Donnerstag, 26. Oktober 2017

Verletzlich

Dekapitation

Cioran ist Paul Celan, den er gerne mochte und gut kannte, nach Möglichkeit aus dem Weg gegangen, aus Angst ihn zu verletzen, denn alles habe Celan verletzt. Wenn Cioran ihn traf, mußte er ständig auf der Hut sein und überwachte sich so sehr, daß er nach einer halben Stunde ganz erschöpft war. Ist das Verhältnis des Erzählers zu Austerlitz ähnlich, läßt er ihn deshalb reden und trägt selbst kaum etwas bei? Auf einem gemeinsamen Spaziergang ergreift der Erzähler entgegen seiner Gewohnheit das Wort und erzählt Austerlitz von einem einfachen Mann aus Halifax, der nach dem Tode seiner Frau in eine so tiefe Trauer verfallen war, daß er den Entschluß faßte, sich selber das Leben zu nehmen, und zwar vermittels einer eigenhändig von ihm in das Betongeviert der äußeren Kellerstiege seines Hauses hineingebauten Guillotine, die seinem Handwerkersinn, nach gründlicher Erwägung anderer Möglichkeiten, das verläßlichste Instrument zur Ausführung seines Vorhabens schien, und tatsächlich hatte man ihn in einem solchen, ungemein solide gebauten und bis ins kleinste sauber gearbeiteten Dekapitationsapparat schließlich liegen gefunden, die Zange, mit der er den Zugdraht durchschnitten hatte, noch in der erstarrten Hand. Austerlitz antwortet auf den im Stile Kleists vorgetragenen Bericht längere Zeit nicht, vielleicht, so mutmaßt der Erzähler, weil er das Herausstreichen der absurden Aspekte des Falls als eine Geschmacklosigkeit empfunden hatte. Nach einer Weile aber bestätigt Austerlitz in nüchterner Sachlichkeit, er könne den Schreiner in seiner sorgfältigen Planung und allen Anforderungen der Handwerkskunst genügenden Durchführung sehr wohl verstehen, denn es gäbe nichts Schlimmeres, als auch noch das Ende eines unglücklichen Lebens zu verpfuschen. Cioran berichtet von seiner Angst vor Celans Verletzlichkeit, als der sich tags zuvor umstandslos in der Seine ertränkt hatte.

Samstag, 21. Oktober 2017

Misanthropie

Lesegemeinschaft

Der Autor liebt seine Leser wie sie ihn, aus der Ferne, das Werk steht zwischen ihnen. Man bleibt auf Distanz, keine Versammlungen, keine Deklamationen, was es gibt, ist eine stumme Bruderschaft der Geistesarbeiter in den Bibliotheken, darunter ein älterer Herr mit sorgsam gestutzten Haar und Ärmelschonern, der seit Jahrzenten an einem Lexikon der Kirchengeschichte arbeitete, das er nie würde zu Ende bringen können. Altamura weiß seinem Bedürfnis zu lesen am Abend einfach keinen Widerstand entgegenzusetzen, er rettet sich in die Prosa wie auf eine Insel. Auf seinen Reisen und Wanderungen besucht Selysses besucht so gut wie nur Insulaner, Menschen, die John Donnes Inselverständnis nicht rückhaltlos teilen, Misanthropen mit einem Wort. Cioran radikalisiert und rundet es ab: De tous les êtres, les moins insupportables sont ceux qui haïssent les hommes. Il ne faut jamais fuir un misanthrop.

Schwarz vor Augen

Ausgeschieden


Quatre corps par mètre carré soit un total de huit cents corps chiffre rond 

On ne saurait aimer la masse humaine ni en gros ni en détail

Schwarz von Menschen, schwarz vor Augen, schwarz vor Augen von Menschen. Sloterdijk zitiert Canetti: Einige wenige Leute mögen beisammen gestanden haben. Nichts ist angekündigt, nichts erwartet worden. Plötzlich ist alles schwarz von Menschen. - Das frühe 20. Jahrhundert ist die hohe Zeit der Massen im öffentlichen Raum. Die Massen, las masas, wurden unterschiedlich bewertet, den einen hielten sie für bedrohlich, den anderen waren sie Heilsbringer, wenn sie denn, etwa als Proletariat, auf der richtigen Seite und für Fortschritt und Revolution standen. Aus einer mittleren Position heraus wurde und wird die Entwicklung der Massen zum Subjekt unter dem Namen einer mündigen Öffentlichkeit erhofft. Hier gibt es wiederum zwei Lager, die einen halten das Projekt für so gut wie gelungen, die anderen sehen Indizien für eine Rückwärtsbewegung, wenn es denn je eine Bewegung nach vorn gegeben haben sollte. Wer versehentlich auch nur für Sekunden in das sogenannte Unterhaltungsprogramm eines privaten Fernsehsenders gerät, kann sich eigentlich nur auf die Seite der Zweifler schlagen.

