Montag, 28. Mai 2018

Anasazi

Regenwald

Tó bedeutet in der Navajosprache Wasser, das kürzeste Wort für die wichtigste Sache. Es heißt, die Hochkultur des Anasazi im Bereich des heutigen Navajoreservats sei im 13. Jahrhundert, also noch vor Ankunft der Europäer, wegen einer langanhaltenden Dürre binnen weniger Jahre erloschen. Il ritorno in patria des Erzählers wirkt wie der Traum des letzten Anasazi*.

Schon bei der Ankunft frühmorgens regnet es ohne Unterlaß, und auch als Stunden später der Bus abfährt kommt der Regen noch in Strömen herunter. An den Haltepunkten stehen alte Weiber unter ihren schwarzen Regendächern. Monsunartiger Dauerregen ist freilich nicht das, was sich der Anasazi erträumt, und so tut es zuerst nur ganz wenig und dann immer mehr auf. Die frisch gefirnißte Gegend, die dampfenden Wälder, das blaue Himmelsgewölbe, es ist wie eine Offenbarung. Ein paar Hühner auf einem grünen Feld in der Ferne fallen ihm auf, obwohl es noch gar nicht lange zu regnen aufgehört hat bereits weit von dem Haus entfernt, zu dem sie gehören, kleine weiße Punkte nurmehr. Warum gehen einem, im Wachen oder auch im Traum, bestimmte Wesen so sehr ans Herz wie diese kleine so weit ins offene Feld sich hinauswagende kleine Hühnerschar? In schleierhafter Zeitlupenhaftigkeit stürzen, seit Menschengedenken anscheinend unverändert Bäche über die Felswände herab. Immer wieder, wenn die Luft droben etwas in Bewegung gerät, regnet das Tropfwasser in Güssen herunter. An einem der halbwegs offenen Plätze kann man von einer Art Kanzel sowohl auf einen Wasserfall und Strudeltopf hinab als auch hoch in den Himmel hinaufschauen, ohne daß sich sagen ließe, welche Blickrichtung die unheimlichere ist. Weiter voran auf dem Weg sind linkerhand der Fluß, zur Rechten triefende Felswände. Auf den Wiesen steigen die weißen Nebel. Auf der steinernen Brücke kurz vor den ersten Häusern der der Ortschaft Kinłání bleibt er lange stehen, horcht auf das gleichmäßige Rauschen der Ach, Toohnílíní, und schaut in die nun alles umgebende Finsternis hinein.

Ist es erstaunlich, wenn ein Traum Zeit und Raum zu überbrücken vermag? Man liest von Menschen, die nach einem Unfall, einem Trauma plötzlich in einer Sprache sprechen, die sie längst vergessen oder gar nie erlernt hatte, warum sollte dann ein Anasazi nicht von einem wassergesegneten Weg in der Alpengegend geräumt haben.


*José Vicente Alfaro, El último anasazi
Der letzte Anasazi plant den Bau von Aquadukten, die, sollte sich der hier vorgestellte Traum erfüllen, wohl niemand bräuchte.

