Montag, 16. Februar 2015

Eltern

Avis de décès

Seine eigene Kindheit, soweit sie das Zusammenleben mit den Eltern betrifft, hat der Dichter ausgespart. Wenn er sich rückblickend über die Wohnzimmergestaltung oder die musikalischen Vorlieben des Vaters mokiert, so aus der Perspektive des inzwischen Erwachsenen, Kinder, die die Liebe ihrer Eltern haben, nehmen ihnen die Möbel nicht übel, und wenn die Liebe fehlt, helfen auch Louis XV und das Bauhaus nicht.

Wenden wir uns den anderen Protagonisten des Werkes zu. Von der Kindheit des Ambros Adelwarth erfahren wir nichts. Selwyn erinnert sich an die Ausreise aus Litauen im Spätherbst des Jahres 1899, die beiden Eltern, seine Schwestern Gita und Raja und sein Onkel Shani Feldhendler. Er sieht, wie der Kinderlehrer im Cheder ihm die Hand auf den Scheitel legt. Er sieht die ausgeräumten Zimmer. Er sieht sich zuoberst auf dem Wägelchen sitzen: Ein Rückblick auf eine als glücklich suggerierte Kindheit, die abrupt zum Ende gekommen ist. Nirgends habe Bereyter sich als Kind wohler gefühlt als in dem von seinen Eltern unterhaltenen Emporium, in dem es alles zu kaufen gab vom Bohnenkaffee bis zum Kragenknopf, vom Kamisol bis zur Kuckucksuhr und vom Kandiszucker bis zum Klappzylinder. Auf seinem Dreirädchen habe er sich meistens auf der untersten Ebene auf seinem Dreirädchen fortbewegt, durch die Schluchten zwischen Ladentischen, Kästen und Budeln und durch eine Vielfalt von Gerüchen hindurch, unter denen der des Mottenkampfers sowie der der Maiglöckchenseife immer die hervorstechendsten gewesen seien. Stundenlang sei er damals vorbeigeradelt an den ihm endlos erscheinenden dunklen Reihen der Stoffballen, den glänzenden Stiefelschäften, den verzinkten Gießkannen, dem Peitschenständer. Wenn der Herr, den wir auf dem Photo am Steuer des Dürkopp erkennen, der Vater ist, könnte er eine gewisse Ähnlichkeit mit Hermann Kafka haben. Bereyter selbst ist noch dünner und hagerer als Franz Kafka. Der Text geht auf das Verhältnis des Knaben Paul zu seinen Eltern nicht näher ein, stützt aber auf keinen Fall Assoziationen, die sich aus der Bildbetrachtung ergeben könnten. Seinem Vater, dem Kunsthändler, ist der zwölfjährige Aurach beim Hängen, beim Beschildern, beim Verkauf und beim Weiterversand der Kunstware an die Hand gegangen, und der Vater hat ihn quasi als Lohn für seine Mühewaltung mit der Bahn auf das Jungfraujoch genommen, um ihm von dort droben den mitten im Sommer schneeweiß schimmernden größten Eisstrom Europas zu zeigen. Das Verhältnis zum Vater scheint kameradschaftlich und hell, das zur Mutter kann man sich, nachdem man die von ihr selbst erzählte Geschichte ihrer Kindheit gelesen hat, nicht anders als ideal vorstellen.

Das verlorene Paradies seiner Kindheit, das Austerlitz in Prag wiederfindet, bestand aus der Mutter Agata, Theaterschauspielerin, die sich aufgrund ihrer beruflichen Pflichten nicht immer wie gewünscht um ihren Sohn kümmern kann, dem Vater Maximilian Aychenwald, der oft auf Reisen ist, und Vĕra Ryšanová, die als Kindermädchen fungiert. Man kann es nicht übersehen, daß die gleiche Personenkonstellation, weniger erdacht als erlebt, wie ein Fluch in obsessiver Weise auf dem gesamten Oeuvre Modianos lastet: der Vater fortwährend unterwegs in dubiosen Geschäften, die Mutter aufgesogen von der Theaterwelt, das Kind der Fürsorge anderer überlassen und dann abgeschoben in verschiedene Internate, so wie auch Austerlitz, wenn auch aus ganz anderem Anlaß, schließlich verschickt wird. Im kaum fiktionalisierten Pedigree ist der Dichter unmißverständlich: J'écris ces pages pour finir avec une vie qui n'était pas la mienne. A part mon frère Rudy, sa mort en 1957, je crois que rien de tout ce que je rapporterai ici ne me concerne en profondeur. Ce n'est pas ma faute, si les mots se bousculent, il faut faire vite, ou alors je n'aurai plus le courage. Eine Umkehrung gibt es in dem für Kinder geschriebenen Buch Catherine Certitude. Auch hier geht der Vater dubiosen Handelsgeschäften nach, die Mutter, eine Tänzerin, ist gar in Amerika. Catherine hat aber alle Liebe und Fürsorge des Vaters, ein Kindermädchen wird nicht benötigt, am Schluß sind alle jenseits des Ozeans wieder vereint.