Sebald ist der Dichter der Vereinzelten und Einsamen, Freude und Genugtuung beim Anblick einer Menschenmasse kann man bei ihm und seinen Gestalten nicht erwarten. Sie hatte sich einige Monate lang, in der roten Zeit, in München sich aufgehalten, von wo sie in einem arg derangierten und fast sprachlosen Zustand nach Haus zurückgekehrt ist. Was Mathild Seelos im einzelnen erlebt hatte, weiß niemand. Vor dem inneren Auge ziehen Menschenmassen vorbei, Gewalt, Blut, Tod. Unmittelbar vor dem ersten Krieg war Mathild in das Regensburger Kloster der Englischen Fräulein eingetreten, hat das Kloster aber noch vor Kriegsende unter eigenartigen Umständen wieder verlassen. Ordensgemeinschaften sind keine Menschenmassen, vielleicht aber ihr Kondensat, sie versuchen auf Dauer zu stellen, was diese für den Augenblick generieren, ein gemeinsames Erleben, eine gemeinsame Sicht, ein gemeinsames Ziel. Mathild Seelos war wohl einfach kein Gemeinschaftsmensch, nicht erst die Schreckenserlebnisse hatten sie zweifeln lassen. Nach ihrer Rückkehr ins Dorf hat sie vollständig rückgezogen gelebt und sich, nachdem sie einigermaßen ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte, durch die gehässigen Bemerkungen ihrer Mitbewohner in keiner Weise aus dem Konzept bringen lassen. Ganz im Gegenteil hat sie sich in ihrer Eingezogenheit offensichtlich in zunehmendem Maße wohlgefühlt.

Aurach hatte als Kind und Heranwachsender andere Eindrücke von den Massen. Aus der Zeit nach 1933 kann er sich an kaum etwas anderes erinnern als an Prozessionen, Umzüge und Paraden, zu denen es offenbar immer einen Anlaß gegeben hat. Entweder es war Maifeiertag oder Fronleichnam, Fasching oder der zehnte Jahrestag des Putschs, Reichsbauerntag oder die Einweihung des Hauses der Kunst. Entweder trug man das Allerheiligste Herz Jesu durch die Straßen oder die sogenannte Blutfahne. - Nichts ist angekündigt, nichts erwartet worden, plötzlich ist alles schwarz von Menschen: es ist, als sollte genau dieser Effekt durch eine pausenlose Abfolge organisierter Aufmärsche und Prozessionen ausgeschaltet werden, die Masse ist gezähmt, auch die Zuschauermassen sieht man wohlerzogen ausharrend hinter den Sperrgittern. Von Mal zu Mal hat bei den einander ablösenden Versammlungen und Aufmärschen die Anzahl der verschiedenen Uniformen und Abzeichen zugenommen, es war als entfalte sich vor den Augen der Zuschauer eine neue Menschenart nach der anderen, neue Menschenarten, von denen man sich gewiß nichts Besseres erhoffen kann als von den alten. Gleichermaßen erfüllt von Bewunderung, Zorn, Sehnsucht und Ekel hat Aurach das Kind in der je nachdem jubelnden oder ergriffenen Menge gestanden und seine Unzugehörigkeit als Schande empfunden.
Maximilian Aychenwald berichtet vom Reichsparteitag in Nürnberg. Stunden vor der Ankunft des Führers seien die aus allen Teilen des Landes herbeigekommenen Menschen dicht an dicht und in erwartungsvoller Erregung entlang der vorbestimmten Route gestanden, bis endlich, aus dem brausenden Jubel heraus, die Motorkavalkade der schweren Mercedeswagen erschien und im Schrittempo durch die enge freigelassene Gasse glitt. Er selbst habe sich in dieser zu einem einzigen Lebewesen zusammengewachsenen und von sonderbaren Kontraktionen durchlaufenen und durchzuckten Menge als Fremdkörper empfunden, der nun gleich zermahlen und ausgeschieden werden würde. – Die Lage hat sich verändert, die ebenso grelle wie graue Vielfalt der Aufmarschanlässe ist beiseite gewischt von dem alles gespenstisch überstrahlenden Großereignis. Ein Zwiespalt zwischen Bewunderung und Ekel besteht nicht mehr, man weiß, was man zu denken hat.