Donnerstag, 24. Mai 2018

Korrekt

Fatale Schönheit

Es wäre den Schweiß der Edlen wert, den Dichter auf basale Formen der Korrektheit zu verpflichten. Nicht nur, daß es in seiner Prosa wimmelt von Negern, Zigeunern, Buckligen und Irren, Bezeichnungen, die aus guten Grund alle Wohlmeinenden längst längst ad acta gelegt haben – die zertifizierten Ersatzvokabeln liegen zum allgemeinen Gebrauch bereit -, der Dichter scheut sich auch nicht, einen Trennstrich zwischen sogenannten schönen Menschen und weniger schönen zu ziehen und die Schönen unter Mißachtung der gleichmäßig gestreuten Menschenwürde zu bevorzugen. Das Mädchen war in Brescia zugestiegen, die Franziskanerschwester hatte in Desenzano bereits im Zug gesessen. Die Schwester las ihr Brevier, das Mädchen, nicht minder versenkt, einen Bilderroman. Von vollendeter Schönheit waren sie beide, dachte er sich. - Wenn die Franziskanerin sich in ihr Brevier vertieft, wird man das hinnehmen müssen - что делать? – ein Bilderroman aber, muß da ein Geistesmensch und Dichter, ein kaum zu übertreffender Meister der Prosa nicht Abstand nehmen und jedwedes außerliterarische Schönheitsempfinden hintanstellen? Hätte eine der wenig attraktiven Tirolerinnen im Bus von Innsbruck ins Allgäu hätte in einem derartigen Produkt geblättert - man vernimmt, ohne ihn zu lesen, den hämischen Kommentar. Kann ein Dichter, der so unbedacht mit der Schönheit hantiert, seinerseits als Garant des Schönen gelten, kann es wirklich heißen: Il ramène le lecteur à une position souvent perdue depuis longtemps: l'admiration et le pur plaisir esthétique?

Auf der anderen Seite muß man dem Dichter zugestehen, daß er sich nicht allein von ästhetischen Impulsen leiten, sondern auch moralische Affekte gelten läßt. Am meisten sind ihm von der Krummenbacher Kapelle die von ungeschickter Hand um die Mitte des 18. Jahrhunderts gemalten Kreuzwegstationen in Erinnerung geblieben, inzwischen zur Hälfte von Schimmel überlaufen und zerfressen. Tiepolo ist ihm in den Sinn gekommen, der auf dem Gerüst unter der Decke des Treppenhauses der Würzburger Residenz gelegen ist und dort unter Schmerzen im rechten Arm mit sicherer Hand die Farblasur eingetragen hat in das Fleck für Fleck aus dem nassen Verputz entstehende Weltwunderbild. Der Krummenbacher Maler habe sich vielleicht, so denkt er, in der Winterzeit desselben Jahres an seinen vierzehn kleinen Kreuzwegstationen nicht weniger gemüht als Tiepolo an seinem großen Deckengemälde. Das geht über bloße Gerechtigkeit – gleicher Lohn für gleiche Arbeit - hinaus und dringt, bedingt auch durch den Genius loci, in den Bereich der Barmherzigkeit vor. Vielleicht können wir uns dahingehend beruhigen, daß es allein die Frauenschönheit ist, die den Dichter, wie schon so viele andere vor ihm auch, für einige Augenblicke vom Pfad der Gerechtigkeit und des höher gelagerten Erbarmens abbringt. Die Betroffenen müssen daran arbeiten. Unser aller Herr hat nicht unterschieden zwischen den Schönen und den Häßlichen.

