Sonntag, 21. Oktober 2012

Eyes Wide Shut

Falsche Welt
Wer das Buch Austerlitz aufschlägt und sich vom Dichter mit auf die Fahrt nach Antwerpen nehmen läßt, mag sich schon bald vorkommen wie die schöne junge Lilofee, die Quartier am Grunde des Sees beziehen muß. Der Leser wird in den Nachtzoo entführt, den er sich, wohl zu Unrecht, als unterirdische Anlage vorstellt. Mit dem Leben unter Wasser wird er tatsächlich erst siebzig Seiten später vertraut, aber schon hier kann er sich, in Form einer Trockenübung, auf die dort herrschenden Lebens- und Lichtverhältnisse einstellen. In dem künstlichen Halbdunkel sind verschiedene Tiere zu erkennen, die hinter der Verglasung ihr von einem fahlen Mond beschienenes Dämmerleben führen. Der Dichter gibt vor, sich an die einzelnen Tierarten nicht zu entsinnen, zählt sie dann aber doch in detaillierter Ausführlichkeit auf. Wirklich gegenwärtig geblieben sei ihm nur der Waschbär, der mit ernstem Gesicht an einem Bächlein saß und immer wieder denselben Apfelschnitz wusch, als hoffe er, durch dieses, weit über jede vernünftige Gründlichkeit hinausgehende Waschen entkommen zu können aus der falschen Welt, in die er gewissermaßen ohne sein eigenes Zutun geraten war. Von allen Tieren aber seien die auffallend großen Augen in der Erinnerung geblieben und jener unverwandt forschende Blick, wie man ihn findet bei bestimmten Malern und Philosophen, die vermittels der reinen Anschauung und des reinen Denkens versuchen, das Dunkel zu durchdringen, das uns umgibt.
Der Text könnte hier enden, es wäre dann eine kleine in sich geschlossene Geschichte wie La cour de l’ancienne école, wie diese mit offenem Ende. Allerdings würde man schon gerne erfahren, was die Maler und Philosophen mit reiner Anschauung und reinem Denken zustande bringen, also fahren wir fort. Als Eröffnungsszene des ganzen Buches läßt sich das Nocturama prinzipiell zu allen nachfolgenden Motiven in Beziehung setzen, wenn auch nicht in der jeweils gleichen Weise. Die Beziehung kann eng sein oder aber lose, sie kann auf Ähnlichkeit beruhen oder auf Kontrast. Der Bericht vom versunkenen Ort Llanwddyn scheint eine besonders enge Affinität zum Nocturama zu haben.
Schaut man herab von der Staumauer von Vyrnwy, so muß man wissen, daß vielleicht hundert Fuß unter dem dunklem Wasser noch mindestens vierzig Häuser und Höfe stehen, ferner die Kirche zum heiligen Johann und drei Kapellen und drei Bierschenken, und man stellt sich vor, daß die Dorfbewohner drunten in der Tiefe weiterhin in ihren Häusern sitzen und auf der Gasse herumgehen, aber ohne sprechen zu können und mit viel zu weit offenen Augen. Nachts vor dem Einschlafen ist es uns, als seien auch wir untergegangen in dem dunklen Wasser, nicht anders als die armen Seelen von Vyrnwy, die Augen weit offen, um hoch über uns einen schwachen Lichtschein zu sehen und das von den Wellen gebrochene Spiegelbild des steinernen Turms, der so furchterregend für sich allein an dem bewaldeten Ufer steht.
Die gleichen weit geöffneten Augen im Nachtzoo und unter Wasser. Die Augen der Nachttiere setzen sich fort in den Augen der Maler und Philosophen, die Augen der Seelen am Grund auf der Suche nach einem schwachen Lichtschein hoch oben verlängern sich in die Augen Dafydds, des jungen Austerlitz. Mehr noch als der Waschbär, so wird man urteilen, sind die Wassermänner und -frauen in einer falschen Welt. Beim Waschbären scheint klar zu sein, was zu tun wäre, man müßte ihn in die rechte Welt der Freiheit entlassen, mit den Wasserseelen aber verbündet sich Austerlitz, der sich selbst im überirdischen Leben am falschen Ort sieht, und am Grunde des Sees womöglich sogar einen richtigeren erahnt. Wo ist die richtige und wo ist die falsche Welt, vielleicht ist es auch mit dem Waschbären so einfach nicht.

