Sonntag, 25. Dezember 2016

Frau am See

Versehen

 
In Montreux am Genfersee war er auf eine tagtäglich auf einer Parkbank am Ufer sitzende Dame aufmerksam geworden. Zweimal morgens ist ein Auto am Ufer vor ihr stehengeblieben und ein junger uniformierter Mann ist ausgestiegen und hat ihr Zeitungen gebracht. Manchmal winkte sie einem Vorübergehenden zu. Die Dame ist in mehrere Wolldecken eingewickelt gewesen. Wahrscheinlich ist sie eine dieser reichen und vornehmen Schweizerinnen gewesen, die im Winter am Genfersee leben, während ihre Geschäfte auf der ganzen übrigen Welt weitergehen, hatte er gedacht. Es war immer sie, die auf dieser Bank gesessen war, und so war das Erste, was ihm auffiel, daß sie dieses Mal nicht die Zeitung, sondern ein Buch in der Hand hielt und zwar Nabokows Lebenserinnerungen. Er hob den Blick, es war eine andere. Als er ein zweites Mal an ihr vorübergegangen war, hatte er sie mit einer ans Extravagante grenzenden Höflichkeit auf diese ihre Lektüre hin angesprochen und von da an den ganzen Tag sowie die ganzen folgenden Wochen hindurch in seinem ein wenig altmodischen, aber überaus korrekten Französisch die einnehmendste Konversation mit ihr gemacht. So war sie durch ein Versehen, einen Umweg seine Vertraute, sein Halt im Leben geworden.

Samstag, 24. Dezember 2016

Südamerikanische Kunst

Motivpalette

Von seinen Hauptmotiven, zu denen neben den Holzknechten die Wilderer und die aufständischen Bauern mit der Bundschuhfahne gehörten, ist er nur dann abgewichen, wenn ihm ein bestimmter Gegenstand ausdrücklich vorgegeben worden war. Er war also sehr wohl imstande, sein Repertoire auszuweiten, doch wenn er ganz nach seinem eigenen Kunstsinn sich richten konnte, hat er nichts als Holzerbilder gemalt. Zuletzt, als seine Kunst immer weniger Anklang fand, soll sein Haus mit Holzerbildern so vollgestellt gewesen sein, daß er selber fast keinen Platz mehr hatte. Irgendwann hat er dann eine Reise nach Südamerika unternommen, und nur wenig später ist eine Nachricht gekommen, er habe in einer kleinen Küstenstadt ein Pferd genommen, sei ausgeritten und nicht mehr zurückgekommen. Die Nachricht, auf Grund derer er dann offiziell für tot erklärt werden konnte, traf aber erst Jahrzehnte später ein. Wie sich zeigte, hatte er bis dahin in Rio de Janeiro als ein in der ganzen Welt berühmter Maler gelebt und zwar unter seinem wahren Namen, lediglich das einleitende H hatte er, wie in den iberischen Sprachen nicht unüblich, gegen ein F eingetauscht und im Auslaut das e gegen das landesübliche o. Er habe, so hieß es in den verschiedensten Nachrufen, der südamerikanischen Malerei, ja der ganzen amerikanischen Kunst neuen Auftrieb gegeben und Weltgeltung verschafft. Der Holzknecht war in Südamerika aus einer Motivpalette vollkommen verschwunden.