Freitag, 18. Mai 2018

Naayéé‘ neizghání

Drachentöter

Von der furchtbaren Separation der Geschlechter ist in Nach der Natur die Rede, die drei Nothelferinnen stecken am Rand der linken Tafel hinter dem Rücken des Georg ihre gleichförmigen orientalischen Köpfe zu einer Verschwörung gegen die Männer zusammen. Unterschiedliche Blickwinkel auch später, kurz vor dem Aufbruch schweift der männliche Blick des Ritters schon ab auf die schwere blutige Arbeit, im Gegensatz zur Beschlossenheit des weiblichen Blicks der Prinzessin. Die Schöpfungsgeschichte der Navajoindianer – Diné Bahane‘ – verweist auf vergleichbare Erfahrungen. Die innere Verschiedenheit der Geschlechter führt bald, ähnlich wie im fernen Griechenland unter der Leitung der Lysistrata, zur äußeren Separation, die beiden Parteien leben für längere Jahre jede für sich, getrennt durch ein Flußbett. Schon bald aber waren auf beiden Seiten des Flusses wahrhaft rüde Masturbationspraktiken zu beobachten – das Feingefühl verhindert eine nähere Beschreibung -, die auf der Männerseite weitgehend folgenlos blieben, auf der Frauenseite aber zu unerwünschten Monstergeburten führten. Die Lage war nicht unähnlich der, die, tausende Meilen östlich, der heilige Georg vorfand, und so mußte auch hier ein Naayéé‘ neizghání her, ein Monster Slayer in der Sprache der Bilagáana, ein Drachentöter in der deutschen Sprache. Während der langwierigen Suche nach einem geeigneten Kämpfer vermehren sich die durchweg anthrpophagen Monster (Naayéé) rapide und dezimieren die Menschen nachhaltig. Als Naayéé‘ neizghání die blutige Arbeit endlich aufnehmen kann, hat er weitaus mehr zu tun als Giorgio, zu dessen Füßen letztendlich nur ein geringeltes, geflügeltes Tier überschaubarer Größe sein Leben aushaucht; ob es da eines siebenköpfigen Begleittrupps, wie auf Pisanellos Bild zu sehen, bedurfte, sei dahingestellt. Naayéé‘ neizghání erledigt nacheinander Ye’iitsoh das Gigantenmonstrum, Deelgeed, das Hornmonstrum, Tsé nináh´léé, das Vogelmonstrum, Tsé dah hódzííłtáłíí, das tretende Monstrum, Bináá yee aghanní, das Augenmonstrum, Shash na’ałkaahii, das Bärenmonstrum, Tsé naagháti, das Steinschlagmonstrum, und Yé’iitsoh łigai tséyaa, das weiße Monstrum unterm Felsen. Bisweilen assistiert ihm sein Bruder Na’ídígishí, der Feindestöter, vor allem aber helfen ihm die Naturgewalten, vorneweg sein Vater Jóhonaa’á, el Sol, fast mehr noch aber Nił‘chi, der Wind, daneben auch bescheidene Tiere wie etwa Na’azisí, die Taschenratte. In einigen Fällen hat Naayéé‘ neizghání es mit kompletten Monsterfamilien zu tun, in diesem Fall verschont er die beiden jüngsten Kinder und weist ihnen den Weg zu einem künftigen redlichen Leben. So läßt sich eine bessere Zukunft gestalten. Er hatte überdies die Möglichkeit durch die Tötung von Sá, dem Monstrum des Alterns, für seine Leute das ewige Leben zu gewinnen, läßt sich aber überzeugen, es sei letztlich nicht im Sinne der Gemeinschaft und nimmt Abstand: wo sollen die Jungen bleiben, wenn die Alten nicht weichen. So wie Giorgio nach der Beendigung des blutigen Geschäfts seinen Helm durch einen Strohhut ersetzt, so legt auch Naayéé‘ neizghání seinen Federschmuck und den Rest seiner Kriegsausrüstung ab und kehrt ins zivile Leben der Sterblichen zurück.
*
Innerhalb der christlichen Tradition verkörpert Georg eine von zahlreichen Heiligenlegenden, wenn auch eine besonders populäre. Für Diné Bahane‘ sind die Erzählungen um Naayéé‘ neizghání gleichsam das neue Testament, die frohe Botschaft, erst der Drachentöter hat den Lebensraum für die Menschen bereitet, das Volk der Diné konnte fortan wachsen und gedeihen. Auch Giorgio hatte, man kann es nicht anders sehen, in seiner Region die Lebensbedingungen der Menschen spürbar verbessert. Die Prinzessin hat es ihm gedankt und ihren Blick auf ihn hin geöffnet.