Beim Philosophen des reinen Denkens kann man an Kant und seine reine Vernunft denken, abgebildet ist aber Wittgensteins Augenpaar. Sebald hat im Gespräch bekannt, die Person Wittgenstein habe ihn immer fasziniert, Wittgensteins Philosophie aber sei ihm fremd und verschlossen geblieben. Vielleicht war ihm aber doch Wittgensteins Zielbestimmung der Philosophie vertraut, die darin bestehe, der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zu zeigen. Motivisch klingt dabei Platons Höhlengleichnis an, das die Philosophie ständig neu ermuntert, im Kern ist Wittgensteins Diktum aber wohl eine herabgetönte Variation auf Kants triumphalen Auszug aus der Unmündigkeit, die obendrein noch selbstverschuldet sein soll. Dem Waschbären wird man die Mündigkeit seiner Gattung nicht absprechen, und von der Schuld an seiner Lage wird er ausdrücklich freigesprochen. Ob die Fliege, der die ihr zur Verfügung stehende Vernunft innerhalb des Fliegenglases nicht geholfen hat, mit dieser außerhalb des Glases viel anfangen kann, bleibt die Frage. Was findet sie vor außerhalb des Glases, was der Waschbär außerhalb des Zoos. Es gebe kein richtiges Leben im falschen, heißt es, gibt es eine richtiges Welt neben oder hinter der falschen? Die Philosophen haben neben die falsche Welt immer wieder richtige Welten gestellt in Form von Utopien, die sich aber ihrerseits schon bald samt und sonders als Irrtum erwiesen haben. Wittgenstein macht denn auch in Kenntnis der Philosophiegeschichte keinerlei Versprechen zur Situation außerhalb des Fliegenglases.

Die Bilder der Maler, um uns ihnen zuzwenden, zumal diejenigen Pisanellos (das abgebildete Augenpaar ist dasjenige Jan Peter Tripps), mögen im Dichter den Wunsch erwecken, alles aufgeben zu können außer dem Schauen, aber die reine Anschauung ist nicht sein Metier. Wie der Philosoph ist er der Sprache verpflichtet und damit dem Denken, wenn auch nicht in der reinen Form. Wie der Maler geht er aus von der Anschauung, kann sie aber bei der Übertragung in Sprache nicht rein halten. In der Sprache, dies- oder auch jenseits der reinen Anschauung und des reinen Denkens, erschafft der Dichter fiktionale und als solche falsche Welten, die uns nicht selten aber gegenüber der realen, in der wir leben, als richtiger und vertrauenswürdiger erscheinen. Geborgen im Text, sind wir nicht sicher, ob wir nach einem Ausweg aus diesem Fliegenglas suchen sollen.

Donnerstag, 18. Oktober 2012

Fragmente aus dem Orient

Baumparadiese

In der Goldenen Taube zu Verona trägt sich Selysses, ohne seinen Übermut weiter zu begründen, unter falschem Namen ein und zwar als Jakob Philipp Fallmerayer, Historiker von Landeck. Erläuternd wurde bereits ausgeführt, daß Selysses in Limone mit dem Paß auch seine Identität verloren, diese auch in Mailand nach der Ausstellung eines Ersatzdokuments nicht wiedergefunden hatte, um sie dann in Verona ausdrücklich zu verleugnen. Vermerkt wurde ferner, daß nach der Verwandlung in den Orientfachmann Fallmerayer die morgenländischen Motive im weiteren Verlauf der Erzählung All’estero deutlich zunehmen. Gleichwohl bleibt die Verwandlung rätselhaft.
Fallmerayer hatte in seiner Zeit einen guten Ruf als Prosaist. Hebbel nennt es bewundernswürdig, wie er den Menschen und die Natur, wie sie sich gegenseitig bedingen, mit fast dramatischer Energie darstelle. Ein anderer Rezensent spricht von der ruhigen und doch durchpulsten Sprache der Fragmente aus dem Orient. Der heutige Leser wird nicht widersprechen wollen, aber doch, wie beim Goldwaschen, ein Sieb für notwendig halten, um etwa die Stellen abzuseihen, an denen es nach Kara Ben Nemsi im wilden Kurdistan klingt. Man könnte meinen, Sebald, dessen Sprache schon unangemessener beschrieben wurde als mit ruhig und doch durchpulst und dem die von Hebbel konstatierte gegenseitige Bedingung von Mensch und Natur sicher zugesagt hat, habe für seine eigenen Orientfragmente ein solches Sieb zum Einsatz gebracht. Stellt man sich Fallmerayers Prosa durch die genannte Prozedur gehörig verschlankt vor, könnte der Eindruck entstehen, Sebald habe sich bei seinen Fragmenten aus dem Orient und insbesondere bei der Darstellung der Stadt Konstantinopel von ihr inspirieren lassen.