Die drei Probanden, Mathild, Aurach und Aychenwald, leiden sämtlich an Massenunverträglichkeit, Aychenwald hat, wenn man so will, den Vorteil, es nicht mehr herausfinden zu müssen. Der Erzähler, Selysses, wird nicht mit politisch motivierten Menschenansammlungen konfrontiert, sie sind inzwischen selten geworden und wirken, wenn sie stattfinden, wie an den Haaren herbeigezogen*. Den sich zusammenrottenden Spaßversessenen geht er nach Möglichkeit aus dem Weg, die Einladung zu den Festspielen in Bregenz angenommen zu haben, reut ihn noch Jahre später. Dem Ferienvolk aber kann er nicht immer entkommen, eine einzige buntfarbene Menschenmasse schob sich wie eine Art Zug oder Prozession durch die engen Gassen des zwischen den See und die Felswand eingezwängten Orts. Lauter Lemurengesichter waren es, die verbrannt und bemalt, unkenntlich wie hinter einer Maske, über den ineinander verschlungenen Leibern schwankten. Daraufhin reist er ab aus Limone.

* Catalunya ausgenommen

Mittwoch, 18. Oktober 2017

Stilles Feuer

Wandlungen

Bei der Betrachtung Rimbauds läßt sich die Metapher eines hell aufleuchtenden und dann schnell wieder erlöschenden Meteors, besser noch einer lyrischen Supernova, die unversehens zum Schwarzes Loch zusammenfällt, nur schwer vermeiden. Für wenige Jahre war er der hoffnungslos überbegabte jugendliche Lyriker und Denker und dann für den Rest seines kurzen Lebens der so gut wie verstummte Handlungsreisende in Ostafrika. Beide Lebensteile sind gleich rätselhaft und ungeklärt, vom ersten Teil aber zeugen die unbezweifelbaren, jedermann zugänglichen Dokumente mit und ohne Reim. Von den afrikanischen Jahren bleibt wenig mehr als ein paar karge Briefe, die meisten gerichtet an die Mutter, der er, zuvor undenkbar, inzwischen nach dem Munde redet. Bücher, die er sich nach Harar hat schicken lassen, sind ausschließlich dem Bereich Technik und Sprachkunde zuzurechnen. Für die meisten Betrachter geht durch Rimbauds Leben ein unerklärlicher tiefer Bruch, andere versuchen, eine schwer begreifliche Einheit zu sehen. Ein übergreifendes Merkmal ist in jedem Fall, daß er Zeit seines Lebens ein Gewaltmarschierer schwer vorstellbaren Ausmaßes war. Eine Statue neueren Datums in Charleville zeigt den blutjungen Dichter nicht mit Feder und Papier, sondern als Marschierer, der für einen Augenblick der Rast sein schweres Schuhwerk abgelegt hat.

Gemessen daran Sebalds bleiben beachtliche Wanderleistungen im zivilen Bereich. Für seine späte Wandlung zum Prosadichter muß man die Weltraummetaphorik nicht bemühen, auflodernde Energiestürme sind nicht zu verzeichnen, Schwindelgefühle stattdessen. Jahrzehntelang war der Funken der Zündschnur wie eine Natter durch das Gras gelaufen, und nun erstrahlt in betörenden Farben ein Bengalisches Feuer. Obwohl er uns nichts schuldet, fühlen wir uns von Rimbaud insgeheim hintergangen und betrogen. Von Sebald fühlen wir uns unverdientermaßen reich beschenkt. Froh verzichten wir darauf, seine Wandlung zu erklären. Merke: Dem geflügelten Gaul schaut niemand ins Maul.

Dienstag, 17. Oktober 2017

Moräne

Geschreddert

Zu Sloterdijks Manierismen zählt die Neigung, eine wenig bekannte historische Person oder ein wenig bekanntes historisches Ereignis zu nennen, um dann zur Beschämung des unkundigen Lesers zu behaupten, ohne diese Person oder ohne dieses Ereignis sei der weitere Verlauf der Geschichte in keiner Weise verständlich. Könnte man den Verlauf der Geschichte aber mit Kenntnis dieser Person oder dieses Ereignisses verstehen? Zielführender wäre wohl Honeckers bekannter Sinnspruch vom Ochs und vom Esel, hätte der Staatsmann ihn nur auf den Weltenlauf insgesamt bezogen und nicht auf den Sozialismus eingeschränkt. Im Vormärz damals, als, wie uns der Dichter ins Gedächtnis ruft, Gottfried Keller mit dem Schreiben begann, trieb die Hoffnung auf einen neuen Gesellschaftsvertrag schöne Blüten, stand die Verwirklichung der Volksherrschaft noch zu erwarten, hätte alles noch anders kommen können, als es dann tatsächlich kam. Es hätte wohl anders kommen können, aber sicher nicht so, wie man es seit 1789 erwartete, als man glaubte, die Geschichte auf Null stellen zu können, um sie fortan nach menschlichem Plan und gemäß den sogenannten menschlichen Bedürfnissen verlaufen zu lassen.

