Montag, 23. August 2021

Guarani

Vokal A


Auf den ersten Blick scheint es, als habe der Dichter die ganze Welt befahren, verschiedene Erdteile aber, darunter Asien und Afrika, hat er jedoch nicht gesehen, sondern von ihnen nur gehört. Auch zu den amerikanischen indigenen Völkern hat er keine stabile Verbindung aufgebaut, sie erscheinen nur einmal in der grünen Wildnis als Angehörige eines Stammes kleiner, kupfrig glänzender Leute, wie sie ein wenig oberflächlich vorgeführt werden, Indios, deren Sprache phonetisch den Vokal A überbetont, ja, auf andere Vokale und Konsonanten so gut wie ganz verzichtet. Um welche Etnie, welchen Stamm mag es sich gehandelt haben? Gastone Novelli, auf den diese Kunde zurückgeht, plante während seines Verbleibs vor Ort ein Wörterbuch der Guaranisprache, also hatte er diese Sprache in einer ihrer Spielarten wohl im Sinn. Das Volk der Guarani ist in der Tat eher kleinwüchsig, in ihrer Sprache, dem Guarani, hat der Vokal A allenfalls ein leichtes Übergewicht gegenüber den anderen Vokalen, und auch Konsonanten fehlen nicht. Eine Sprache, die nur auf Modulationen des Vokals A oder auch nur allein auf Vokalen beruht, ist ein irreales Phänomen, Konsonanten können über längere Strecken auf Vokale verzichten, allgemein bekannt ist das tschechische Strč prst skrz krk, deutsch: Steck den Finger in den Hals, eine entsprechende konsonantenfreie Reihung von Vokalen mit semantischer Last gibt es nicht, schon nach kürzerer Strecke braucht es die Halterung eines Konsonanten. Denkbar wäre, daß Novelli einer rituellen Veranstaltung, musikalisch-phonetisch unterlegt mit A-Modulationen, beigewohnt hat. Die Guaranisprache und die Ethnie der Gurani sind in Südamerika noch verbreitet, aufgeteilt in zahlreiche Stämme und Dialektformen in Brasilien, Bolivien, Argentinien, Uruguay. In Paraguay wird Guarani von nahezu vier Millionen Menschen als Erstsprache gesprochen, Spanisch hingegen nur von fünfhunderttausend Menschen. Sogar in der jeweiligen Summe von Erst- und Zweitsprache bleibt Spanisch hinter Guarani zurück. Lexika gibt es inzwischen hinreichend, sogar unterschiedliche für die verschiedenen Dialektformen.

Freitag, 20. August 2021

Säkularisierung

Vagabundierende Heilige


Der Dichter war angetan von Wittgensteins Art und Lebensweise, mit seiner Philosophie hat er sich nicht vertieft beschäftigt. Von Heideggers Art und Lebensweise war er nicht angetan, in seine Philosophie ist er nicht eingedrungen, auch Heideggers Einlassung, das Tier sei weltarm, der Mensch dagegen weltbildend, ist im möglicherweise entgangen. G. Dux wiederum hat, ohne auf Heidegger zurückzugreifen, diese Unterscheidung zum Zentrum seiner Anthropologie und Soziologie gemacht. Auch der Mensch ist ein biologisches Wesen, sein instinkthaftes Verhalten ist aber weitgehend eingeschränkt, die biologische Grundlage überlagert von einer selbstgeschaffenen geistigen Schicht. Das dem Menschen eigene Bedürfnis, die Welt insgesamt zu verstehen, läßt sich über Jahrtausende nur religiös befriedigen, jede Gruppierung, jeder Stamm, jedes Volk, jede Ethnie entwirft eine eigene Religion. So war es seit Urzeiten. In Erweiterung der Evolution entsteht menschliche Geschichte, auch diese lange Zeit unter den Augen Gottes. Das seit dem siebzehnten Jahrhundert aber rapid und inzwischen explosiv ansteigende Wissen von der Welt läßt für Gott und Götter der herkömmlichen Art keinen Platz. Wenn nach Einsteins Annahme Gott nicht würfelt, dann vor allem, weil es ihn nicht gibt. Ohne Religion hätte die Menschheit, überwältigt von der Unverständlichkeit des Seins, in ihrer Frühe nicht bestehen können, nun aber, so Dux, ist die Zeit der Religion so oder so abgelaufen.