Konstantinopel oder Istanbul ist keine Stadt, die Selysses, wie Venedig, Mailand und Verona, im Auftrag Sebalds aktuell bereist. Es ist das Konstantinopel des Jahres 1913 und ob es nicht eher ein unbestimmtes osmanisches Konstantinopel des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ist, läßt sich nicht entscheiden anhand dessen, was wir vernehmen, und ob alle aufscheinenden Bilder auch nur irgendwann in der Stadt anzutreffen waren, kann heute kaum noch jemand verläßlich bestätigen oder aber verneinen. Mensch und Natur, so heißt es, bedingen sich gegenseitig in dieser Stadt, so viel Bauwerk, so viel verschiedenes Grün. Pinienkronen hoch in der Luft. Akazien, Korkeichen, Sykomoren, Eukalyptus, Wacholder, Lorbeer, wahre Baumparadiese, Schattenhalden und Haine mit rauschenden Bächen und Brunnen. Unvermittelt tut sich eine Art Kanzel auf und mit ihr der ausgedehnteste Panoramablick.
Fallmerayer sieht bei der Darstellung von Trapezunt drei Zypressen und viele Feigenbäume, reichlich Efeugebüsch, Kohl, Haselstauden, und Quitten ohne Symmetrie und Ordnung mitten im Steingeklüft, und auch in dem kleinen Garten vorzugsweise die Feige, die Quitte, ferner den Pfirsich, die Kirsche, die Orange, den Granatapfel, die Zitrone, die Maulbeere, die Olive und die Ulme, die in Kolchis besonders häufig und prachtvoll wächst. Ein wenig weiter strotzt die Myrte, prangt die Nelke, rankt das Immergrün und die Weinrebe, duftet der wilde Thymian und gedeiht ungepflegt der Oleander und der Lorbeerstrauch. Überall Quellen im Gestein, kleine Wasserstürze vom Berg hinab, wundervolles Spielwerk der Felsenbildung.

Große Teile der Stadt Konstantinopel sind ganz aus Holz, Häuser aus braun und grau verwitterten Balken und Brettern, mit flachen Giebeldächern und vorstehenden Altanen, und auch in Kolchis strebt man, Fallmerayers Bericht zufolge, nicht nach Symmetrie und architektonischer Eleganz der Außenseite. Je melancholischer der Eindruck auf die Vorübergehenden, desto besser für den Besitzer. Man will allein sein in Ruhe und Genuß. Man sieht kaum Bauten von mehr als einem Stockwerk. Häufig sind es gar nur Erdgeschosse, so daß in mancher Straße nichts als braune Ziegeldächer und rauchlose Schornsteine aus Schieferplatten zu sehen sind.
In beiden Fällen also üppige Vegetation und Wasserspiele, in beiden Fällen anspruchslose, melancholische Architektur. Würden sich die Beschreibungen auf die wiedergegebenen Textstellen beschränken und wäre nicht bekannt, daß wir das eine Mal in Konstantinopel und das andere Mal in Trapezunt sind, könnte es scheinen, als hätten sich zwei Autoren mit ähnlicher Sichtweise derselben Stadt angenommen. Wenn Sebald, der sich ein eigenes Bild vom osmanisches Reich nicht machen konnte, Fallmerayer als Augenzeuge in die Pflicht genommen hätte, wäre daran nicht Verwunderliches, auch nicht, wenn er dabei nicht ausschließlich auf Konstantinopel unmittelbar betreffende Textstellen vertraut hätte. Zur osmanischen Hauptstadt selbst läßt Fallmerayer im übrigen wissen, ein unübersehbares Gewimmel von Holzziegeldächern und Holzgezimmer, von Gärten, Zypressenwäldern, Kegelbergen und Lusttälern, von bleigedeckten, goldblitzenden Spitztürmen und Tempelkuppen schließe der Name Stambul ein, ein Sitz der Widersprüche sei es, Land und Wasser, Licht und Schatten und lange Karawanenzüge, vorüberschiffende Delphine: auch das recht nah an Adelwarths Tagebuch.