Freitag, 23. Dezember 2016

Wahre Liebe

Am Gardasee


Mme Gherardi, oft auch einfach nur Ghita genannt, in deren Begleitung Stendhal 1813 Oberitalien und insbesondere den Gardasee bereiste, war eine mysteriöse, um nicht zu sagen geisterhafte Gestalt. Es gibt Grund für die Vermutung, daß sie sich gleichsam aus verschiedenen Liebhaberinnen Stendhals wie Adèle Rebuffel, Angeline Bereyter und nicht zuletzt Métilde Dembowski zusammensetzte. Gegenüber den realen Frauen hatte sie den Vorteil einer größeren Umgänglichkeit, ohne daß der Romancier aber in dieser Hinsicht zu weit gegangen wäre. Ghita war ihm keineswegs in jeder Hinsicht gefügig. Immer dann etwa, wenn er sich mühte, sie zum Glauben an die Liebe zu überreden, gab sie ihm sei es etwas melancholische, sei es scharfzüngige Antworten. Naturgemäß war das eine Weise des Widerstands, die ihm nur recht sein konnte. Die wenigsten von uns sind freilich imstande, ein so fein gesponnenes Kunstgebilde zu ersinnen und mit ihm zu leben. In Riva machten die beiden die Bekanntschaft eines vom hinterlassenen Vermögen seines Vaters lebenden und offenbar schlichter gestrickten Villenbesitzers, der, ebenfalls der bekanntlich immer anstrengenden wirklichen Frauen überdrüssig, bereits seit mehr als zehn Jahren mit einer Schaufensterpuppe zusammenlebte. Als er deswegen vor längerer Zeit schon in einem an die in Desenzano herausgegebene Zeitung gerichteten Leserbrief als unzüchtig bezeichnet worden war, habe er, wie er erzählte, bei dem zuständigen Standesamt seine Verehelichung mit der Schaufensterpuppe beantragt, was aber abgelehnt worden sei. Auch die Kirche habe ihm seine Verheiratung mit der Schaufensterpuppe verweigert. Ghita, die der Erzählung aufmerksam gelauscht hatte, war noch Tage danach sehr nachdenklich gestimmt.

Donnerstag, 22. Dezember 2016

Metamorphosen

Gebeugt


Früher habe es, wie der Dichter sich gern erinnert, in fast jedem Ort einen Buckligen gegeben, der im Gemeinschaftsleben eine wichtige Rolle spielte. Aus der Zeit der eigenen Kindheit könne er sich an vier oder fünf Bucklige erinnern. In gewissem Sinne war er denn auch beglückt, als ihm bei seinem ersten Besuch in Brüssel im Dezember 1964 mehr Bucklige über den Weg gelaufen sind als sonst in einem ganzen Jahr. Nehmen wir für Brüssel auch nur die Mindestzahl von zwei gesehen Buckligen an, so kommen wir im Gesamtwerk, rechnet man zu den Buckligen im engeren Sinn die vom Morbus Bechterew Gebeugten hinzu, auf eine Zahl, die höher liegt als die der aus der Kindheit Erinnerten. Wir haben den Cicerone in Verona, der bucklig war und so stark vornübergebeugt, daß sein um vieles zu großes Jackett mit dem vorderen Saum bis an den Boden reichte; in Ithaca den greisen Portier, der so stark vornübergebeugt ging, daß er mit Sicherheit nicht imstand war, von seinem Gegenüber mehr als die Beine und den Unterleib wahrzunehmen; den Mann mit einem riesigen Buckel, der vor dem Erzähler im Flugzeug nach Calvi sitzt; und die krumme alte Frau auf dem Flug nach Wien, die von der Bechterewschen Krankheit so stark vornübergebeugt war, daß sie von rückwärts aussah, als habe sie keinen Kopf. Einerseits sind die Buckligen und Gebeugten Einschränkungen unterworfen, nicht okular bedingten Sehbehinderungen etwa, die dementsprechend kein Augenarzt heilen kann, andererseits scheinen sie über magische Kräfte zu verfügen. Als der Erzähler dem greisen Portier auf der wunderbaren Mahagonistiege folgt hatte er auf ihr gar nicht das Gefühl des Treppaufgehens, es war ihm, als schwebte gewissermaßen hinan. Als er nach einer schnellen Fahrt vom Flugplatz aus im Mietwagen das Hotel auf Korsika erreicht, ist der Bucklige, der länger noch am Gepäckförderband hatte warten müssen, zu seinem nicht geringen Erstaunen dort bereits eingetroffen. Auch in den nächsten Tagen ist der Bucklige bei allen möglichen Gelegenheiten immer als erster zur Stelle. Und ebenso die kopflose krumme Alte. Obwohl sie nach ihm am Bahnhof Liverpool Street ausstieg, saß sie bereits vor ihm in der Circle Line. Auf dem Flug nach Wien saß sie neben ihm. Als er drei Tage später von Graz nach Schwechat zurückkam, war sie auch wieder da. In der U-Bahn dann und auf der Fahrt nach Norwich verbarg er sich, entsetzt und voller Angst, sie erneut zu sehen, hinter einer Zeitung. Was hat es auf sich mit der Zauberkraft der Buckligen und Gebeugten?

