Sonntag, 31. Juli 2011

Reiselektüre

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Mir gegenüber saßen eine Franziskanerin von vielleicht dreißig oder fünfunddreißig Jahren und ein junges Mädchen mit einer aus vielen farbigen Flecken geschneiderten Jacke um die Schultern. Das Mädchen war gerade erst zugestiegen, die Franziskanerschwester hatte bereits im Zug gesessen. Die Schwester las ihr Brevier, das Mädchen, nicht minder versenkt, einen Bilderroman. Von vollendeter Schönheit waren sie beide, dachte ich mir, abwesend und anwesend zugleich, und ich bewunderte den tiefen Ernst, mit dem sie jeweils die Blätter umwendeten. Einmal blätterte die Franziskanerschwester um, dann das junge Mädchen und dann wieder die Franziskanerschwester. So ging es die ganze Zeit fort, auch nur ein einziges Mal mit der einen oder der anderen einen Blick zu wechseln. Dann war da noch, auf dem mir zugewandten Sitz am Fenster der anderen Gangseite, ein junger rotwangiger Bursch, der viel im Interessanten Blatt las, das er zwar rücksichtslos mit der Handkante aufriß, um es aber schließlich mit der immer von mir bewunderten Sorgfalt unbeschäftigter Menschen, als wäre es ein Seidentuch, mit vielfachem Zusammendrücken, Eindrücken der Kanten von innen, Festmachen von außen, Abklopfen der Flächen, zusammenzulegen und, dick wie sie ist, in die Brusttasche zu stopfen. Er würde es also noch zu Hause lesen. Naturgemäß konnte er meine Aufmerksamkeit längst nicht in dem gleichen Maße fesseln wie die beiden jungen Frauen. Ich weiß gar nicht, wo er ausgestiegen ist. Jedenfalls versuchte ich mich dann selber zu üben in einer ähnlichen Bescheidenheit und holte den Beredten Italiener heraus, ein praktisches Hülfsbuch der italienischen Umgangssprache. In diesem Büchlein war alles auf das beste geordnet, so als setze sich die Welt tatsächlich bloß aus Wörtern zusammen, als wäre auch das Entsetzlichste in Sicherheit gebracht, als gäbe es zu jedem Teil ein Gegenteil, zu jedem Bösen ein Gutes, zu jedem Verdruß eine Freude, zu jedem Unglück ein Glück und zu jeder Lüge auch ein Stück Wahrheit.

Samstag, 30. Juli 2011

Kommentar Brotzeit

Das ist eine Erzählung wie zur Bestätigung der Leute, die auf Anschaffung eines Privat-PKW sinnen, denn auf derartige Begegnungen und Mitreisende in öffentlichen Verkehrsmitteln ist nun wirklich niemand versessen. Der schlimmste Brocken ist gleich der querschädlige Mann, bei dem man nicht weiß, ob eine lange psychiatrischen Internierung, einer angeborene Debilität oder allein das Biertrinken und Brotzeitmachen ihn zu dem gemacht haben, was er ist. Bereits dem mageren Windbeutel, wie der Volksmund sagt, kann Selysses, der sich unbemerkt in Kafka verwandelt hat, durchaus auch positive Züge abgewinnen, allerdings ohne daß ihm in dieser Begeisterung ein jeder folgen könnte. Die alte Frau schließlich möchte für sich genommen durchaus Wohlgefallen erregen. Sparsamkeit beim Essen hat ihre Befürworter, Slow Food gegen Fast Food zu verteidigen ist seit langem schon mehr als opportun. Als Zugabe zu den beiden Herren ist aber auch sie nur schwer erträglich, eine volle Stunde für einen simplen Apfel kann die ohnehin schon strapazierten Nerven auf eine sehr harte Probe stellen.