Im Grunde hat Mme. Landau ihre Kindheit, das Zusammenleben mit ihrem verwitwetem Vater in eine so gut wie unmöblierten, leeren Villa am Neuenburgersee als ein großes Fest empfunden. Der Ankauf der kleinen Villa hatte das Vermögen erschöpft, für eine Inneneinrichtung fehlten die Mittel. Das Wohnen in den leeren Zimmern sei ihr niemals als ein Mangel erschienen, vielmehr wie eine durch eine wie eine durch eine glückliche Entwicklung der Dinge ihr zugefallene Auszeichnung oder Vergünstigung. Für Therese in La Petite Bijou sind die leeren Zimmer ein Ort des Grauens. Sie betreut ein kleines Mädchen, das mit seinen lieblosen Eltern in einer riesigen uneingerichteten Wohnung haust und erinnert sich an die Zeit, als sie mit ihrer Mutter in ähnlicher Weise eine ähnliche Wohnung teilte. Dem Leser ist, als wenn ihm eine kalte Hand ans Herz fassen würde. Das Buch endet mit Thereses Suizidversuch. Und wieder findet sich das Gegenbild in Catherine Certitude: Cela m'a fait drôle de voir le grand studio désert. Alors j'ai décidé de danser toute seule. Vorstellungen, die bei Sebald zu fiktionaler Realität werden, erscheinen bei Modiano als märchenhafte Wunschbilder.
Die folgende Anzeige war unlängst zu lesen: Patrick et Dominique Modiano, Zina et Marie Modiano, ont la tristesse de faire part du décès de Louisa Copleyn, comédienne, survenu le 26 janvier 2015. Welche Farben mag die bekundete Tristesse haben. Hatte die Verstorbene die Bücher ihres Sohnes gelesen, die sie immer wieder wie ein unguter Geist mit kaltem Blick durchquert. Mehrfach trifft der längst erwachsene Erzähler auf eine alte Frau, die ihn übel beschimpft, die ihn schlagen will und zugleich Geld von ihm fordert. Es könnte seine Mutter sein, genau weiß er es nicht, in jedem Fall ist es ein aus Erinnerungssplittern zusammengesetztes Alptraumbild. In dem frühen Roman Boulevards de la ceinture verteidigt der Sohn den Vater, der ihn nicht wiedererkennt, mit aller Macht gegen seine Feinde, obwohl der Vater vor Jahren versucht hatte, ihn unter die Metro zu stoßen. Die Spanne der Ambivalenz scheint ohne Anfang und Ende.

Donnerstag, 12. Februar 2015

Wochenbettmelancholie

Konversionen

Von einer besonders unguten Zeit nach dem Abschluß einer größeren Arbeit spricht Selysses, man denkt an etwas Vorübergehendes nach der Art einer Kindsbettdepression oder postkoitalen Tristesse. Als er dann aber nach mehr oder weniger kurzen Aufenthalten in Wien, Venedig, Padua und Verona in einer Art Panik zurück über den Brenner entflieht, hat sich der Eindruck einer Besserung nicht eingestellt. Die zweite Reise, sieben Jahre später verläuft zwar auch nicht störungsfrei, aber doch um einiges glatter. Was ist passiert in der Zwischenzeit?