Trotz der Schmerzen zog er sich mühsam an der Fensterbrüstung empor. In der krampfhaften Haltung eines Wesens, das sich zum ersten Mal von Erde erhoben hat, stand er dann gegen die Glasscheibe gelehnt, ähnlich dem armen Gregor, der, mit zitternden Beinchen an die Sessellehne sich klammernd, aus seinem Kabinett hinausblickte. Der drohenden Käferverwandlung kann der Dichter sich entziehen, die metamorphosenreichen holometabolen Kerbtiere, insbesondere die Falter, Seidenraupen, Motten und Schmetterlinge bleiben aber, in den verschiedenen Phasen ihres gestaltreichen Lebenslaufes, reichlich im Werk vertreten, Metamorphosen, vor denen, wie wir von Ovid und Kafka eben wissen, auch wir Menschen nicht gefeit sind, oder auf die wir, anders gesehen, vielleicht hoffen können. Vielleicht, so mag man denken, befinden sich die Buckligen und Gebeugten in einer bestimmten Phase eines Verwandlungsvorgangs. Es scheint, als wollten sie sich einrollen, die Gestalt eines Rades, besser noch, angesichts ihrer Dreidimensionalität, einer Kugel annehmen: Kugelmenschen, wie man ihnen in der Antike noch begegnen konnte. Ein Menschenleben reicht aber wohl nicht hin, um die Rückverwandlung abzuschließen, die die furchtbare Separation der Geschlechter wieder aufheben würde, ist doch in den Augen des Dichters das Geschlecht das Unglück sogar der Heiligen. Andernorts aber, am Meeresufer, lag drunten ein riesenhaftes Ewas auf dem Grund der Grube, ungestalt gleich einer großen, ans Land geworfenen Molluske, scheinbar ein Leib, ein von weit draußen hereingetriebenes, vielgliedriges, doppelköpfiges Seeungeheuer, letztes Exemplar einer monströsen Art, das mit flach den Nüstern entströmenden Atem seinem Ende entgegendämmert. Sollte es der Kadaver eines Kugelmenschen sein? Tatsächlich und naturgemäß ist es ein hinreichend lebendiges Menschenpaar, das gerade mit den so üblichen und beliebten wie untauglichen Mitteln gegen die Separation der Geschlechter angekämpft hatte und nun ausruht. Die Angelegenheit ist verfahren.