Die Schwindel.Gefühle sind ein Geschichtsroman, Stendhal steht für das frühe neunzehnte Jahrhundert, Kafka für das frühe und Selysses für das späte zwanzigste Jahrhundert. Mit dem Schlußsatz nimmt der Erzähler vorausschauend im einundzwanzigsten Jahrhundert den gleichen Zeitpunkt wie Stendhal und Kafka in ihrem jeweiligen Säkulum: 2013 – Ende -.

Mitte Mai des Jahres 1800 zog Napoleon mit 36 000 Mann über den Großen St. Bernhard – mit diesem Eingangssatz könnte auch ein Roman beginnen, in dem eine historische Person oder eine Gruppe historischer Personen im Vordergrund stehen, ein solcher Roman entwickelt sich aber nicht, es kommt auch in dieser Hinsicht ganz anders. Noch weniger lesen wir einen über mehrere Generationen geführter Familienroman vor dem Hintergrund der geschichtlichen Entwicklung. Niemanden in diesem Buch hält es so recht an seinem geschichtlichen Ort, keiner ist an seinem Platz. Kafka ist dem in Oberitalien reisenden Erzähler, obwohl mehr als fünfzig Jahre sie trennen, immer nur einen Schritt voraus. Dante läuft, vom Dichter bemerkt und aufgespürt, durch das Wien unserer Tage, der Bayernkönig Ludwig hält sich in Venedig auf, der Heilige Georg hat wichtige Geschäfte in Mailand zu erledigen, der erst von Kafka erfundene Jäger Gracchus fährt mit seiner Barke, unter Nutzung der ihm angedichteten schon mehr als tausendjährigen Irrfahrt, bereits vor den Augen Stendhals in den Hafen von Riva ein. Beim Studium der zu Folianten gebundenen Veroneser Zeitungen des Jahres 1913 tritt nur disparates Zeug zutage. Der Geschichtsverlauf ist geschreddert. Nachdem er den Begriff der Geschichte in dieser Weise ad absurdum geführt hat, bekennt sich der Erzähler mit einigem Stolz als Historiker, Jakob Philipp Fallmerayer, Historiker aus Landeck.

Die Menschheit formiert sich zum Unternehmen Geschichte mit der so unbegründeten wie unverrückbaren Erwartung eines Happy Endism, formuliert Sloterdijk der, Manierismen hin oder her, gern ins Schwarze trifft. Geschichte ist dem, was ohne Namen und ohne Begriff mit uns geschieht, nur aufgesetzt von Menschenhand, sie ist das, was in Luhmanns Diktion Semantik heißt. Für Gottgläubige war es mehr als fünfzehnhundert Jahre einsichtig, die Welt als im Wartezustand auf das Jüngste Gericht hin zu erleben, Hegel, Marx, einige andere und schließlich als Nachzügler Fukuyama zeichneten dann das glückliche Ende mit zivilen Mittel nach. Der Glaube an ein Happy End hienieden schrumpft inzwischen unaufhaltsam, das Bad End, zu welchem Zeitpunkt auch immer, ist so sicher wie immer schon das Amen in der Kirche. Der Dichter, liest man seine expliziten Äußerungen zum Thema, hätte dem in etwa zugestimmt

Den Weltengang, den Weltenlauf hält weder Ochs noch Esel auf, der Dichter hat eine andere Metapher parat: Sie kommen heraus aus dem Eis und liegen am Rand der Ewigkeitsmoräne, viele Paare genagelter Schuhe und geschliffene Knochen, ein weites Feld voller Totengebein, und des Gebeins lag da viel, sie waren sehr verdorrt - das ist es, was dereinst noch zu sehen und zu deuten bliebe von der Menschheitsgeschichte.