Brotzeit auf Rädern

Freitag, 29. Juli 2011

Brotzeit auf Rädern

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Mir gegenüber hatte sich, obschon sonst genügend Platz war, ein dicker, querschädliger Mann von vielleicht fünfzig Jahren hingehockt. Er hatte ein rotfleckig angelaufenes Gesicht und sehr engstehende, etwas einwärts verdrehte Augen. Schwer vor sich hin schnaufend, wälzte er in einem fort seine unförmige Zunge, auf der sich noch Essensreste befanden, in seinem halboffenen Mund. Die Beine gespreizt saß er da, Bauch und Unterleib auf eine grauenerregende Weise eingezwängt in eine kurze Sommerhose. Ich hätte nicht zu sagen gewußt, ob die Körper- und Geistesdeformation meines Mitreisenden ihre Ursache hatte in einer langen psychiatrischen Internierung, in einer angeborenen Debilität oder allein im Biertrinken und Brotzeitmachen. Unterdessen aß, ihm schräg gegenüber auf der anderen Seite des Ganges, ein magerer Reisender – das, was man Windbeutel nennt – mit raschem Schlucken Schinken, Brot und zwei Würste, deren Haut er mit einem Messer durchsichtig kratzte, bis er schließlich alle Reste und Papier unter die Bank hinter das Heizungsrohr warf. Während des Essens hatte er in dieser unnötigen, mir so sympathischen, aber erfolglos nachgeahmten Hitze und Eile zwei Abendblätter, mir zugewendet, ausgelesen. Er hatte weit abstehende Ohren und eine verhältnismäßig breite Nase. Mit den fetten Händen wischte er Haare und Gesicht, ohne sich schmutzig zu machen, was ich auch nicht darf. Das scheinbar umfangreiche Glied machte in der Hose einen starken Wulst. Um das Bild abzurunden sei noch die alte Frau zwei Bänke weiter erwähnt, die einen großen Apfel aß, zu dessen völliger Vertilgung die gute Stunde bis zu unserer Ankunft gerade hinreichte. Der Fluß folgte den Schleifen des Flußlaufs durch das Wiesental, Hügel und Wälder zogen langsam vorbei, Abendschatten legte sich über das Land, und die alte Frau zerteilte mit ihrem Federmesser, das sie stets aufgeklappt in der Hand behielt, Schnitz um Schnitz ihren Apfel, zerkiefelte die abgeschnittenen Stücke und spuckte die Schale in ein Papiertuch, das sie auf dem Schoß liegen hatte. In der menschenleeren Straße vor dem Bahnhof stand nur eine einzige Droschke. 

Donnerstag, 28. Juli 2011

Kommentar Landgasthof

Beim Eintritt des Selysses in ein Hotel oder einen Gasthof ist zwischen ihm und der Empfangsdame sogleich eine erotische Spannung spürbar, besonders deutlich hier, bei der Engelwirtin im heimischen W. Zuvor hatte Kafka uns mit seinen bekannt knappen Erzählschritten in das berühmte Dorf am Schloßberg geführt, nun verlangsamt sich das Geschehen bis hin zur Zeitlupendehnung. Das Zusammenhalten der Strickjacke mit der linken Hand schränkt nicht nur die Schreibfähigkeit ein und dehnt den Akt der Registrierung des Logisgastes, es ist die mit hinreichend Zeit versehene verführerische Geste, Zurückweisung und Verschließen und damit auch Einladung und Provokation, ein Spiel. Weiter geht es bei Selysses nicht, der Hauch dieses langen Augenblicks liegt aber noch lange über der fortschreitenden Prosa. Es ist schwer vorstellbar, daß Selysses, der die ganzen Schwindel.Gefühle über immer Kafka in Sinn hat, hier nicht auch an K.s Eintritt in den Dorfgasthof und an Frieda denkt. Kafka geht in diesen Dingen deutlich entschlossener zu Werke, besser gesagt, er trifft immer wieder auf gänzlich entschlossene Frauengestalten. Ähnlich wie Kafkas Jäger Gracchus und Hans Schlag durch seinen, in W. ansässigen Jäger Hans Schlag, hat Sebald auch Kafkas Frieda in der Gestalt der Engelwirtin in gewissem Maße zivilisiert und, wenn man so sagen will, entmythologisiert, kein Grund für sein alter ego Selysses, sie nicht für einen phantastischen Augenblick in Frieda rückzuverwandeln.