Prousts Erzähler spürt unter seinen Füßen das unebene Pflaster im Hof der Guermantes, und die Welt ist nicht mehr die gleiche. Wenn zuvor unter ständigen Selbstvorwürfen die Zeit auf geradezu sündhafte Weise nur verloren wurde, ist jetzt alles auf das Einsammeln der wiedergefundenen Zeit ausgerichtet, eine Wende vergleichbar der des Paulus auf dem Weg nach Damaskus oder dem Tolle, lege-Erlebnis des Augustinus im Garten. René Girard betont denn auch die tiefgehende Analogie zur religiösen Konversion, bemängelt aber gleichzeitig diesen Begriff, da er auf eine Umkehr im Sinne der Rückkehr zum Ausgangspunkt und damit auf ein Einmünden in einen Kreislauf hindeute. Geeigneter sei im Grunde der griechische Begriff der Metanoia, der allerdings, übersetzt man ihn mit Meinungsänderung, viel zu schwach ausfalle, geht es doch um die radikale und unumkehrbare Neuausrichtung des bisher eingeschlagenen Wegs. Prousts Wende ist von einmaliger Radikalität und Inbrunst im Bereich der Literatur und läßt in der Tat an die großen religiösen Konversionen denken. Même si Proust n'a jamais recours au vocabulaire du péché, cette notion est implicitement présent. L'exploration du passé ressemble beaucoup au repentir vrai. Girard glaubt ähnliche, wenn auch weniger ins Auge springende Kehren bei Stendhal, Flaubert und Dostojewski feststellen zu können. In den Schwindel.Gefühlen heißt es zu Stendhal, als ihm klar geworden war, daß er sein Glück nicht bei der Armee würde machen können, habe er sich entschlossen, der größte Schriftsteller aller Zeiten zu werden. Damit ist, auf nonchalante Weise, die Konversion aus einem ganz anderen Blickwinkel beschrieben.

Noch während er die Zeit verlor, hatte Proust Skizzen zu Papier gebracht, Literaturkundliches und mit Jean Santeuil eine Art literarischen Vorauskommandos. Sebald und sein von Schwindelgefühlen geplagter Erzähler können auf literaturkundliche Arbeiten und auf das Prosagedicht Nach der Natur verweisen, also auf ein ähnliches Vorleben. Die Konversion, die Wende vom Verlieren zum schreibenden Wiederfinden der Zeit wird bei ihm nicht mit einem Fanfarenstoß, sondern mit äußerster Sprezzatura behandelt. Die Konversion ist versteckt zwischen der ersten und der zweiten Italienreise. Austerlitz ist es später, der Prousts Erleben sichtbar wiederholt, und das Erinnern an seine Kindheit auf dem unebenen Prager Pflaster einleitet. Die Niederschrift überläßt er dem inzwischen geübten Selysses.

Der Unterschied zwischen der ersten und er zweiten Italienreise ist der zwischen Nichtschreiben und Schreiben. Innerhalb der Fiktion, also nicht auf den realen Schaffensprozeß schauend, kann man annehmen, Selysses habe auf der zweiten Reise Beyle oder das merckwürdige Faktum der Liebe und den Bericht über die erste Reise schon als Manuskript in der Tasche. Was er Luciana Michelotti in Limone erzählt, läßt den Schluß zu, daß er an dem Bericht über die zweite Reise arbeitet, bevor sie noch abgeschlossen ist. In den Oktoberwochen im Hotel oberhalb von Bruneck wird All'estero wohl im wesentlichen abgeschlossen und noch in der Engelwirtstube, während an den anderen Tischen Handlungsreisende ihr Tagwerk mit dem Ausrechnen von Prozent- und Provisionssätzen zu Ende bringen, in wesentlichen Stücken dann auch Ritorno in patria.
Von Rechts wegen müßte Le temps retrouvé der Recherche du temps perdu vorausgehen, die Ernte kann erst beginnen werden, wenn die Körbe bereitstehen. In dieser Hinsicht sind die Schwindel.Gefühle, die nicht in Combray beginnen, sondern in W. enden, wirklichkeitsnäher. Die verlorene Zeit scheint auf als die ungute Zeit und kommt mit der besonders unguten Zeit vor und während der ersten Italienreise zum Abschluß. Von den geheimnisvollen sieben Jahre zwischen den beiden Reisen erfahren wir nichts. Im weiteren Verlauf sind Erleben und Niederschrift mehr oder weniger synchron. Die Zeit nach der Kindheit in W. erleben wir nur in Sprüngen, die frühe Zeit in Manchester in der Erzählung Aurach, den Wechsel nach Südostengland in der Erzählung Selwyn. Was für Prousts Erzähler der Stand säkularer Sündhaftigkeit war, ist für Selysses eine deprimierende Malaise. Die Konversion ist versteckt, und doch hat sie stattgefunden, der Dichter ist nicht der, der er als Literaturkundiger war, zu Recht vermögen die wenigsten Leser das literaturkundliche und das erzählerische Werk als Einheit verstehen.