Montag, 9. Oktober 2017

Schlaflos

Wächter vonnöten

Wenn der Dichter von einer besonders unguten Nacht spricht, muß man annehmen, daß seine Nächte durchweg nicht gut verlaufen. Tatsächlich wird die vollendete Nachtruhe, die er unter dem Dach der Goldenen Taube in Verona erfährt, als wahres Weltwunder gehandelt. Er macht während seiner Reisen kaum Anstalten, sich nach Alternativen umzuschauen, die Nacht anders zu verbringen, obwohl doch eine Stadt wie Wien etwa zahlreiche Möglichkeiten bietet, die Nacht, wie man sagt, zum Tag zu machen. Wenn vielleicht auch erst zu später Stunde, kehrt er doch immer in sein Hotelzimmer zurück. Den Fernseher getraut er sich schon nicht mehr anzustellen, obwohl es zumindest mit der Option lautlos ohne weiteres möglich wäre. Er sieht der Tortur einer unguten Nacht entgegen und fällt oft erst in den Morgenstunden in einen wenig erquickenden Schlaf. Im Hotel in Southwold macht er im übrigen die Erfahrung, daß das Fernsehen durchaus hilfreich sein kann. Kaum hat er den Apparat eingeschaltet und es sich in dem grünen Samtfauteuil bequem gemacht, ist er auch schon in einen tiefen Schlaf gesunken.

Austerlitz geht anders vor. Mehr als ein Jahr lang, berichtet er, bin ich bei Einbruch der Dunkelheit außer Haus gegangen, man kann ja tatsächlich in einer einzigen Nacht von einem Ende der riesigen Stadt ans andere gelangen. Überall in den zahllosen Häusern, in Greenwich geradeso wie in Bayswater oder Kensington liegen die Londoner jeden Alters, anscheinend aufgrund einer vor langer Zeit getroffenen Vereinbarung, in ihren Betten, zugedeckt und, wie sie glauben müssen, unter sicherem Dach, während sie doch in Wahrheit nur niedergestreckt sind, das Gesicht vor Furcht gegen die Erde gekehrt, wie einst auf dem Weg durch die Wüste. – Es ist ein von Kafka entliehener Text*, der uns so unvermittelt aus dem Herzen der modernen Großstadt London zurückführt in die Tiefe der Vor- und Wüstenzeit. Wüstenvisionen sind dem Dichter nicht fremd, immer wieder ziehen die Wüstensöhne mit ihren Karawanen durchs Bild, in der Pariser Nationalbibliothek ruhen sie aus von ihrer Mühsal, es schien, daß diese in kleinen Gruppen am Boden kauernden Gestalten sich hier in der letzten Abendglut niedergelassen hatten auf ihren Weg durch die Sahara oder über die Halbinsel Sinai. Nachtruhe finden sie dann in Kafkas Karawanserei.

Sloterdijk**, der gern eigene Wege geht, sieht eine Wächter- gemeinschaft als Urzelle der Zivilisation und berichtet von Heraklits Sorgen um die taghelle Polisgesellschaft. In der Stadtnacht droht die Welt unterzugehen, die Menschen hören auf Bürger zu sein und versammeln sich zu ihren Toten, am privaten Ort geben sie das Gemeinsame preis, sie schlafen, sie weinen, sie wälzen sich hin und her, sie träumen, jeder für sich. Zwischen Austerlitz' Worten aus dem Munde Kafkas und Heraklits Worten aus dem Munde Sloterdijks besteht ein seltsamer dunkler Gleichklang, er nimmt geradezu gespenstiges Ausmaß an, wenn wir Kafka ohne Austerlitz weitereden lassen: Und Du wachst, bist einer der Wächter, findest den nächsten durch Schwenken des brennenden Holzes aus dem Reisighaufen neben Dir. Warum wachst Du? Einer muß wachen heißt es. Einer muß dasein.

Die gleiche Konstellation von Schlafenden und Wachenden, hatte Kafka seinerseits Heraklit studiert? Es wäre bizarr, hätte Sebald Austerlitz von Kafkas neben den Schlafenden auch noch den Wächter übernommen, und es ist nicht ausgeschlossen, daß wir insgeheim in Austerlitz ebenfalls einen Wächter sehen können, Wächter nicht der jungen Polis, sondern Wächter in einer von Auschwitz und Theresienstadt zerstörten Zivilisation. Schon Kafka aber scheint in die Erfolgsaussichten des Wächtertums keine großen Hoffnungen, einer muß dasein, das klingt nicht draufgängerisch. Worüber wacht Austerlitz, über dem, was noch sein kann oder über dem, was hätte sein können? So laß uns ruhig schlafen und unsern armen Wächter auch. Selysses findet zum seligen Schlaf in der Goldenen Taube, nachdem er sich von seiner Identität verabschiedet und die von Jakob Philipp Fallmerayer, Historiker aus Landeck angenommen hat, Historiker im 19. Jahrhundert, als die Hoffnung auf einen neuen Gesellschaftsvertrag noch schöne Blüten trieb, als, wie es schien, alles noch hätte ganz anders kommen können, als es dann gekommen ist. Das 20. Jahrhundert war nicht mehr zum Schlafen gemacht.