Mittwoch, 27. Juli 2011

Logis in einem Landgasthaus

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Es war spät abends, als er ankam. Das Dorf lag in tiefem Schnee. Vom Schloßberg war nichts zu sehen, Nebel und Finsternis umgaben ihn, auch nicht der schwächste Lichtschein deutete das große Schloß an. Lange stand er auf der Holzbrücke, die von der Landstraße zum Dorf führte, und blickte in die scheinbare Leere empor. Dann ging er, ein Nachtlager suchen; im Gasthof war man noch wach. Hinter der Theke, die auch als Rezeption diente, war, nachdem sich auf sein Läuten lang nichts gerührt hatte, ein jungen Mädchen aufgetaucht, Frieda mit Namen, wie er noch erfahren sollte. Er hatte nirgends eine Tür gehen hören, nirgends sie hereinkommen sehen, und doch war sie auf einmal dagewesen, ein unscheinbares, kleines, blondes Mädchen mit traurigen Augen und mageren Wangen, das aber durch ihren Blick überraschte, einen Blick von besonderer Überlegenheit. Mit unverhohlener Mißbilligung musterte sie ihn, sei es wegen seiner von der langen Wanderschaft in Mitleidenschaft gezogenen äußeren Erscheinung, sei es wegen seiner ihr unerklärlichen Geistesabwesenheit. Er verlangte ein Zimmer zur Straße hinaus im ersten Stock, vorerst auf unbestimmte Zeit. Obzwar es ohne weiteres möglich sein mußte, seinem Wunsch zu entsprechen, weil auch im Gastgewerbe im November der Totenmonat ist, in welchem das in dem leeren Haus verbliebene Personal den abgewichenen Gästen nachtrauert, als seien sie wirklich auf ewig abgereist, obzwar also ein zur Straße hinaus gelegenes Zimmer im ersten Stock ohne jeden Zweifel verfügbar war, blätterte sie vorwärts und rückwärts in ihrem Register herum, ehe sie ihm die Schlüssel aushändigte. Dabei hielt sie, als sei es ihr kalt, mit der Linken die Strickjacke zusammen und erledigte umständlich und ungeschickt alles nur mit der anderen Hand, wodurch sie, wir ihm schien, sich Bedenkzeit gewinnen wollte diesem eigenartigen Novembergast gegenüber. Den ausgefüllten Anmeldezettel, auf dem er als Berufsbezeichnung Landvermesser angegeben hatte, studierte sie mit hochgezogenen Augenbrauen. Als ihr Blick wieder auf ihn fiel, schien es ihm, daß dieser Blick schon ihn betreffende Dinge erledigt hatte, von deren Vorhandensein er selbst noch gar nicht wußte, von deren Vorhandensein aber der Blick ihn überzeugte. Er hörte nicht auf, Frieda von der Seite anzusehen. Zugleich aber war ihm, als höre er von oben die Stimme eines Mannes, vermutlich die des Wirtes, dessen Verhältnis zu Frieda ihm nicht bekannt sein konnte, vielleicht einfach das des Arbeitgebers und seiner Angestellten, vielleicht war er ihr Bruder oder ihr Vater oder aber ihr Ehemann. Ob da noch jemand gekommen sei, rief er von oben. Ja, ein Übernachtungsgast, aber jetzt ist er schon auf seinem Zimmer. Woher denn die Geräusche kämen, wollte der Wirt wissen, vielleicht hat er sich unten versteckt. Diese Kühnheit wird er doch wohl nicht haben, sagte Frieda und setzte unversehens ihren Fuß auf den des Gastes. Etwas Fröhliches, Freies war in ihrem Wesen, was er früher gar nicht bemerkt hatte, und es nahm ganz unwahrscheinlich überhand, als sie plötzlich lachend mit den Worten: Ja, vielleicht ist er auch nur versteckt, sich zu ihm hinbeugte, ihn flüchtig küßte, sich wieder aufrichtete und betrübt sagte: Nein, er ist nicht hier. Gute Nacht! Angenehme Ruhe! Die Schritte des Wirtes oben waren noch nicht entgültig verklungen, schon hatte Frieda das elektrische Licht ausgedreht und war bei ihm. Mein Liebling! Mein süßer Liebling! flüsterte sie, aber rührte ihn gar nicht an, wie ohnmächtig vor Liebe sank sie nieder und breitete die Arme aus, die Zeit war wohl unendlich vor ihrer glücklichen Liebe, sie seufzte mehr als sang irgendein kleines Lied. Dann schrak sie auf, da er still in Gedanken blieb, und fing an, wie ein Kind ihn zu zerren: Komm, hier unten erstickt man ja! Sie umfaßten einander, der schmale Körper brannte in seinen Händen, sie rollten in einer Besinnungslosigkeit, aus der er sich fortwährend, aber vergeblich, zu retten suchte, ein paar Schritte weit, schlugen dumpf an die Tür und lagen dann in den kleinen Pfützen Biers und dem sonstigen Unrat, von dem der Boden bedeckt war. Dort vergingen Stunden, Stunden gemeinsamen Atems, gemeinsamen Herzschlags, Stunden, in denen er immerfort das Gefühl hatte, er verirre sich oder er sei so weit in der Fremde, wie vor ihm noch kein Mensch, einer Fremde, in der selbst die Luft keinen Bestandteil der Heimatluft habe, in der man vor Fremdheit ersticken müsse und in deren unsinnigen Verlockungen man doch nichts tun könne als weiter gehen, weiter sich verirren.