Mittwoch, 16. Mai 2018

Koinzidenz

Diné

Seit jeher mit der Sehnsucht gelebt zu haben, man könne mit irgendetwas koinzidieren, ohne in Wahrheit genau zu wissen womit. - Wann überhaupt aber liegt eine Koinzidenz vor? Casanova habe, wie es heißt, als es darum ging, den geeigneten Tag für seinen Ausbruch aus den Bleikammern des Dogenpalastes zu berechnen, nach einem äußerst komplizierten, hier im einzelnen nicht zu beschreibenden Verfahren den Orlando Furioso befragt und sei schließlich, in dreimaliger Operation, durch das Abziehen der Zahl 9 von jedem Ziffernpaar auf die erste Zeile der siebten Strophe gekommen, welche lautet: Tra il fin d’ottrobre e il capo di novembre. Die auf den Stundenschlag genaue Angabe war für Casanova der entscheidende Fingerzeig, denn in der Ungeheuerlichkeit solcher Koinzidenz glaubte er ein Gesetz am Werk, das auch dem klarsten Denken nicht zugänglich ist und dem er sich deshalb unterordnete. Wer aber beschreibt die Verwunderung, ja den Schrecken, den der Dichter bekennt, als, wie er feststellt, sein Agendabuch den letzten Oktobertag als den Tag ausweist, an dem er, die Notizen Grillparzers lesend, in der Bar an der Riva degli Schiavoni gesessen war. Ist auch der Dichter dem Koinzidenzglauben verfallen oder mokiert er sich über ihn – es ist nicht auszuschließen, daß sowohl das eine wie auch das andere zutrifft.

Cioran fährt fort: Es ist leicht, vom Glauben zum Unglauben überzuwechseln und umgekehrt. Koinzidenzgläubigkeit ist gewissermaßen der Bodensatz des Glaubens, von dort aus kann der Gläubige sich aufschwingen, dahin kann er abstürzen. Der Dichter kennt nur die Abwärtsbewegung, der heilige Franz liegt in einem schwankenden Schilfbeet mit dem Kopf nach unten im Wasser und auf der gleichen Ebene schreitet die heilige Katharina über die Sümpfe. Die lautlose Klage der über dem unendlichen Unglück schwebenden Engeln wird seit nahezu siebenhundert Jahren erhoben, der ursprünglich beweinte Erlöser aber ist unten aus dem Bild gestürzt. Mrs. Ashbury, die auf ihrer Himmelfahrt fast schon den Plafond durchbrochen hatte, fällt zurück auf den Boden, gelingende Aufwärtsbewegungen wie die des fliegenden Personals gehen allein auf säkulare Anlässe zurück.

Von den Navajos, Diné, wird berichtet, sie hätten sich allen Missionierungsversuchen gegenüber besonders renitent verhalten. Die Vorstellung eines Gottes, der aufwendig Himmel und Erde erschafft, um sich in der Folge dann exklusiv nur noch um die Menschen zu kümmern, das war in ihren Augen ein Gipfel der Absurdität, den sie nicht erklimmen wollten. Koinzidenzen, heißt es weiter, hätten sie nach Möglichkeit auf ein rationales Erklärungsmuster zurückgeführt. Wer will ihnen widersprechen? Sicher nicht der Dichter und schon gar nicht in dem Augenblick, als er sich den schweren, bewegungslos schlafenden Tieren (Bisóodi) nähert, sich langsam zu einem niederbeugt, bis es sein kleines, von hellen Wimpern umsäumtes Auge öffnet und ihn fragend anblickt, als er ihm mit der Hand über den staubbedeckten, unter der ungewohnten Berührung erschauernden Rücken fährt, ihm über den Rüssel und das Gesicht streicht und ihm die Kuhle hinter dem Ohr krault, bis es aufseufzt wie ein von endlosem Leiden geplagter Mensch.

Samstag, 12. Mai 2018

Rechtspflege

Bürgernah

Man wird Austerlitz‘ Schilderung des Brüsseler Justizpalastes als kafkaesk bezeichnen. Viele Stunden, so Austerlitz, sei er durch dieses steinerne Gebirge geirrt, durch Säulenwälder, er gieng geradewegs über Treppen und Gänge, an kolossalen Statuen vorbei, treppauf und treppab, ohne daß ihn je ein Mensch und am wenigsten ein Vertreter der Rechtspflege nach seinem Begehren gefragt hätte. Kleingewerbetreibende und Händler hätte man vormals treffen können, heißt es, den Inhaber eines Tabakhandels etwa, eines Wettbüros oder ein Getränkeausschanks, und einmal soll sogar eine Herrentoilette nebst Friseursalon im Souterrain von einem Menschen namens Achterbos betrieben worden sein.