Donnerstag, 15. Dezember 2016

Augsburg

Zirkusstadt

Im Halbschlaf noch tauchte in mir eine Freilichtaufführung der Aida auf, die ich als Kind in Begleitung der Mutter in Augsburg gesehen und von der ich nichts in der Erinnerung behalten hatte. Der Triumphzug, bestehend aus einem armeseligen Reiterkontingent und einigen gramgebeugten, für diese Aufführung eigens vom Zirkus Krone entlehnten Kamelen und Elefanten, machte, ganz so als sei er immer unvergeßlich gewesen, vor meinen Augen mehrmals die Runde und versetzte mich, nicht anders als damals, in einen tiefen Schlaf. - Die Augsburger Szene ist bislang nicht in den Fokus der Sebaldforschung gerückt worden, eine endgültige Deutung steht noch aus. Zumindest aber hatte sie den Stadtoberen und Bewohnern von Augsburg keinen konkreten Anlaß zur Beanstandung geboten, auch wenn die Behandlung der Stadt selbst ein wenig karg bleibt. Das war anders, als Bernhard den Zirkusdirektor Garibaldi auf Augsburg zurücken ließ. Er, der Zirkusdirektor, und nicht etwa Bernhard, schilt die Stadt Augsburg dabei unter anderem ein muffiges verabscheuungswürdiges Nest und eine Lechkloake. Das rief die Verantwortlichen auf den Plan und brachte die Bürgerschaft zum Kochen. Der Bürgermeister, stilistisch und argumentativ durchaus auf der Höhe, wandte sich an den Verleger Unseld, die Mozartgemeinde Augsburg an die Festspielleitung Salzburg, der Landrat an den bayerischen Ministerpräsidenten, der dann doch genug politischen Instinkt hatte, keine weiteren Schritte zu unternehmen. Die Leserbriefkästen der Augsburger Zeitungen blieben für längere Zeit prall gefüllt. Allen galt als sicher, Bernhard selbst habe die bösen Worte getätigt und nicht etwa der unverkennbar im Kopf nicht ganz koschere Garibaldi. Das zeigt, wie wenig auch unter auf ihre Weise durchaus klugen Leuten ein genuines Literaturverständnis verbreitet ist. Und selbst wenn Bernhard die Worte auf seine eigene Kappe genommen hätte?

Sebald, der im allgemeinen umstandslos mit seinem Erzähler identifiziert wird, läßt seinen Zorn oder doch den des Herrn auf Brüssel niederfahren: Wen kann es wundern, wenn es in Belgien bis auf den heutigen Tag eine besondere, von der Zeit der ungehemmten Ausbeutung der Kongokolonie geprägte, in der makabren Atmosphäre gewisser Salons und einer auffallenden Verkrüppelung der Bevölkerung sich manifestierende Häßlichkeit gibt, wie man sie anderwärts nur selten antrifft. Jedenfalls entsinne ich mich genau, daß mir bei meinem ersten Besuch in Brüssel im Dezember 1964 mehr Bucklige und Irre über den Weg gelaufen sind als sonst in einem ganzen Jahr. – Auch hier hat es nicht an Mahnungen gefehlt, den unverkennbaren demokratischen Fortschritt, den Belgien mittlerweile in einem freien und demokratischen Europa gemacht habe, nicht aus dem Auge zu verlieren. Auch Bernhard erhebt auf seine Art Einwände: Ist Ihnen denn nicht aufgefallen, daß nirgends auf der Welt so viele Krüppel herumlaufen wie in Lissabon?

Den Unterschied zwischen Literatur und anderen Textgebilden hat anläßlich des Augsburger Vorfalls Bernhard selbst konzis auf den Punkt gebracht. Ihm der ja gern den Dichtermodus als Lebensweise in den Alltag übertragen hat, war durchaus zuzutrauen, er würde die Beschimpfungen unter dem eigenen Namen noch einmal erheblich steigern. Er hat aber den entgegengesetzten stillen Weg gewählt. Unangemeldet ist er bei der Augsburger Zeitung aufgetaucht, um, nachdem er sich versichert hatte, daß diese Humor verstünde, bei der zuständigen Redakteurin vorzusprechen. Bestens gelaunt und höflich hat er bekannt, von Augsburg so gut wie gar nichts zu wissen. Es hätte ebensogut Nürnberg oder Bamberg sein können, vom Klang und der Kadenz her habe aber Augsburg am besten gepaßt. Aus literarischer Sicht sei Augsburg also nur ausgezeichnet worden, und da nun einmal der Lech durch Augsburg fließt, habe er auf das schöne Wort Lechkloake vernünftigerweise nicht verzichten können.