Dienstag, 26. Juli 2011

Kommentar Kanzel

Der Prediger ist ein radikaler Poet archaischen Zuschnitts, fast noch aus der schriftlosen Zeit, zwar ist er des Lesens und Schreibens kundig, verzichtet aber auf die Niederschrift seiner geistlichen Ansprachen. Er führt ein Leben für das Wort, ein Leben im Takt und Rhythmus der Worte. Die Woche über formt er seinem Hirn die Worte ein, die an den Sonntagen mit tatsächlich erschütternder Gewalt auf die Gemeinde niedergehen. Dann stellt sich ein kurzer Augenblick des Friedens ein. Sicher ist der Prediger ein Mann nach dem Herzen des Selysses, auch wenn der die Produkte seines frommen Schaffens zwiespältig sieht. Kafka ist da um einiges unbefangener und stellt ihm eine Kanzel der Qual zur Verfügung, die ihn weiter anstachelt, indem sie ihn selbst den gepredigten Qualen in gewissem Maße schon aussetzt. Die Einheit von Wort und Leben ist wahrhaft hergestellt.

Kanzel der Qual

Sonntag, 24. Juli 2011

Liest Borges

Schwalbe und Molluske

Es ist nicht klar, nach welchem Plan der Zutritt zu dem posthumen Band Unerzählt gewährt oder aber verwehrt wurde. Sicher handelt es sich bei den vierunddreißig Auserwählten nicht um eine Versammlung aller und ausschließlich der engsten Freunde Sebalds, Kafka fehlt, auch Robert Walser, Gottfried Keller, eigentlich alle, die seinerzeit, mit gutem Grund, ins Landhaus eingeladen wurden. Der Umstand, daß Onetti unter falschen Namen als Onnetti auftritt, läßt nicht auf allzu große Nähe schließen, obwohl man wirklich gern wüßte, wie Sebald zu diesem beunruhigenden Erzähler stand. Noch ein weiterer La Plata-Dichter hat Zutritt erhalten, Borges, der zuvor bereits einen einigermaßen ausführlichen Auftritt in den Ringen des Saturn hatte. Sein Auftritt ähnelt allerdings nicht denjenigen Conrads, Swinburnes oder Fitzgeralds und anderer im selben Band, geschweige denn den Auftritten Stendhals und Kafkas in den Schwindel.Gefühlen. Sie alle treten als menschliche Gestalten hervor aus dem Gewebe ihrer Literatur, das ihnen nur mehr an den Schultern hängt in leuchtenden Fetzen. Borges tritt nicht hervor aus seinem Werk, seiner eigenen Neigung entsprechend, kann man mit einigem Recht sagen. Er wird gar nicht einmal beim Namen genannt, es ist anonym von einer in Argentinien verfaßten Schrift die Rede. Borges Dichterkollege und Freund Bioy Casares und zugleich Figur in der Erzählung Tlön, Uqbar, Orbis Tertius, um die es geht, erscheint als ein gewisser Bioy Casares, so als sei es nicht weiter wichtig oder auch nur ratsam, ihn zu kennen.