Bei näherem Hinsehen ist der Justizpalast nicht nur in einer allgemeinen, vagen Weise, sondern in einem präzisen Sinn kafkaesk, er wird, wenn auch nicht auf den ersten Blick, als eine Variation, eine gedrängte Paraphrase des Rechtswesens im Proceß erkennbar. Wenn sich im Justizpalast der Alltag in Form von Läden und Buden breit macht, so dringt im Proceß die Rechtspflege, sozusagen von der anderen Seite her, in den Alltag der Menschen, in ihre Wohnbereiche vor. Im Ergebnis ist es das gleiche Gemisch. Nach seiner denkwürdigen Verhaftung verbleibt K. in Eigengewahrsam, die erste Einvernahme in seiner Angelegenheit findet nicht im Justizpalast statt, den es am Ort der Handlung durchaus gibt, sondern in einem Wohnviertel der Vorstadt. Das Gebäude mit dem Sitzungssaal unterscheidet sich in nichts von den anderen Mietshäusern in der Juliusstraße. Über Treppen und Gänge geht es nach oben. Der Gerichtsdiener und seine Frau bewohnen einen Nebenraum des Sitzungssaals und müssen das Zimmer an den Sitzungstagen nicht nur räumen, sondern ausräumen. Die Gesetzbücher, in denen die Richter blättern, sind in Wahrheit pornographische Schriften. Die Gerichtskanzleien befinden sich auf dem Dachboden des Mietshauses, die Verlotterung des Gerichts ist entwürdigend. Die ohnehin schon schlechte Luft wird beeinträchtigt durch die überall zum Trocknen ausgehängte Wäsche. Zeigen Sie mir den Weg nach draußen, so K., ich werde ihn verfehlen, es sind so viele Wege hier. K. stand noch einen Augenblick still und lief dann die Treppe hinunter ins Freie, so frisch und in so langen Sprüngen, daß er von diesem Umschwung fast Angst bekam. Die Freiheit wird nicht währen.

Kafkas Welt ist völlig durchdrungen und durchsetzt von absurden Organen der Rechtspflege. Immerhin war das die Zeit am Anfang des Jahrhunderts, als Recht noch nicht ganz und gar zu Unrecht geworden war. Nach der Katastrophe steht das Recht naturgemäß nicht mehr hoch im Kurs, im Brüsseler Justizpalast liegt der Rechtsbetrieb allem Anschein nach völlig brach. Der Richter Farrar hatte auf Wunsch seines Vaters in Cambridge und London Rechtswissenschaften studiert und in der Folge, wie er mit einem gewissen Entsetzen sagte, mehr als ein halbes Jahrhundert in Anwaltskanzleien und Gerichtshöfen zugebracht. Er war in den Ruhestand eingetreten, um sich der Zucht seltener Rosen und Veilchen zu widmen. Rosenzüchter im einen oder anderen Sinn, so kann man die meisten sehen, die dieses postkatastrophische Prosawerk bevölkern.