Sonntag, 8. Februar 2015

Photographen

Pour en finir

Austerlitz ist Photograph und Photophilosoph. Wollte man ihn auf diese Merkmale reduzieren, wäre er als Francis Jansen in Modianos Chien de printemps wiederzuentdecken. In der Hauptsache, so Austerlitz, habe ihn von Anfang an die Form der Verschlossenheit der Dinge beschäftigt, der Schwung eines Stiegengeländers, die Kehlung an einem steinernen Torbogen, die unbegreiflich genaue Verwirrung der Halme in einem verdorrten Büschel Gras. Hunderte solcher Aufnahmen habe er in Stower Grange meist in quadratischen Formaten abgezogen, wobei es ihm immer unstatthaft erschien, den Sucher der Kamera auf einzelne Personen zu richten. In Francis Jansens Wohnung stehen trois valises de cuir marron empilées les unes sur les autres, in denen die Photoausbeute der vergangenen fünfundzwanzig Jahre verwahrt ist. Der Erzähler macht sich daran, die Photos zu ordnen und zu katalogisieren. Unter den Katalognummern 325 bis 331 finden wir: Palissade de la rue des Envierges, Mur rue Gasnier-Guy, Escalier de la rue Lauzin, Passerelle de la Mare, Garage de la rue Janssen, Emplacement de l'ancien cèdre au coin rues Alphonse-Daudet et Leneveux, Pente de la rue Westermann. Das photographische Interesse folgt offenbar einer ähnlichen Bahn wie bei Austerlitz. Verbindende Wesenszüge bestehen überdies. Il se replia de plus en plus sur lui-même, heißt es von Jansen, kannst du mir nicht sagen, was der Grund deiner Unnahbarkeit ist, fragt Marie de Verneuil, warum bist du wie ein zugefrorener Teich?

Besonders in den Bann gezogen, führt Austerlitz weiter aus, habe ihn bei der photographischen Arbeit stets der Augenblick, in dem man auf dem belichteten Papier die Schatten der Wirklichkeit sozusagen aus dem Nichts hervorkommen sieht, genau wie die Erinnerungen, die ja auch inmitten der Nacht in uns auftauchen und sich dem, der sie festhalten will, so schnell wieder verdunkeln, nicht anders als ein photographischer Abzug, den man zu lang im Entwicklungsbad liegenläßt. Jansen avait ouvert la valise de dessus, elle était remplie a ras bord et quelques photos étaient tombées. Il ne les avait même pas ramassées. Die Katalogisierungsbemühungen des Erzählers verfolgt er mit amüsiertem Desinteresse. Flieht er vor der Erinnerung?
Auf dem großen, mattgrau lasierten Tisch lagen in geraden Reihen und genauen Abständen ein paar Dutzend Photographien, die meisten älteren Datums und etwas abgegriffen an den Rändern, Aufnahmen von leeren belgischen Landstrichen, von Bahnhöfe und Metroviadukten in Paris, von dem Flugfeld in der Nähe von Quy und von einer Anzahl schwerer Türen und Tore. Manchmal sitze er, Austerlitz, hier stundenlang und lege diese Photographien, oder andere, die er aus seinen Beständen hervorhole, mit der rückwärtigen Seite nach oben aus, ähnlich wie eine Partie Patience, und wende sie, jedesmal von neuem erstaunt über das, was er sehe, nach und nach um, schiebe die Bilder hin und her und übereinander, in eine aus Familienähnlichkeiten sich ergebende Ordnung, oder ziehe sie auch aus dem Spiel, bis nichts mehr übrig sei als die graue Fläche des Tisches oder bis er sich, erschöpft von der Denk- und Erinnerungsarbeit, niederlegen müsse auf der Ottomane.

