserin in den Ringen des Saturn. Zurück bis in die Welt der alten Griechen oder der noch tieferen Vergangenheit begibt er sich allerdings nicht. Luc Ferry, der französische Philosoph, kann erzählerisch und bildnerisch aushelfen. An Homers Erzählung vom zehnjährigen Trojanischen Krieg schließt sich nahtlos die zehn Jahre dauernde Rückkehr des Odysseus nach Ithaka an. Die Nymphe Kalypso hatte ihn bezirzt und ihm unter anderem das ewige Leben versprochen, auf das Odysseus letztendlich aber verzichtete. Ithaka und Penelope waren ihm mehr wert als das Leben, das war und ist eine gelinde gesagt unübliche Haltung, die archaische Prosa schaute primär auf das endlose Leben. Nochmals einige hundert Jahre zuvor  spielte sich die Erzählung vom Gilgamesch ab, die älteste bislang bekannte Erzählung überhaupt, die Illustrationen wiederum nach Vorgaben von Luc Ferry machen uns Gilgamesch vertraut. Gilgamesch besteht aus drei Teilen, zwei Teile sind göttlich, der dritte, menschliche Teil verhindert seine Unsterblichkeit. Die vom Tod nicht wissen, können an ihn nicht glauben, noch weniger die, die von ihm wissen, auch hochentwickelte Tiere haben nur eine vage Ahnung vom Tod. Draufgängerisch wie Gilgamesch ist, erwartet man, daß er, abgesehen von diesen Umwegen, auch den dritten Teil ohne viel Umstände auf den göttlichen Weg der Unsterblichkeit zu lenken vermag, aber das tritt nicht ein. Das ändert sich, als Jesus den Raum betritt. Er kultiviert mittels der Wiederauferstehung das ewige Leben über den Umweg des Todes, für zweitausend Jahre gibt er den Ton an. Für Michel Onfray hat es Jesus nie gegeben, die Glaubensbereitschaft läßt generell erkennbar nach. Einige Philosophen versuchen inzwischen, zurecht ohne viel Erfolg, das ewige Leben durch das sogenannte Glückliche Leben zu ersetzen.

Samstag, 17. Februar 2024

Kurzfassung

eines Geschehes

Man spürte gleich, es würde nicht gutgehen, die Ortsveränderung erfüllte keineswegs die Erwartungen, alles wurde nur noch schlimmer. Erst die Begegnung mit Malachio, dem Astrophysiker, ließ aufatmen, vor allem die gemeinsame Bootsfahrt durch die Kanäle der Stadt Venedig. Der Rückfall aber ließ nicht lange aus sich warten. Nun ist er, offenbar als einziger Gast, in einer Pizzeria eingekehrt, glücklich wird er nicht, den Teller mit der nur zur Hälfte gegessenen Pizza muß er beiseite schieben. Er vermochte nicht, den Kellner herbeizurufen und die Rechnung zu verlangen. Irgendwann bringt der Kellner von sich aus die Rechnung. Er legt 10 000 Lire auf den Teller, rafft die Zeitung zusammen, stürzt auf die Straße hinaus, ruft ein Taxi und fährt ins Hotel zurück, packt in aller Eile seine Sachen und flüchtet mit dem Nachtzug. Sieben Jahre später, wieder zunächst in Venedig und dann in Verona, haben sich die Dinge weitgehend geklärt.