Verschiedentlich war schon festzustellen, daß sich einzelne Motive in Sebalds Büchern erst im Nachherein erklären. So gibt sich der Artist Giorgio Santini erst dann als San Giorgio zu erkennen, als der Heilige am Ende der Schwindel.Gefühle in der Londoner Nationalgalerie auf Pisanellos Bild den gleichen Strohhut auf dem Kopf trägt, den Santini mehr als hundert Seiten zuvor im Mailänder Konsulat in den Händen dreht. Die in kleinen Bakelitdosen verwahrten toten Motten in Austerlitz’ Wohnung erhalten erst dann ihren Sinn, als am Ende des Buches die Vermutung geäußert wird, sie seien vom benachbarten Judenfriedhof eingeflogen. Hier hätten wir es gleichwohl insofern mit einer neuen Qualität zu tun, als sich der Fallmerayer der Schwindel.Gefühle erst ein ganzes Buch später in der Erzählung Ambros Adelwarth zu erkennen gibt.
Das erwähnte Verfahren der Prosaverschlankung geht über das Erwartbare hinaus, da die zum Teil skizzenhaften Tagebuchaufzeichnungen Adelwarths nicht den üblicherweise in allen Einzelheiten ausgebauten Satzmustern Sebalds entsprechen. Zwar weitet sich der Blick in der Stadt Istanbul, aber auch hier bleiben unvollständige Sätze ohne Verb, die dem Vortrag Flüchtigkeit und zugleich vorwärtsdrängende Dichte verleihen, in der Schönheit und Melancholie des welken osmanischen Reichs sich in besonderem Glanz zeigen.

Samstag, 13. Oktober 2012

Jerusalem

Abrahamitische Religionen

Sebald hat sich als im bürgerlichen Leben religions- und glaubensfrei bekannt. Nicht im Widerspruch, aber doch im auffälligen Kontrast dazu führen die katholischen Heiligen ein reges Leben in seinem Werk. Gleich im ersten Satz der veröffentlichten Dichtung schließt sich der Flügel des Altars der Pfarrkirche Lindenhardt, und auf dem Tafelbild treten uns die vierzehn Nothelfer und Nothelferinnen entgegen. Der heilige Georg verläßt Grünewald Gemälde und wird in den Bildern Pisanellos zu einem heimlichen Protagonisten der Schwindel.Gefühle. Im gleichen Buch liegt der heilige Franz in einem schwankenden Schilfbeet mit dem Gesicht nach unten im Wasser, und über die Sümpfe schreitet die heilige Katharina, ein kleines Modell des Rads, auf dem man sie gebrochen hatte, in der Hand. Verstreut über das Werk begegnen uns der heilige Hieronymus und andere Heilige mehr.