* Wie rühren wir an den Schlaf der Welt? In: Weltfremdheit
** Nachts, in: Die Erzählungen

Mittwoch, 4. Oktober 2017

Lebensdaten eines Namenlosen

Im Hintergrund

Es beginnt eigentlich immer mit ihm, dann tritt er in den Hintergrund. Den Onkel hatte er nur ein einziges Mal gesehen, als Kind im Sommer des Jahres 1951. An die sechzig Personen waren zu einem umfassenden Familientreffen nach W. eingeladen, darunter auch sämtliche Amerikaner, wie man sie kurz und bündig nannte, und bei der großen Kaffeetafel im Schützenhaus wurde der Onkel, als der Älteste der nach Amerika Ausgewanderten und ihr Vorfahr sozusagen, aufgefordert, das Wort an die versammelte Sippschaft zu richten. Obzwar ihm vom Inhalt der Kaffeetafelansprache des Onkels nichts mehr erinnerlich ist, entsinnt er sich doch, zutiefst beeindruckt gewesen zu sein von der Tatsache, daß er anscheinend mühelos nach der Schrift redete und Wörter und Wendungen gebrauchte, von denen er allenfalls ahnen konnte, was sie bedeuteten. 1966, in seinem zweiundzwanzigsten Lebensjahr und nachdem er bislang nie mehr als fünf oder sechs Zugstunden von zu Hause weg gewesen war, entschließt er sich aus verschiedenen Erwägungen nach England überzusiedeln, ohne eine zulängliche Vorstellung davon, wie es dort aussehen und wie er, ganz nur auf sich gestellt, in der Fremde zurechtkommen würde. Letztlich ist es allein das sinnreiche, in seinem Zimmer aufgestellte Gerät, die sogenannte teas-maid, eine Kombination aus einem Teekocher mit der Gestalt eines kleinen Kraftwerks und einer Weckeruhr, das ihn durch sein nächtliches Leuchten und sein leises Sprudeln am Morgen und durch sein bloßes Dastehen untertags am Leben festhalten läßt. In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre ist er, teilweise zu Studienzwecken, teilweise aus anderen, ihm selber nicht recht erfindlichen Gründen von England aus wiederholt nach Belgien gefahren. In Erinnerung geblieben sind ihm vor allem etliche im dortigen Nocturama behauste Tiere mit auffallend großen Augen und jenem unverwandt forschenden Blick, wie man ihn findet bei bestimmten Malern und Philosophen, die vermittels der reinen Anschauung und des reinen Denkens versuchen, das Dunkel zu durchdringen, das uns umgibt. Im September 1970 begibt er sich, inzwischen verheiratet, auf Wohnungssuche in der Umgebung der ostenglischen Stadt Norwich. Nachdem sie zunächst bei einem gewissen Dr. Selwyn untergekommen sind, kauft Clara, seine Frau, im Mai 1971 eines Nachmittags unversehens ein Haus, das die beiden fortan bewohnen. Im Oktober 1980 fährt er nach Wien, in der Hoffnung, durch eine Ortveränderung über eine besonders ungute Zeit hinwegzukommen. Die Kur verfängt nicht. Rastlos läuft er durch die Stadt. Er hat niemanden, mit dem er sprechen kann, selbst die Telephone bleiben stumm. Bloß mit den Dohlen in den Anlagen vor dem Rathaus hat er einiges geredet und mit einer weißköpfigen Amsel. Bald sind deutliche Spuren der Verwahrlosung sind nicht mehr zu übersehen, er begann in einer aus England mitgebrachten Plastiktüte allerlei unnütze Dinge mit sich herumzuführen, die ihm immer unentbehrlicher wurden. Der Anblick des inwendig schon gänzlich in Fetzen aufgelösten Schuhwerks entsetzt ihn, es würgt ihm im Hals und die Augen trüben sich. Er reist weiter nach Venedig, dann nach Verona, ohne daß sich seine Lage grundsätzlich ändert. In einer Pizzeria in Verona erfaßt ihn eine plötzliche Panik, er legt 10 000 Lire auf den Teller, rafft die Zeitung zusammen, stürzt auf die Straße hinaus, läuft zur Piazza hinüber, geht dort in eine hellerleuchtete Bar, läßt sich ein Taxi rufen, fährt ins Hotel zurück, packt in aller Eile seine Sachen und flüchtet mit dem Nachtzug zurück über den Brenner. Im Januar 1984 erreicht ihn aus S. die Nachricht, Paul Bereyter, bei dem er in der Volksschule gewesen war, habe am Abend des 30. Dezember seinem Leben ein Ende gemacht. In den nachfolgenden Jahren hat er sich immer häufiger mit Paul Bereyter beschäftigt und versucht, hinter seine ihm so gut wie unbekannte Geschichte zu kommen. Im Sommer 1987 hat er, einem seit langem sich rührenden nachgebend, die Reise von Wien über Venedig nach Verona noch einmal gemacht. Die Reise verläuft wie geplant und diesmal weitgehend ohne besondere Vorkommnisse. Nachdem er die Oktoberwochen in einem weit oberhalb von Bruneck, am Ende der Vegetation gelegenen Hotel verbracht hatte, faßt er eines Nachmittags den Entschluß, nach England zurückzukehren, vorher aber noch seinen Geburtsort W. zu besuchen. Im August 1992 dann macht er sich auf eine Fußreise durch die ostenglische Grafschaft Suffolk in der Hoffnung, einer sich in ihm ausbreitenden Leere zu entkommen, eine Hoffnung, die sich, anders als seinerzeit in Wien, zu einem gewissen Grade erfüllt, denn selten hat er sich so ungebunden gefühlt als wie bei dem stunden- und tagelangen Dahinwandern durch die teilweise nur spärlich besiedelten Landstriche hinter dem Ufer des Meers. 1993, auf den Tag genau ein Jahr nach dem Beginn seiner Reise, wird er in einem Zustand nahezu gänzlicher Unbeweglichkeit in das Spital der Provinzhauptstadt eingeliefertZwei Krankenschwestern, Katy und Lizzie, umschweben ihn engelsgleich, und er glaubt, nur selten sei er so glücklich gewesen wie unter ihrer Obhut. 1996, die Lähmung ist längst überwunden, sind es die Augen. Beim Heraussuchen einer Anschrift aus dem Telephonbuch bemerkt er, daß, sozusagen über Nacht die Sehkraft seines rechten Auges fast gänzlich verschwunden war. Es handele sich, stellt der Ophthalmologe die beruhigende Diagnose, um einen meist nur zeitweiligen Defekt, bei dem sich an der Makula, etwa wie unter einer Tapete, eine Blase bilde, die von einer klaren Flüssigkeit unterlaufen sei. Im Jahr darauf taucht er in Paris auf, dann verliert sich die Spur.