So ähnlich muß er Modiano ergangen sein, als er Un pedigree schrieb, den Bericht über seine Kindheit und Jugend in Form einer in Prosa gefaßten Bildersammlung. J'écris ces pages pour en finir avec une vie qui n'était pas la mienne. Es wäre also das Werk einer Entledigung. A part mon frère Rudy, sa mort en 1957, je crois que rien de tout ce que je rapporterai ici ne me concerne en profondeur. Die Entledigung kann nicht schnell genug vonstatten gehen, ce n'est pas ma faute, si les mots se bousculent, il faut faire vite, ou alors je n'aurai plus le courage. Nie aber haben Wörter einander schöner buskuliert als in diesem Buch.

Und doch hatte er als Dichter zuvor im Grunde nichts anderes getan und wird auch später nichts anderes tun, als immer wieder die jetzt im Pedigree verschlossenen Bilder anzuschauen, sie zu bearbeiten und neu zu ordnen. In Remise de peine ist es die gemeinsame Zeit mit dem Bruder Rudy, in De si braves garçons die Zeit im Internat, in wohl zehn Büchern ist es das Jahr vor der Volljährigkeit und dem Beginn der literarischen Arbeit. Vor allem die Eltern sind den eigenartigsten Perspektiven und Verzerrungen unterworfen. Sogar im Kinderbuch Catherine Certitude geht der Vater seinen fragwürdigen Handelsgeschäften nach, ist für dieses Mal aber von vollendeter Fürsorglichkeit und Liebe für seinen Sohn, der freilich, wie auch in La Petite Bijou, eine Tochter ist. Zu nahezu jeder Seite des Pedigree findet sich ein Roman oder doch eine Romanszene, in der die Angelegenheit schon einmal behandelt wurde, oft mehrfach. Es ist eine überschaubare Anzahl von Urszenen, denen sich der Dichter mit der Absicht der Bewältigung und Entledigung immer wieder annähert. Er tritt vor eine Wand, hinter der sich weit mehr verbergen müßte, aber eine Tür öffnet sich nicht. Niemand wäre überrascht, wenn er, erschöpft von der Denk- und Erinnerungsarbeit sich immer wieder auf der Ottomane hätte niederlegen müßte.

Donnerstag, 5. Februar 2015

Rufe in der Nacht

Maskenball
Gegen Mitternacht fährt Selysses mit dem Venezianer Malachio in einem Boot in die Kanäle der Lagunenstadt hinein. Zum Abschied dann verabschiedet Malachio sich mit dem Ruf: Ci vediamo a Gerusalemme. Als Selysses am nächsten Morgen, noch im Finsteren, erwacht, fragt er sich, was Malachio mit diesen Worten gemeint haben könnte. In einem Hotel in Wien hört Modianos Erzähler in Vestiaire de l'enfance, wie sich im Nachbarzimmer ein Paar streitet. Dann Stille. Und dann wieder die Frau, une Française, d'une voix cinglante: Tu prends mon cul pour un bal masqué? Cette phrase, gesteht Jean Moreno, der sich inzwischen J. Sarano nennt, après tant d'années, garde encore, pour moi, son mystère. In der Tat, zwei nächtliche Rufe mit einem Tenor, wie er unterschiedlicher nicht sein könnte, aber beide gleichermaßen erfüllt von einem tiefen Geheimnis.

Montag, 2. Februar 2015

Heidegger

Gestell

Philosophie war kein Gebiet, auf dem Sebald territoriale Ansprüche erhoben hätte. Wittgenstein hat er bewundert, ohne sich aber, wie er freimütig einräumt, groß mit seinem Denken zu beschäftigen oder es gar zu verstehen. Mit Heidegger hatte er eindeutig nichts am Hut, nicht zuletzt nimmt er ihm sein Literaturverständnis und die Art des Umgangs mit Johann Peter Hebel übel:

Es ist auch ein Stück deutscher Geistesgeschichte, wie wenig die Fürsprache der jüdischen Autoren in den zehner und zwanziger Jahren für den Nachruhm Hebels vermochte, und wie groß im Gegensatz dazu die Wirkung gewesen ist, als die Nationalsozialisten den Heimatschriftsteller aus dem Wiesental für sich reklamierten. Mit welch falschem neogermanistischem Zungenschlag diese Vereinnahmung sich präsentierte und wie lange sie vorhielt, das hat Robert Minder anhand von Heideggers Rede über Hebel aus dem Jahr 1957 gezeigt, die sich in ihrem ganzen Duktus in nichts von dem unterschied, was während der Faschistenherrschaft vorgebracht wurde von Josef Weinheber und anderen Hütern des deutschen Erbes, die glaubten, ihr Jargon sei unmittelbar aus der Sprache des Volks entsprungen. Als ich 1963 in mit dem Studium begann, war das alles noch kaum unter den Teppich gekehrt, und nicht selten habe ich mich seither gefragt, wie trüb und verlogen unser Literaturverständnis wohl geblieben wäre, hätten uns die damals nach und nach erscheinenden Schriften Benjamins und der Frankfurter Schule, die ja eine jüdische Schule zur Erforschung der bürgerlichen Sozial- und Geistesgeschichte gewesen ist, nicht andere Perspektiven eröffnet. Jedenfalls was mich selber betraf, so hätte ich ohne die Beihilfe Blochs und Benjamins den Zugang zu dem von Heidegger umnebelten Hebel schwerlich gefunden.

Sebalds Position beruht in erster Linie wohl auf einem geradezu kreatürlichen Abscheu vor dem sprachlichen und gedanklichen Duktus der Rede, die aber als Grundlage für ein Urteil über die Philosophie Heideggers nicht ausreicht. Er hatte vielleicht gehofft, Heideggers Philosophie habe sich dann durch Adornos Schrift Jargon der Eigentlichkeit insgesamt erledigt, eine Hoffnung, die neben vielen anderen auch Adorno selbst gehegt haben mag. Heidegger hat aber eine große Zahl solcher von seinen Gegnern als endgültig erachteten Niederschlägen eingesteckt und sich doch immer wieder aufrappelt, nicht zuletzt dank der Hilfe von Autoren außerhalb des deutschen Sprachraums, die sich mit deutschinternen Schriften wie der Rede auf Hebel weniger beschäftigt hatten und die auch dem natürlichen Schauder vor Heideggers eigentümlichen, nur in der deutschen Sprache möglichen Wortbasteleien weniger direkt ausgesetzt waren. Sprachlich mußte sich Sebald von Heidegger nicht trennen, da es eine Nähe nie gegeben hat. Adornos Jargon des forschen Besserwissens dagegen, deklariert als Kritik des Bestehenden, dies aber von einem unzureichend kaschierten archimedischen Punkt aus, ist in Sebalds frühen literaturkundlichen Arbeiten deutlich vernehmbar, im Prosawerk dann aber verstummt.

Calasso, ein ausgewiesener Bewunderer Adornos, Benjamins ohnehin, aber auch Heideggers, ist als Schiedsrichter besonders geeignet. Das schlichte Wort Gestell wird bei Heidegger durch Autonomisierung der Silben zu Ge-stell und steht in dieser Form für Technik. Das Ganze läuft beim Philosophen nicht auf die übliche Technikkritik hinaus, die einmündet in die Platitüde, man müsse nur darauf achten, daß sie, die Technik, uns und nicht wir ihr dienen: schon bei Hegel hatte sich der Herr vergeblich bemüht, dem Knecht diese Weisheit einzubleuen. Technik ist kein isoliertes Phänomen der Neuzeit, das Gestell, als Ge-stell zum Begriff geworden, führt zurück zum Ursprung des europäischen Denkens, zur Trennung des Menschen von der Welt und zu deren Bereit- und Zurechtstellung für die Nutzung, in die dann der Mensch als sein eigenes Opfer wieder einbezogen ist. So kann der Begriff des Ge-stells als der tieferliegende Ansatz sowohl Marx' Verwandlung der Welt in Ware oder Adornos Kritik der Kulturindustrie untermauern und tragen.

Wie auch immer, auch das Fernliegende kann uns auf verborgene Weise nahestehen. Beim Dichter stellt sich immer wieder ein Eindruck ein, als habe die Menschheit sich verstiegen im Gestell und sei in ihm verschwunden. Großstädte wie Manchester sind menschenleer. Oft auch hat er in den verschiedensten Städten mit wachem Entsetzen auf die Brandung des Verkehrs gehorcht hat und ist im Verlauf der Jahre zu dem Schluß gelangt, daß aus diesem Getöse jetzt das Leben entsteht, das nach uns kommt und das uns langsam zugrunde richten wird. Eigenartig berührt ihn beim Blick aus einem fahrenden Zug, daß nirgends ein Mensch zu erblicken war, wenn auch über die nassen Landstraßen genügend in dichte Sprühwolken gehüllte Fahrzeuge brausten. Vom Flugzeug aus sieht er weit unter sich einen Traktor, der, wie nach der Richtschnur, quer über einen bereits abgeernteten Acker kroch und ihn in eine hellere und eine dunklere Hälfte teilte, nirgends aber sah man auch nur einen einzigen Menschen. - Auch dies sind keine Wahrnehmungen nur der momentanen Gegenwart. Der Knecht hat erst nach langer Zeit die Geduld verloren, jetzt schlägt er zurück und der vermeintliche Herr ist wehrlos, seine dialektischen Finten verfangen nicht mehr.