Nichts ist Selysses in der Kindheit sinnvoller erschienen als diese beiden Tage, Allerheiligen und Allerseelen, Tage der Erinnerung an die Leiden der heiligen Märtyrer und der armen Seelen, an denen die dunklen Gestalten der Dorfbewohner seltsam gebeugt im Nebel herumgingen als seien ihnen ihre Wohnungen aufgekündigt worden. Unter all den längst namenlosen Seelen sind die Heiligen wie Pfeiler der Ewigkeit und sorgen für eine schöne Totenordnung, da sich jede Seele auf einen Heiligen bezieht. Selysses, der nach allem, was wir wissen, auf den Vornamen Georg hört, ist sehr einverstanden mit seinem Schutzheiligen schon im Leben. Zur Linken steht für die alte Welt, die Georg auf Grünewalds Tafelbild verlassen hat, der heilige Antonius in dunklem Gewand und mit strengem Blick, rechts San Giorgio unter dem Strohhut im Licht mit den ausdrücklichen Merkmalen der herzbewegenden Weltlichkeit und der schutzlosen Unschuld.
Der vom heiligen Georg, mit Pisanellos Hilfe, bewirkte Augenblick eines glücklichen Gleichgewichts der Zeiten ist schnell dahin, das Projekt Moderne verläuft nicht in den gewünschten Bahnen, und daher hat auch der christliche Strafprediger nicht ausgedient. Einen solchen, katholischer Provenienz, sieht Sebald in Thomas Bernhard, ein wohl durchaus origineller Beitrag zur Bernhardforschung: Ich sehe ihn, immer wenn ich an ihn denke, irgendwie auf einer Kanzel, wie er also das Sonntagspublikum sozusagen fix und fertig macht, bis sie also nicht mehr schnaufen können. Mit Emyr Elias hat Sebald einen kalvinistischen Confrère Bernhards in die Welt gesetzt: Am Sonntag führte er der versammelten Gemeinde mit erschütternder Wortgewalt das allen bevorstehende Strafgericht, die Farben des Fegefeuers und die Qualen der Verdammnis vor Augen, so daß nicht wenige am Ende des Gottesdienstes mit einem kalkweißen Gesicht nach Hause gingen.

Jüdische Heilige werden nicht aktiv im Werk, es sei denn, man wollte Kafka, der in seinen Tagebüchern die Geschichte eines Zaddik erzählt und die Begegnung mit einem Rabbi in Marienbad schildert, als einen solchen ansehen; ein Heiliger der Literatur ist er in jedem Fall. Auf den jüdischen Friedhöfen herrscht nicht die schöne, von den Heiligen gewährleistete Totenordnung, sondern die Schönheit der Namen, die ihnen die Deutschen vielleicht mehr als alles andere mißgönnt haben: Wertheimer, Friedländer, Leuthold, Goldstaub. Wenig erinnert an die mit dem Wort Friedhof verbundenen Vorstellungen, man schaut auf seit langen Jahren verlassen daliegende, allmählich in sich zerfallende und versinkende Gräberfelder, hohes Gras, Wiesenblumen, Baumschatten in einer leichten Bewegung der Luft.

Das jüdisches Leben ist auf das engste mit dem mosaischen Glauben verbunden. Am Sabbat spielen einige der Männer, was für sehr kühn und fortschrittlich gilt, eine Partie Billard. Der Ferdinand Lion raucht sogar eine Zigarre. Anschließend gehen sie gemeinsam in die Synagoge. Die Frauen packen zusammen und machen sich mit den Kindern in der einbrechenden Dämmerung auf den Weg nach Haus. In der Dunkelheit schon hocken wir auf der vorderen Treppe und sehen zu, wie sich am Himmel die Gewitterwolken übereinanderschieben. Nachdem der Vater zurück ist, wird die aus vielen bunten Wachssträngen geflochtene Kerze zum Sabbatausgang angezündet. Wir riechen an den Gewürzbüchschen und gehen hinauf ins Bett.

Ci vediamo a Gerusalemme, ruft der Venezianer Malachio, bevor er abdreht mit seinem Boot. Eine Verabredung zu einem realen Wiedersehen in Jerusalem steht nicht unbedingt hinter dieser alten Grußformel der Juden. Warum aber verwendet Malachio sie, wo doch zumindest Selysses, nach allem was wir wissen, kein Jude ist. Selysses fragt sich, was Malachio mit diesen Worten gemeint haben mag und versucht, vergebens, sich an sein Gesicht zu erinnern. Ambros Adelwarth und Cosmo Solomon gehen der Sache auf den Grund und reisen ins Heilige Land.