Die 1940 in Argentinien verfaßte Geschichte also kommt Selysses in den Sinn, als er an einer Klippe dem Flug der Schwalben über das Meer hinaus betrachtet. Ein ganzes Amphitheater, so stehe da geschrieben, sei durch ein paar Vögel gerettet worden, eine unscharfe Erinnerung, lautet der, überdies in ein surrealistisches Umfeld gestellte fragliche Satz doch: A veces unos pájaros, un caballo, han salvado las ruinas de un anfiteatro. Wir sind an solche und weitergehende Fehlleistungen der Erinnerung gewöhnt, so memoriert Selysses nur wenig später wortwörtlich, wie er sagt, eine Passage aus Conrads Kongotagebuch, die dort auf keine Weise zu finden ist. Den Gang der Erzählung und insbesondere den als Nachschrift aus dem Jahre 1947 ausgewiesenen Teil der argentinischen Erzählung referiert Selysses dann recht getreu, wenn auch in eleganter Verkürzung. Ausgangspunkt für den zweiten Zugriff auf die Erzählung ist sein Erleben, als er über den Rand der Klippe schaut: Ich kauerte mich nieder und blickte, erfüllt von plötzlicher Panik, hinab über den Rand. Es war ein Menschenpaar, das dort drunten lag, auf dem Grund der Grube, dachte ich mir, ein Mann, ausgestreckt über dem Körper eines anderen Wesens, von dem nichts sichtbar war als die angewinkelten, nach außen gekehrten Beine. Und in der eine Ewigkeit währenden Schrecksekunde, in der dieses Bild mich durchfuhr, kam es mir vor, als sei ein Zucken durch die Füße des Mannes gefahren wie bei einem gerade Gehenkten. Jetzt jedenfalls war er still, und still und reglos war auch die Frau. Ungestalt gleich einer großen, ans Land geworfenen Molluske lagen sie da, scheinbar ein Leib. - Zu Beginn von Borges’ Erzählung wird ausgeführt, so geht Selysses unter dem Eindruck seines Erlebnisses durch den Sinn, das Grauenerregende an den Spiegeln und im übrigen auch an dem Akt der Paarung bestünde darin, daß sie die Zahl der Menschen vervielfachen, wo doch, so wäre zu ergänzen, alles an der Verringerung ihrer Zahl gelegen wäre.
In Sebalds Werk leben die Menschen und Schreiben die Dichter vor einer Feuerwand, einer fortwährenden und allumfassenden Kombustion, die über kurz oder lang das Ende nur herbeiführen kann. Tlön ist eine ganz anders geartete Vernichtungsvision, eine Kunstwelt, eine Verdoppelung der Welt, ersonnen von einer sociedad secreta de astrónomos, de biólogos, de ingenieros, de metafísicos, de poetas, de chímicos, de algebristas, de moralistas, de pintores de geómetras, dirigidos por un oscuro hombre de genio. Tlön wird das Antlitz der Erde verwandeln, alle Sprachen, selbst Spanisch, Französisch und Englisch, werden vom Planeten verschwinden, die Welt wird Tlön sein. Borges aber kümmert das nicht, er feilt in der stillen Muße seines Landhauses weiter an einer tastenden, an Quevedo geschulten Übertragung des Urn Burial von Thomas Browne, die er nicht drucken zu lassen gedenkt. Am Zielpunkt Thomas Browne mündet der Nebenweg Borges wieder in den Hauptweg der Erzählung von den Saturnringen ein, sofern von einem Hauptweg die Rede sein kann. Borges gilt als Inspirationsquelle für Sebald, selbst hat er allerdings sicher nicht ohne Grund seinen Hund, der ebenfalls Einlaß in den Band Unerzählt erhalten hat, in den Vordergrund gerückt: My writing was always done in a random, haphazard fashion, in the same way in which a dog runs through a field. If you look at a dog following the advice of his nose, he traverses a patch of land in a completely anplottable manner. And he invariably finds what he is looking for. I think, as I have always had dogs, I’ve learned from them how to do this. Ersichtlich steht die Bewegung seiner Prosa dem ziellos zielsicheren Lauf des Hundes durch die Felder näher als Borges ausgeklügelt vorrückendem Erzählschritt. Der canine Charakter der Prosa in den Ringen des Saturn besonders ausgeprägt, und wohl aus diesem Grund ist es vielen Freunde des Dichters das liebste Buch, voller zufälliger und, ununterscheidbar davon, notwendiger Funde, die Lektüre ein immerwährendes tief verwirrendes und beglückendes Erleben ganz eigener Anblicke der Freiheit.