Dienstag, 3. Oktober 2017

Verständlich

Griff ins Leere

Den Aufsatz über einen französischen Literaten leitet Cioran ein mit den Worten, C’est un véritable malheur pour un auteur que d’être compris. Was wie ein elegantes Paradox klingt, führt in unübersichtliche Verhältnisse. Mallarmé hatte gescherzt, Jetzt noch ein wenig Unverständlichkeit reinbringen, und fertig ist das Gedicht, er zeigt so, wie es nicht geht. Unverständlich ist in der Literatur nicht das Gegenteil von verständlich, Celan ist nicht von Haus aus bedeutender als Eichendorff. Es war, als hätt' der Himmel die Erde still geküßt, das ist ohne weiteres verständlich und wiederum doch nicht, jeder merkt es spätestens dann, wenn er die Zeile als Liedgesang in Schuhmanns Vertonung hört. Das Unglück bestünde für Cioran im rückstandslosen Verstehen, das Buch wäre dann wortlos zu schließen und nie wieder zu öffnen. Glücklich schätzen kann sich ein Leser, wenn er durch die Zeilen eilt wie eine Gestalt bei Kafka, die immer etwas versteht, das meiste aber nicht und immer unverzagt bleibt. Der Leser Kafkas muß dem Helden des Buches nur folgen, er wird anderes verstehen und anderes nicht verstehen, unberührt aber bleibt das Übergewicht des Unverstanden. Auch Becketts Helden sind ohne ersichtlichen Grund oft seltsam unverzagt, man denke nur an Mahood, ein Krüppel ohne Gliedmaßen, der in einer Art übergroßem Blumentopf sitzt, bei Tag und bei Nacht, bei Sonne und bei Regen vor einem Gasthaus als lebendige Reklamefigur, und der des Lobes voll ist für die Wirtin, die ihn schlecht und nicht recht ernährt und einmal in der Woche das Stroh wechselt, auf dem er sitzt. Gegen Ende dann, in Erzählungen wie Le dépeupleur oder Worstward Ho, als die Figuren keine Namen mehr haben, ist die Grenze von Verstand und Unverstand aufgehoben, die Unterscheidung greift ins Leere. Sebald, um pflichtgemäß einen Blick auf ihn zu werfen, ist so verständlich wie Eichendorff, daß wir ihn immer wieder aufs Neue lesen, belegt unerschöpfliche Vorräte des Unverstandenen.