In Jerusalem finden sie einmal ums andere Kirchen, Klöster, religiöse und philanthropische Einrichtungen jeder Art und Denomination. Nach Norden liegen die russische Kathedrale, das russische Männer- und Frauenhospiz, das französische Hospital de St. Louis, das jüdische Blindenheim, die Kirche und das Hospiz des hl. Augustinus, die deutsche Schule, das deutsche Waisenhaus, das deutsche Taubstummenasyl, the School of the London Mission of the Jews, die Abessinische Kirche, the Anglican Church, College and Bishop’s House, das Dominikanerkloster, das Seminar und Kirche St. Stephan, das Rothschildsche Institut für Mädchen, die Gewerbeschule der Alliance Israélite, die Kirche Notre Dame de France und am Teich von Bethesda der St. Anna Convent ... : und viele andere mehr, eine seltsame Insel frommer Institutionen, allem Anschein nach unbewohnt und abgetrennt vom Rest der Welt und der Stadt, sofern man von einem Rest der Stadt überhaupt sprechen kann:

Über den Dächern kein Laut, kein Lebenszeichen, nichts. Nirgends, soweit das Auge ausschweift, erblickt man ein lebendiges Wesen, ein huschendes Tier oder auch nur den kleinsten Vogel im Flug. On dirait que c’est la terre maudite. In der Vergangenheit hat Jerusalem einen anderen Anblick geboten. Neun Zehntel des Glanzes der Welt waren auf diese prachtvolle Hauptstadt vereint. Jahrelang ist dann das Projekt der Niederlegung des Lebens von den Cäsaren planmäßig betrieben worden, und auch später hat man Jerusalem wiederholt heimgesucht, befreit und befriedet, bis endlich die Verödung vollendet und von dem unendlichen Reichtum des Gelobten Landes nichts mehr übrig war als der dürre Stein und eine ferne Idee in den Köpfen seiner inzwischen weit über die Erde hin verstreuten Bewohner.

Manchester war eines der Sammelstellen für die über die Erde hin verstreuten Juden. Das vormalige Judenviertel war gleich hinter der Victoria Station um das sternförmige Gefängnis Strangeways gelegen. Das von seinen Bewohnern aufgegebene Quartier wurde seither von der Stadtverwaltung Manchester dem Erdboden gleich gemacht. An der Wand einer der wenigen verbleibenden Ruinen läßt sich noch das Schild einer Anwaltskanzlei mit den Namen Glickmann, Grunwald und Gottgetreu entziffern. Noch zu Beginn des Jahrhunderts galt Manchester in allen Ländern als ein an Unternehmergeist und Fortschrittlichkeit nicht zu überbietendes Industriejerusalem. Es fragt sich, ob der jüdische Teil der Bevölkerung sich dieser Einschätzung anschließen konnte unter Löschung der fernen Idee Jerusalems in den Köpfen. Sie wären betrogen worden, um das moderne Industriejerusalem steht es inzwischen, in der Schilderung Sebalds, kaum besser als um die Stadt im heiligen Land.

Das gegenwärtige, von den Juden wieder in Besitz genommene Jerusalem betritt der Dichter nicht. Der Tempel läßt sich dort nicht neu erbauen, zu lange schon ist er in seiner Zerstörtheit der Tempel der Juden, jeder Versuch der Restaurierung wäre eine Profanierung. Möglich ist allenfalls, sich vom Tempel ein Bild zu machen im Modellbau, so wie Alec Garrad ihn betreibt, oder besser noch die Traumgestalt Frohmann, der ein aus Fichtenholz, Papiermaché und Goldfarbe bereits fertiggestelltes Modell des Tempels auf dem Schoß hält, wie vielleicht jeder Jude es Herzen mit sich trägt.
Auf die Herausforderung unserer Tage, sich auch mit der dritten abrahamitischen Religion zu beschäftigen, hat Sebald sich nur bedingt eingelassen. Die Begegnung mit den morgenländischen Männern in Den Haag läßt Fragen offen. Das Wohlgefallen des Dichters findet offensichtlich das von Cosmo Solomon und Ambros Adelwarth besuchte Stadt Istanbul. Der Besuch findet statt im Jahre 1913, noch bevor die Zeit sich wendete und, wie eine Natter durchs Gras, der Funken die Zündschnur entlanglief. Es ist die schöne Herbststadt des welken osmanischen Reiches. Die Minarette scheinen sich im Wind zu wiegen wie die Masten der großen Segelschiffe. Auf der Galerie eines der Minarette erscheint ein zwergenhafter Muezzin und nickt grüßend den Reisenden zu, bevor er seinen Vortrag beginnt, ein ganz und gar freundliches Bild.