Sonntag, 1. Februar 2015

Zwei Franzosen

Auskultation
 Gelegentlich stößt man auf die Behauptung, ein bestimmter Roman, etwa Dostojewskis Dämonen, habe mehr zum Verständnis der Gesellschaft und des Seelenlebens beigetragen als hundert soziologischer und psychologischer Traktate. Was hat die Literatur mit Gesellschaft und Seelenleben zu tun; die Lyrik vielleicht mehr mit dem Seelenleben und die Prosa mehr mit der Gesellschaft, kann man erwägen, aber die eigentliche Frage bleibt: was überhaupt hat die Literatur zu schaffen mit Fragen dieser Art. Anders als der Musik und auch der Malerei, wenn sie es denn will und sich auf schwarze Quadrate konzentriert, ist es der an die bedeutungstragenden Wörter und Sätze gebundenen Literatur nicht gegeben, die Welt unsichtbar zu lassen. Die offene Soziologisierung der Erzählliteratur war ein Phänomen vor allem des neunzehnten Jahrhunderts, als die Vorbildwirkung der Wissenschaft hoch war, die Soziologie sich aber, mit den Worten Luhmanns, noch in den Flegeljahren befand. Im nachrevolutionären Frankreich war die Soziologisierung der Erzählliteratur besonders stark ausgeprägt.

Wer angibt, Stendhal zu lieben und gleichzeitig Balzac ablehnt, dem sei nicht zu trauen, heißt es, denn bei beiden spüre man in besonderem Maße l'auscultazione implacabile del respiro della società, l'occhio che plana come un rapace fra le minute, terrificanti cose della vita. Gesellschaftliche Wahrnehmungsfähigkeit und Auskultation, das ist die Grundlage auch der wissenschaftlichen Soziologie, die Grundlage, von der aus sie erst einsteigt in ihre Methodik und Erkundungsstrategie, ein Weg, auf dem die Romanciers ihr naturgemäß nicht folgen. Calasso muß zudem einräumen, Stendhal selbst sei der erste gewesen, der die Gemeinsamkeit mit Balzac nicht besonders hoch eingeschätzt habe. Balzac würde seine Romane zweimal schreiben, zunächst auf vernünftige Art, um ihnen dann in einem weiteren Durchgang Schönheit und Seelenschmerz zu verleihen. Er, Stendhal, habe hingegen einen natürlichen und ehrlichen Stil. Wie dem auch sei, Gemeinsamkeiten des Hintergrunds verdecken dem Dichter nicht die Oberfläche der künstlerischen Ausführung.

In Sebalds Werk müssen sich die beiden Franzosen notgedrungen vertragen, wenn sie auch vorsorglich auf Distanz gehalten werden, der eine untergebracht in den Schwindel.Gefühlen, der andere in Austerlitz. Stendhal ist Protagonist der Erzählung Beyle oder das merckwürdige Faktum der Liebe, Balzac ein Komparse, dem die Erinnerung an die fünfundfünfzig kleinen karmesinroten Bände im verglasten Bücherschrank von Vĕra Ryšanová zu verdanken sind, und dessen Roman Colonel Chabert eine elegante Kurzfassung erhält. Kann man sich vorstellen, die beiden würden die Plätze tauschen, Balzac übernähme die Schrittmacherdienste für das Reisen nach Oberitalien und Austerlitz lieferte eine Kurzfassung von Le rouge et le noir? Das ist angesichts der condensation franco-centrique de La Comédie humaine kaum denkbar, und schwerlich könnte Mme Gherardi an der Seite Balzacs die Schönheit und Einsamkeit des Gardasees ähnlich tief erleben wie in der Begleitung Stendhals. Der Gedanke einer Kurzfassung der Chartreuse de Parme aus der Hand Sebalds ist naturgemäß verlockend.