Sonntag, 1. Oktober 2017

Voyou

Petite Saison

Die einen beginnen spät, Fontane etwa oder Sebald, andere sind Frühstarter. Unter denen wiederum werden besonders die geliebt, die nicht lange ausgehalten haben, Novalis, Rimbaud. Benjamin Fondane (ursprünglich Fundoianu, eigentlich Benjamin Wechsler) nennt sein Buch Rimbaud le voyou und bezieht sich dabei auf einen Wörterbucheintrag: Voyou, Individu de mœurs crapuleuses qui vit ordinairement dans la rue. An anderer Stelle heißt es: Voyou se dit de l'homme qui a tous les vices du peuple sans en avoir les qualités. Schon bei dieser Definition entfällt der Gedanke an lachende Vagabunden und ähnliches, umso mehr und restlos dann bei Fondane, der in Rimbaud einen Bruder Stawrogins sieht, zwei verunglückte, zwei heillose Heilige, auf verbrecherischer Suche nach einem wahren Leben, das es nicht gibt. Sie gehen den Weg nicht gemeinsam, la véritable révolte ne peut être qu’individuelle, ne fût-ce qu’en deux personnes, il faut bien de conventions, accords, raisonnements.

Man wird sagen, für Sebald war es zu spät für solche Experimente, als er anfing, Prosa zu schreiben, und doch ist einzuräumen, die erste Begegnung mit dem Erzähler, Selysses, ist die Begegnung mit einem Voyou, mit jemandem, der auf der Straße lebt. Rastlos ist er in den Straßen Wiens unterwegs. Die ebenso endlosen wie leeren Gängen führten über ein eher enges Areal nicht hinaus, einen genau umrissenen, sichel- bis halbmondförmigen Bereich, dessen äußerste Spitzen in der Venediger Au hinter dem Praterstern beziehungsweise bei den großen Spitälern des Alsergrunds lagen. Hätte man die Wege, nachgezeichnet, es wäre der Eindruck entstanden, es habe jemand hier auf einer vorgegebenen Fläche immer neue Traversen und Winkelzüge versucht, um aufs neue stets am Rand seiner Vernunft, Vorstellungs- und Willenskraft anzugelangen und zum Umkehren gezwungen zu werden. Deutliche Spuren der Verwahrlosung sind nicht zu übersehen, er begann in einer aus England mitgebrachten Plastiktüte allerlei unnütze Dinge mit sich herumzuführen, die ihm immer unentbehrlicher wurden. Der Anblick des inwendig schon gänzlich in Fetzen aufgelösten Schuhwerks entsetzt ihn, es würgt ihm im Hals und die Augen trüben sich. Une petite saison en enfer, und wieder müssen wir fragen, was wäre geworden, hätte er diese Phase nicht überwunden. Freunde der Koinzidenz werden nicht übersehen, daß Selysses, als er die Bühne betritt, ungefähr das Alter des sterbenden Rimbaud hatte.

Perbene

Nur ein Ungeheuer

Alles, was der Mensch anfaßt und bewerkstelligt, wendet sich gegen ihn, - das sei die Kernaussage der Philosophie Ciorans gewesen, urteilt M.A. Rigoni* und fügt hinzu: Purtroppo è vera, e mi sembra che oggi sia più evidente che mai. Immer, wenn man gerade die schönste Zukunft sich ausmalt, geht es bereits auf die nächste Katastrophe zu, sekundiert der Dichter, der, wenn die Erinnerung nicht trügt, an einer Stelle moniert, daß es in Deutschland keine Denker vom Schlag Ciorans gibt, soltanto persone perbene. Die aber helfen nicht weiter, solo un mostro potrebbe vedere le cose come sono, Monstren wie Machiavelli oder Leopardi; soweit würde der Dichter vielleicht nicht gehen. Wie er begeistert sich auch Cioran für Giotto. Zu den Vizi e virtù bemerkt er, die einen seien die Wahrheit und die anderen die Lüge.

*Ricordando Cioran, 2011