Montag, 8. Oktober 2012

Motten

Seelen in Bakelit

Eng verwandt, wie die Falter sind, gilt der Seidenvogel als Nutztier, die Motte hingegen als Schädling. Die Seidenraupe sorgt für unsere Kleidung, die Motte zerstört sie. Für die Tiere ist die Konsequenz in der Realität die gleiche, die der menschlichen Perspektive entstammenden Qualitäten Nutzen und Schaden muß das eine wie das andere mit dem Leben zu bezahlen. Das Tötungsgeschäft an den Seidenraupen ist im letzten Teil der Ringe des Saturn detailliert vorgeführt, die Motten aber werden in Austerlitz äußerst pfleglich behandelt, noch bis über ihren Tod hinaus. An drei markanten Stellen treten die Motten, mit abnehmender Ausführlichkeit aber mit eher zunehmender Bedeutsamkeit, ins Blickfeld. In der Summe entfällt in etwa ein Prozent der gesamten Erzählstrecke des Buches auf die Motte, das ist für ein so kleines Tier nicht wenig in einem Buch, das von so großen Dingen handelt. Dem immer bestehenden Auftrag ist Genüge getan, wonach allem, den Hauptdarstellern und den Komparsen, den Vögeln am Himmel, dem grün bewegten Wald und jedem einzelnen Blatt dieselbe, durch nichts geschmälerte Daseinsberechtigung zuzusprechen ist.
Als die Glühstrumpflampe aufgestellt und entzündet war, begannen die Nachtfalter wie aus dem Nichts heraus in ihrer überwältigenden Mannigfaltigkeit einzuschwärmen, Spanische Fahnen und Schwarze Ordenbänder, Messing- und Ypsiloneulen, Jungfernkinder und Alte Damen, um nur die bekanntesten zu nennen. Jedes dieser extravaganten Geschöpfe hat seine Eigenart, manche leben nur im Erlengrund, manche nur an heißen Steilhängen, auf mageren Triften oder im Moor. Allein die Raupen fressen, und das bis zur Bewußtlosigkeit, wohingegen die Falter zeit ihres kurzen Lebens gar nichts mehr zu sich nehmen und einzig darauf bedacht sind, das Fortpflanzungsgeschäft möglichst schleunig zuwege zu bringen. Einige tragen Halskragen und Umhänge wie vornehme Herren auf dem Weg in die Oper. Diese spaßhafte Vermenschlichung leitet über zur ernsten Frage nach dem Seelenleben der geringen Kreaturen. Bedenkt man das Leben und Sterben der Motten, so kann man ihnen nur die größte Ehrfurcht entgegenbringen. Wen sie sich in ein Haus verflogen haben und nicht mehr weiter wissen, so verharren sie reglos, bis der letzte Hauch aus ihnen gewichen ist, und bleiben, festgehalten durch ihre winzigen im Todeskrampf erstarrten Krallen, am Ort ihres Unglücks haften. - Die ausführliche Vorstellung der Motten im walisischen Abermaw enthält Naturkundliches, Beobachtetes und Spekulatives gleichermaßen. Mit dem Tod sind die Motten nicht am Ende ihres Erdendaseins angekommen.

In der Londoner Wohnung des Juden Austerlitz finden sich sieben verschieden geformte, nicht mehr als zwei bis drei Zoll hohe Bakelitdosen, von denen jede den sterblichen Rest einer in diesem Haus auf die geschilderte Weise an das Ende ihres Lebens gekommenen Motte enthielt, gewichtslose elfenbeinfarbene Wesen mit einem von Silberschuppen bedeckten Rumpf: eine bizarre und sonst kaum gebräuchliche Abwandlung der Menora.