Eine Welt zwischen Glauben und Wissen, zwischen Unwissen und Unglauben. Herrenlose, vagabundierende Heilige beleben das Werk des Dichters. San Giorgio wird zu Giorgio Santini, einem Hochseilartisten, der Major Le Strange verkörpert einmal den heiligen Franziskus und dann wieder den heiligen Hieronymus, die ursprüngliche Ordnung der Heiligenwelt ist aus dem Ruder. Unserem Herrn selbst wird bei der Rettung des Gadareners, eine Rettung, die zweitausend Säue mit dem Tode bezahlen müssen, ein böser Kunstfehler vorgeworfen. Auf Giottos Bild Gli angeli visitano la scena della disgrazia wird uns der am Kreuz gestorbene, kaum dreißigjährige Gott vorenthalten, der Teil des Bildnisses unterhalb der mit vor Schmerz zusammengezogenen Brauen dahinschwebenden Engeln ist verborgen. Von Bereyter heißt es, er sei gottgläubig. Ob es ein Gerücht ist, und wer es dann aufgebracht hätte, oder eine belegbare Wahrheit, wird nicht gesagt. Zu denken gibt, daß Bereyter am Sonntagvormittag, der Kirchzeit gern Schach mit dem Schuhmacher Colo spielte, der ein Philosoph und regelrechter Atheist gewesen ist. Nachweislich wahr bleibt jedenfalls Bereyters Haß auf die von ihm so genannte katholische Salbaderei. Man kann wohl annehmen, daß Bereyter auf dem Scheideweg zwischen Glaube und Unglaube gestanden ist. Ein idyllischen Bild der Säkularisierung wird uns bei der Zugfahrt nach Mailand vor Augen geführt. Die Franziskanerin las ihr Brevier, das Mädchen mit einer aus vielen farbigen Flecken geschneiderten Jacke um die Schultern, nicht minder versenkt, einen Bilderroman. Von vollendeter Schönheit waren sie beide. Die von der Franziskanerin verkörperte Glaubenswelt mag als trauter und anspruchsvoller erscheinen, das bunte Mädchen aber ist womöglich noch ein wenig schöner als die Nonne. - Der Dichter ist auf seine spezielle Weise ein Kollaborateur im Prozeß der Säkularisierung der Welt.

Dux bestätigt, die Entstehung der Welt könne man nicht schöner erzählen, als sie in der Genesis erzählt worden ist, wenn es doch so wäre, wie es erzählt wurde. Der Sache nach aber kann das Erzählte vor dem Hintergrund der modernen Astrophysik keinen Bestand haben. Gerald Fitzpatrick paßt sich den neuen Gegebenheiten an und schwärmt von der Pracht der Sternengeburten, wahre Kinderstuben von Sternen seien dort draußen zu entdecken. Malachio verbindet seine astrophysischen Kenntnisse mit der Frage der Auferstehung der Toten, Antworten findet er keine, wie vorauszusehen war, aber ihm genügen auch schon die Fragen. Gott ist in den Tiefen des Alls nicht anzutreffen, da ist es nur verständlich, wenn sich Stachuras Erzähler nach einem Gefährte wenigstens im All sehnt, einem Zwillingsbruder Lichtjahre entfernt auf einem der Erde ähnlichen Planeten (Jasny pobyt nadrzeczny). Wer möchte anders empfinden?