Freitag, 11. Mai 2018

Penelope

Teekesselchen

Die Episode mit Penelope Peacefull ist vielleicht die heiterste, von der Austerlitz erzählt. Ein dunkler Kern in einer heiteren Hülle, das ist das allgemeine Prinzip der Prosa bei wechselnder Dominanz und Stärke der beiden Komponenten. Die Inhaberin des Antiquariats, Penelope Peacefull, eine sehr schöne, von ihm seit vielen Jahren bewunderte Dame, saß, wie es stets ihre Gewohnheit gewesen war in den Morgenstunden, leicht seitwärts an ihrem mit Papiersachen und Büchern befrachteten Schreibsekretär und löste linkshändig das Kreuzworträtsel auf der letzten Seite des Telegraph. Ab und zu lächelte sie zu ihm herüber, dann wieder blickte sie tief in Gedanken auf die Gasse hinaus. Austerlitz gerät in eine Multitasking-Situation, Stöbern, Bewundern, Beteiligung am Lösen eines Kreuzworträtsels und Verfolgung einer Sendung im Radio. Mit dem Stöbern nimmt er es nicht sonderlich ernst, und dem Bewundern sind enge Grenzen gesetzt, die Freier hatten bei Penelope seit jeher nichts zu hoffen, und in ihrer modernisierten Gestalt bürgt sie zudem für einen in jeder Hinsicht friedvollen Verlauf der Dinge. Nicht ganz so glatt und einfach ist es mit dem Kreuzworträtsel. One way to live cheaply and without tears – es ist eines dieser verqueren, auf dem Teekesselchenprinzip beruhenden Rätsel, von denen Austerlitz auch nie das einfachste hat lösen können. Dabei ist er doch Bewohner einer durchweg doppeldeutigen Prosa, in der Nachtaffen zu Philosophen werden, die vermittels der reinen Anschauung versuchen, das Dunkel zu durchdringen, das uns umgibt, einer Prosa, in der Nomaden nachts in London schlafen, das Gesicht gegen den Boden hin, und am Tage ausruhen in der Pariser Nationalbibliothek, während weiter östlich, in Prag,  nur Todgeweihte wohnen, chronische Raucher, krank und grau, nicht mehr weit von ihrem Ende entfernt. Rent free, Penelope hat inzwischen das Rätsel gelöst, für sie ist die Sache erledigt. Austerlitz konnte ihr auch deshalb nicht helfen, weil er mit halbem Ohr einen Radiobericht verfolgte über einen Kindertransport von Prag nach England im Jahre 1939. Das führt zum dunklen Kern der heiteren Geschichte, Austerlitz wird nicht umhinkönnen, das existentielle Teekesselchen seiner Doppelgestalt als Dafydd Elias und Jacques Austerlitz zu lösen, so gut wie es eben möglich ist. So wenig wie er ihr, kann Penelope ihm helfen.

Montag, 7. Mai 2018

Treppen

Echo
Ich hätte mich doch wohl früher darum kümmern sollen, wie es sich mit dieser Treppe verhielt, was für Zusammenhänge hier bestanden, was man hier zu erwarten hatte und wie man es aufnehmen sollte. Immer fallen Kafkas Worte so wie die Worte Gottes, klar und unverständlich, jeder Satz ein Weg, den kein anderer gegangen, eine Treppe, die kein anderer hinaufgestiegen ist, von dieser einen Treppe aber hatte er gehört, hätte er aufmerksamer gelesen, so hätte er etwas finden müssen in den Zeitungen und Büchern über die Art dieser Treppe, eine verborgene Stiege in einem verwinkelten Haus oder eine weit und hoch sich schwingende Freitreppe, auf der die Großen des Reiches im Kreis stehen. In einem Kinderbuch hatte er möglicherweise von dieser Treppe oder einer ähnlichen gelesen, das war nicht viel gewesen, wahrscheinlich nur die Erwähnung ihres Vorhandenseins, das konnte gar nichts nützen.