Kunst unterscheidet sich in jedem Fall vom Ingangsetzen einer sprachlichen Kommunikation dadurch, daß sie im Medium des Wahrnehmbaren oder Anschaulichen operiert, ohne die spezifische Sinnleitung der Sprache in Anspruch zu nehmen. Das gilt auch und noch viel dramatischer, weil weniger selbstverständlich, für alle Wortkunst, für Dichtung. Die Aussage eines Dichtwerks läßt sich nicht paraphrasieren, nicht in der Form eines Satzes zusammenfassen, der dann wahr oder falsch sein kann: dem Zirkus näher als der Verlautbarung, so einfach und klar das ist, kaum jemand will es verstehen.

Mittwoch, 14. Dezember 2016

Celeste

Lage der Dinge
Der Major Le Strange hatte Florence Barnes, eine einfache junge Frau aus dem Landstädtchen Beccles, eingestellt unter der ausdrücklichen Bedingung, daß sie die von ihr zubereiteten Mahlzeiten mit ihm gemeinsam, aber unter Wahrung absoluten Schweigens einnehme. Wurde die Vereinbarung im persönlichen Gespräch zwischen Le Strange und Barnes getroffen oder bereits schweigsam auf dem Schriftwege, vielleicht sogar über einen Anwalt? Celeste Albaret jedenfalls wird nicht von Proust persönlich in ihr Amt eingeführt, das sie zunächst nur vertretungsweise wahrnimmt, sondern vom dem anfangs noch Dienst tuenden Kammerdiener. Sie erhält die ausdrückliche Anweisung, Monsieurs Zimmer nur zu betreten, wenn er geschellt hat, nicht anzuklopfen, mais, surtout, ne lui parlez pas, sauf s’il vous pose une question. Geschellt wird täglich für das Frühstück, das der nachtaktive Dichter allerdings kaum je am Vormittag zu sich nimmt. Es besteht aus einer Tasse Milchkaffee und einem Croissant, Kaffee der Marke Corcellet und ausgesuchter Milch aus einem Feinkostgeschäft. Celeste tritt ein mit dem Tablett, sans qu’il m’adressa un mot. Ab und zu schellt er erneut für ein zweites Frühstück der gleichen Art. Le petit déjeuner était presque tout son repas. Kochen muß Celeste nur in Ausnahmefällen, und dann ißt Proust nur wenige Happen, wenn es eine Suppe ist, il en mangeait une ou deux cuillerées et c’était tout. Falls von dem nachmittäglichen Morgenkaffee etwas übriggeblieben ist, trinkt er ihn, allen Feingeschmack hintanstellend, womöglich kalt in der Nacht, nur frische heiße Milch wird zugegossen. Während des Frühstücks wird Stille gewahrt, nicht aber unbedingt für den Rest des Tages. Il a commencé à me retenir de temps à l’autre pour causer, und schließlich wird Celeste seine engste Vertraute. Dann und wann erinnert er sich an ein Lieblingsgericht seiner Jugend, läßt es sich nach einigem Überlegen aber nicht bereiten, il aimait mieux le manger en souvenir – wohl die äußerste, für Proust, wie man sich denken kann, aber naheliegende Verfeinerung der Gourmandise.

Der Frage, wie Proust ohne unverzichtbare Nährstoffe und Vitamine immerhin so alt werden konnte, wie er geworden ist, kann hier nicht nachgegangen werden, es geht nur um überschaubare Gemeinsamkeiten mit Le Strange in den Fragen der Lebensführung. Beide haben sich aus der Menschengemeinschaft zurückgezogen, der Major noch um einiges radikaler, beide haben ihr Wohlergehen zu gutem Teil in die Hände einer jungen Frau gelegt. Die Schilderung des Zusammenlebens von Le Strange und Florence Barnes umfaßt vier Seiten, Celeste Albarets Erinnerungen haben einen Umfang von vierhundert Seiten. Diese vierhundert Seiten beantworten viele Fragen, die bezogen auf Le Strange erst noch gestellt werden müssen. Wieviel Mahlzeiten bereitet Florence täglich, Frühstück, Mittags- und Abendmahl, Tee zwischendurch? Drei oder mehr Mahlzeiten täglich verbracht in gemeinsamem Schweigen, das wäre keine leichte Prüfung. Gut denkbare wäre, daß Le Strange sich ein schlichtes Frühstück selbst bereitet und Florence nur eine gemeinsame Hauptmahlzeit täglich anrichtet. Viel hängt davon ab, ob sie, wie es der Text allerdings nahelegt, dauerhaft in dem großen Steinhaus gewohnt oder vielmehr als Zugehfrau gearbeitet hat.