Donnerstag, 19. August 2021

Flaschengeist

Unberechenbar


Auf dem Abstieg nach W. kehrt der Dichter im Unterjoch ein und bestellt einen halben Liter Tiroler, keine schlechte Portion für den Nachmittag. Im wahren Leben soll er sich später eine Alkoholallergie zugezogen haben, die ein bescheideneres Vorgehen erforderte. Stachuras Erzähler bestätigt dem Wodka, ein guter Gesprächspartner zu sein, das klingt nach einsamen Verzehr. Tatsächlich aber kommt der Selbstgebrannte, Bimber, in Siekierezada vorwiegend im gemeinschaftlichen Zechen mit den Holzfällerkameraden zum Tragen. Wenn Marlowe und seinesgleichen die Lösung der Untat schon vage vor Augen haben, greifen sie für die weitere Klärung zur eigens für diesen Zweck im Büro verwahrten Flasche. G. Dux definiert den Menschen durch die ihm einzig eigene, über das naturale Stratum gelegte geistige Schicht, der hilfreich in der Flasche verwahrte Geist steht bereit. Er ist aber dann doch nicht dem Menschen allein vorbehalten, immer wieder wird von Bären berichtet, die nach dem Verzehr großer Mengen vergorener Früchte unberechenbar geworden sind.

Dienstag, 17. August 2021

Episoden

Unter Menschen

 

Der Dichter lebt nicht mit Menschen, er trifft sie und verliert sie wieder. Immerhin, zusammen mit Clara sucht er zunächst eine Wohnung und bewohnt sie für einige Zeit mit ihr. Dann aber kauft Clara ein Haus, das für uns verschlossen bleibt, Claras Spur verliert sich weitgehend.

Mit Malachio, dem Astronomen aus Venedig, war der Erzähler in einer Bar an der Riva ins Gespräch gekommen, sie unternehmen eine gemeinsame Bootsfahrt, zum Abschied ruft Malachio: Ci vediamo a Gerusalemme, was naturgemäß nicht wörtlich zu nehmen ist. Es ist eine geschlossene Episode mit Anfang und Ende. Gleiches gilt für Cornelis de Jong, Fachmann für Zuckerrohr- und Zuckerrübenanbau, den der Erzähler in der Bar des Crown Hotels in Southwold kennenlernt. Nach Darlegung seiner einschlägigen Kenntnisse verlieren wir und wohl auch der Erzähler ihn für immer aus den Augen. Ähnlich scheint es bei Luciana Michelotti zu sein, dann aber läßt der Erzähler wissen, sie sei ihm als resolut und lebensfroh in Erinnerung geblieben ist, sie war ihm also bereits bekannt. In einem gängigen Roman würde die Vorgeschichte zumindest skizziert, hier unterbleibt es. An ihrem Ausgang hat diese Episode eine Pointe, für einen Augenblick scheint es, als würde sie, die Episode, sich nicht schließen, es war, als habe der Brigadiere die beiden getraut und sie könnten miteinander hinfahren, wo sie wollten. Diese von einem Gefühl der Glückseligkeit erfüllte Vorstellung hält allerdings nur einen kurzen Augenblick an, Luciana, die chauffiert, läßt den Dichter an der nächsten Autobushaltestelle aussteigen. Ein kurzer Moment der Ewigkeit e finita la commedia. Urplötzlich läßt der Erzähler uns wissen, er sei mit Salvatore Altamura verabredet, von dem bislang niemand gehört hatte. War der Erzähler mit im vertraut, oder hatte er das Treffen telefonisch anberaumt, ohne ihn von Angesicht zu Angesicht zu kennen? Dann bliebe die Frage, woran er ihn erkennt, als er ihn an einem Tisch vor der Bar, dem verabredeten Ort, antrifft. Man könnte, immerhin denkbar, ein Erkennungszeichen verabredet haben. Wie dem auch sei, Altamura berichtet von der weiteren Entwicklung der GRUPPE LUDWIG, äußert sich noch zu der Oper Aida und ihren Aufführungen in Verona, dann verabschiedet er sich auf Nimmerwiedersehen, Ende der Episode. Alec Garrard hat der Erzähler offenbar schon mehrmals besucht, wie es zur ersten Begegnung kam und wie sie verlaufen ist, bleibt ungesagt. So langsam, wie es mit dem Tempelbau vorangeht, verläuft jede Begegnung, da sich wenig Neues zeigt, wohl so ähnlich wie die vorausgegangene, eine offene und gleichwohl immer wieder geschlossene, gestufte Episode.