Gleichwohl, auch der Erzähler, Adroddwr, blickt auf frühe Treppenerfahrungen zurück, unumgänglich schon, weil er mit seinen Eltern im oberen Stock des Engelwirts wohnte. Die Treppe aber hat er, etwa wenn es galt, für den Vater eine Schachtel Zuban zu holen, kaum beachtet, weil er auf dem Weg hinab schon die Romana im Sinn hatte und umso mehr war er auf dem Rückweg noch von ihrer Erscheinung berauscht. Ein einprägsameres Treppenerlebnis aus der Kinderzeit war die Stiege, die im Haus der Mathild zum Dachboden führte. In der schlechten Jahreszeit hatte er auf dem oberen Absatz der Stiege, dort wo vom Stiegenhausfenster das Licht einfiel, gesessen und gelesen. Höher zu steigen, in den Dachboden, war ihm untersagt, denn dort, so heißt es, logiere der graue Jäger. - Eine Treppe, an der man sich durch Nichtbeachtung versündigt hatte, und eine Stiege, die zu einem verbotenen Ziel emporleitete, zwei Exemplare durchaus geeignet, einen Dichter wie K. nachdenklich zu stimmen. 

In seinem weiteren Leben hatte der Erzähler Treppenerlebnisse vor allem in Hotels und anderen Übernachtungsstätten, erhebende Erlebnisse und deprimierende. Wortlos begleitete der Portier in Ithaca ihn über eine wunderbare Mahagonistiege – man hatte auf ihr gar nicht das Gefühl des Treppaufgehens, sondern schwebte gewissermaßen hinan – in die oberste Etage, wo er ihm ein geräumiges, nach hinten hinaus gelegenes Zimmer anwies. Erheblich anders sieht es etwa in Mailand aus. Der Lift ging nur bis zur vierten Etage von wo er über zwei Hintertreppen noch ein Stück höher hinauf mußte. Ein langer Korridor führte leicht abschüssig, wie es schien, an den Zimmertüren vorbei, die in kurzen Abständen aufeinander folgten. Die armen Reisenden, ging es ihm durch den Kopf, vielleicht aber waren die Zimmer leer und er der einzige Gast. - Die verwinkelte Treppe, die zu dem endlosen Korridor führt, erscheint als die K. gemäße, eilige Urteile aber sind nicht angebracht, K. kennt auch Treppenanlagen von unübersehbarer Weite. Als der Kaiser den Boten losschickt mit einer Nachricht ans Ende des Reiches mußte er zunächst die Treppen hinab sich kämpfen, gelänge ihm das, was nicht sicher ist, nichts wäre gewonnen. Von Hinanschweben auf einer Treppe ist allerdings nicht die Rede.

Austerlitz‘ Schilderung des Brüsseler Justizpalastes als wahres Treppenlabyrinth wird man umstandslos als kafkaesk ansehen. Viele Stunden sei er durch dieses steinerne Gebirge geirrt, durch Säulenwälder, an kolossalen Statuen vorbei, treppauf und treppab, treppab und treppauf. Alle Treppen sind Irrtreppen, keine Treppe, kein Flur führt zu einem dem Charakter des Ortes entsprechenden Ziel, in irgendwelchen leerstehenden Kammern und abgelegenen Korridoren stößt man stattdessen auf kleine Geschäfte, ein Tabakhandel etwa, ein Wettbüro oder einen Getränkeausschank und sogar eine privat betriebene Herrentoilette mit einem Tischchen und einem Zahlteller. Treppen des Rechtswesens, ohne daß er etwas Böses getan hatte, fühlt K. sich schuldig. Ein bestätigendes Echo stellt sich ein, die Bauwerke, die Austerlitz zufolge wenigstens einen Abglanz des Friedens uns versprechen, die Feldhütte, die Eremitage, das Häuschen des Schrankenwärters, der Aussichtspavillon, die Kindervilla im Garten, diese Bauten kommen ohne Treppen aus.