In der Austerlitz Wohnung befindet sich noch ein weiteres, um einiges größeres Bakelitgehäuse, das die Außenwand eines altertümlichen Radios darstellt. Mancher aus der Generation Sebalds hat nachgesonnen über die Beschriftung dieser Rundfunkempfänger, und unter Beromünster und Hilversum mag er sich weniger Ortschaften als riesige Sendeanlagen in unbewohnten und menschenleeren Gebieten vorgestellt haben oder weit draußen im Meer im Dienste der Seefahrer. Aus großer Ferne sprechen, kaum hörbar und in unverständlicher Sprache, Stimmen, die manchmal untergehen zwischen den Wellen und dann wieder auftauchen. Ab Anbruch der Dunkelheit durchschwärmen sie die Luft und führen, wie die Fledermäuse, ihr eigenes die Taghelle scheuendes Leben. Das ungeheuer empfindliche Gehör der Motten aber ist imstande, die Schreie der Fledermäuse über weite Entfernungen weg zu erkennen, also wohl auch die von den Radiowellen getragenen Stimmen. Ganz offenbar, wenn auch keineswegs in einer durchschaubaren Weise, gehören die Motten in den kleinen Bakelitkästchen und das Radio mit seinen Geisterstimmen in dem größeren Gehäuse zueinander.

Aus dem Fenster der Wohnung aber sieht man hinter einer Ziegelmauer einen von Lindenbäumen und Fliederbüschen bewachsener Platz, auf dem man seit dem 18. Jahrhundert Mitglieder der aschkenasischen Gemeinde beigesetzt hatte, unter anderem den Rabbi David Tevele Schiff und den Rabbi Samuel Falk, den Baal Schem von London. Von diesem Platz, so ist zu vermuten, sind die Motten ins Haus geflogen. Diese Vermutung mag einen realen Hintergrund haben, wenn man annimmt, es gebe Mottenarten deren Raupen, anders als die auf mageren Triften oder im Sumpfgelände, sich auf das Vertilgen des Blattwerks von Lindenbäumen und Fliederbüschen spezialisiert haben. In den Vordergrund aber drängen sich mythologisch Vorstellungen von den Seelen, die als Schmetterlinge aus den toten Körpern ausfahren. Die Seelen der toten Juden, sieben an der Zahl, sind, so mag man denken, erst in den Bakelitsarkophagen zur endgültigen Ruhe gekommen.

Die drei Erwähnungen der Motten sind jeweils durch hundert und mehr Seiten von einander getrennt. Liest man sie im Zusammenhang, so ergibt sich eine eigene kleine Mottengeschichte. Das Beziehungsfeld aus Nachtfaltern, nächtlichen Radiotönen, Fledermäusen und Seelen ist ohne Zweifel vorhanden, gibt man ihm, es nachzeichnend, Kontur, wird es fast schon zerstört. Die Eigenständigkeit der Mottengeschichte löst sie nicht etwa aus den anderen Textbezügen, sondern intensiviert sie nur. Erst mit dem Auffliegen vom Friedhof der Juden sind die Motten den zentralen Themen des Buches endgültig verbunden.

Es ist also eine Erläuterung vom Ende her, ähnlich wie bei dem Artisten Giorgio Santini, der sich als Wiedergänger des San Giorgio erst offenbart, als dieser am Ende des Buches auf Pisanellos Bild den nämlichen außergewöhnlich schön gearbeiteten, weitkrempigen Strohhut auf dem Kopf trägt, den Santini viele Seiten zuvor im deutschen Konsulat zu Mailand in den Händen dreht. Erläuterung heißt freilich nicht, daß das Geheimnis sich klärte, es wird nur gerade erst sichtbar. Der Zauber der Prosa Sebalds beruht nicht zuletzt auf diesen Motiven, die wie unverbunden mitschweben und erst verspätet ihren Platz finden, ohne daß sich aber, ganz im Sinne der Quantentheorie, präzis sagen ließe, was dieser Platz ist.