Wurden die Mahlzeiten zu festen Zeiten eingenommen? Wir vermuten einen zunächst festen Tagesablauf mit zunehmenden Deregulierungstendenzen im Verlaufe der Zeit, als die Lebensführung des Majors mehr und mehr ins Exzentrische sich zu wandeln begann. Während der Tage und Nächte, die der Major nach dem Vorbild des heiligen Hieronymus in einer von ihm selbst ausgehobenen Höhle verbrachte, waren offenbar alle bestehenden Gewohnheiten außer Kraft gesetzt. Wie war es mit der Qualität und Verfeinerung der Speisen, war Le Strange ein Gourmet? Das wenige, das wir wissen von ihm, läßt eher an einen Jünger Wittgensteins glauben, dem egal war, was er aß, wenn es nur immer gleich blieb. Kostproben werden uns vorenthalten ebenso wie Hinweise auf etwaige Lieblingsgerichte, Indizien dafür, daß ihm am Essen nicht viel liegt. Auch auf einem anderen hervorragenden Konsumfeld, dem der Kleidung, zeigt er sich betont desinteressiert, in seinem späteren Alter, weil er seine Garderobe völlig aufgetragen hatte und neue Stücke sich nicht mehr zulegen mochte, ist er in Kleidern aus früheren Zeiten herumgegangen, die er sich bei Bedarf aus den Kästen auf dem Dachboden seines Hauses hervorholte.

Fragen, die Celeste für Proust beantwortet hat, konnten wir daraufhin für Le Strange immerhin stellen, und wenn es auch keine Klarheit gibt, so ist doch einiges Licht eingefallen. Das Zentrum, die Frage nach dem Warum des Rückzugs aus der Menschengemeinschaft, liegt allerdings noch ganz im Dunklen. Bei Proust sind drei Gründe für das gewählte Eremitentum zu erkennen, zum einen der Krieg, der das gewohnte gesellschaftliche Leben ohnehin stark reduzierte hatte; dann die gesundheitlichen Einschränkungen, obwohl in dieser Hinsicht eine etwas sportivere Lebensweise vielleicht besser gewesen wäre; und schließlich und vor allem die Konzentration auf das große Werk. Für Le Strange ist eine Spätfolge des Traumas Bergen Belsen angedeutet aber nicht bestätigt. Der Dichter hilft uns nur wenig, man könnte meinen, der Rückzug aus der Menschengemeinschaft sei ihm bei der Lage der Dinge einleuchtender als der Verbleib. Aber ist die Literatur, die Kunst nicht selbst immer ein Rückzug aus der Welt, um sie neu und tiefer zu erfassen, ist der Dichter nicht von Haus aus ein Verbündeter der Eremiten?

Celeste Albaret hat sich nach langem Zögern zu ihrem Buch entschlossen, um, wie sie sagt, einiges von dem Falschen zu berichtigen, was über Proust zu hören war. Da siedelte Proust allerdings in seinem Werk bereits so sicher wie in einer Bastion. Dem wenigen, das wir über Le Strange erfahren, können wir nicht trauen. Was er von solchen Geschichten, wie etwa der des Hieronymus in der Grube, halten soll, das sei ihm bis heute nicht klar, räumt auch der Dichter ein. Florence Barnes hat, anders als Celeste, ihr Schweigen gewahrt, und vielleicht sollten wir darüber froh sein. Hätte sie gesprochen, wäre die zerbrechliche Geschichte, wie wir sie jetzt kennen, womöglich zerstört worden und läge nicht länger in ihrer Schönheit vor uns.