Mittwoch, 2. Mai 2018

Dünnzöpfig

Naturvölker

Bisweilen hielt der Bus und ließ eines der alten Weiber einsteigen, die in gewissen Abständen unter ihren schwarzen Regendächern an der Straße standen. Es kam auf diese Weise bald eine ganze Zahl solcher Tiroler Weiber zusammen. Sie unterhielten sich in ihrem hinten im Hals wie eine Vogelsprache artikulierten Dialekt vornehmlich, ja ausschließlich von dem nicht mehr enden wollenden Regen. – So wie der Erzähler auf die Tirolerinnen schaut, mit Abneigung und Unverständnis, mögen im Indianerland die weißen Siedler, Bilagáana, auf die indigene Bevölkerung geschaut haben. Diesseits der Grenze nach Tirol, in W., lebte seinerzeit der Stamm der Dünnzöpfigen, kleine, dunkle und böse Bäuerinnen und Mägde, die Mütter, Frauen und Töchter der Bauern, die bis in die Nacht hinein in dem übel beleumundeten Wirtshaus hockten und oft bis zur Besinnungslosigkeit tranken, ein übliches Verhalten bei durch den Kontakt mit der höheren Zivilisation depravierten Stämmen. Aus dem Rahmen gefallen war einzig die Romana, eine Art Pocahontas, die mit den randvollen Gläsern durch bereits angetrunkene Bauern- und Holz- knechtsgesellschaft schwebte mit einer Leichtigkeit, als sei sie von einem anderen Stern. Mittlerweile, nach dem Aussterben des Stamms der Dünnzöpfigen, ist der Engelwirt eine sogenannte Stätte gepflegter Gastlichkeit. Auch seinerzeit waren die Dünnzöpfigen längst nicht mehr tonangebend im Land. Die zugewanderte Seelossippe zählte nicht zu den Dünnzöpfigen, am wenigsten die Mathild, die, mit vollem Haar und hochgewachsen, in ihrem schwarzen Kleid oder einem schwarzen Mantel und stets unter der Bedeckung eines Hutes und nie, auch beim schönsten Wetter nicht, ohne Regenschirm, etwas durchaus Heiteres an sich gehabt hat. Auch die Ladenbesitzerin Frau Unsinn, die mit einer Pyramide aus goldenen Sanellawürfeln ein Zeichen der auch in W. anhebenden neuen Zeit gesetzt hatte, gehört ebensowenig zu den Dünnzöpfigen wie die ehemalig Engelwirtin Regina Zobel oder gar die Modistin Valerie Schwarz aus dem Böhmischen, die zwar von geringen Körpergröße aber üppig war und ausgestattet mit einer Brust von Ausmaßen, wie man sie später nur noch einmal, und zwar an der Trafikantin in Fellinis Film Amarcord, gesehen hat.  Auf zwei Wesen engelhafter Unsichtbarkeit, die nur einen ausgeliehenen Namen haben, den ihre Ehegatten, und keinen eigenen, ist noch einzugehen. Die blasse Frau des Dr. Rambousek war aus der mährischen Stadt Nikolsburg nach W. gekommen, was für sie wahrscheinlich eine Verbannung an das Ende der Welt gewesen ist. Nach dem Tod ihres Mannes hören wir kein weiteres Wort über sie, so als wäre sie nie dagewesen, als hätte es sie nicht gegeben. Die ebenfalls namenlose Gemahlin des aus dem Rheinischen stammenden einbeinigen Engelwirts Sallaba war dem Hörensagen nach eine sehr schöne, den Ort ganz offensichtlich von Herzen verabscheuende Frau. Als dann Sallaba eines Nachts die gesamte Einrichtung der Gaststube zerstört und zerschlagen hat, saß die Frau Sallaba wie vernichtet auf der Kellerstiege und weinte sich die Augen aus.

Die indigenen Frauen, die Tirolerinnen wie auch die Dünnzopfigen bleiben namenlos, ohnehin ist bei den Naturvölkern der genannte Name oft nur eine Attrappe, hinter der der wahre Name verborgen bleibt. Kleingewerbetreibende wie die Valerie Schwarz und andere haben ihren vollen Namen, die Frauen des Arztes und des Wirtshauspächters verfügen nur über den durch das Ehesakrament geliehenen Namen, der Taufname wird nicht angezeigt. Sollte man länger und intensiver nachdenken über diese Staffelung?