Sebald mußte wohl auf Borges treffen, zuviel verbindet sie, als daß sie sich hätten verfehlen können, so zufällig, wie sich die begegnung dann auch ergibt. Da ist die weit überdurchschnittliche Betonung der Entstehung von Literatur aus Literatur, Sebalds Pariser Nationalbibliothek ähnelt allerdings nur wenig der Biblioteca de Babilon bei Borges. Das Erzählwerk beider Autoren ist voller Menschen, die aus dem geschäftigen Leben ausgetreten sind, beider Werk ist gekennzeichnet von der Beschwörung und zugleich Mißachtung der Katastrophe. Die Liebe zum Landhaus hat Sebald nachweislich nicht bei Borges, sondern bei Robert Walser erlernt, dieser wiederum bei Kleist. Es bleibt damit eher der Eindruck zweier Männer, Borges und Sebald, die im Vorbeigehen höflich voreinander den Hut ziehen als der von Freundschaft und Einfluß.

* The works of Jorge Luis Borges, especially "The Garden of Forking Paths" and "Tlön, Uqbar, Orbis Tertius", were a major influence on Sebald. (Tlön appears in The Rings of Saturn.)

Dienstag, 19. Juli 2011

Kanzel der Qual

Aus dem Schattenreich
Kommentar

Der Prediger saß, wie es seine unabänderliche Gewohnheit war, in seinem Studierzimmer, das auf ein finsteres Eck des Gartens hinausging und dachte sich seine am nächsten Sonntag zu haltende Predigt aus. Keine dieser Predigten hat er je niedergeschrieben, vielmehr erarbeitete er sie nur in seinem Kopf, indem er sich selber damit peinigte, wenigstens vier Tage lang. Völlig niedergeschlagen kam er jeweils am Abend aus seiner Kammer hervor, nur um am folgenden Morgen wieder in ihr zu verschwinden. Wenn man in das Hauptschiff der, gemessen an der Zahl der Bewohner, unverhältnismäßig großen Dorfkirche trat, bemerkte man an einer Säule, fast angrenzend an die Bänke des Altarchors, eine kleine Nebenkanzel, ganz einfach, aus kahlem, bleichem Stein. Sie war so klein, daß sie aus der Ferne wie eine noch leere Nische erschien, die für die Aufnahme einer Heiligenstatue bestimmt war. Der Prediger konnte gewiß keinen vollen Schritt von der Brüstung zurücktreten. Außerdem begann die steinerne Einwölbung der Kanzel ungewöhnlich tief und stieg, zwar ohne jeden Schmuck, aber derartig geschweift in die Höhe, daß ein mittelgroßer Mann dort nicht aufrecht stehen konnte, sondern sich dauernd über die Brüstung vorbeugen mußte. Das Ganze war wie zur Qual des Predigers bestimmt, es war unverständlich, wozu man diese Kanzel benötigte, da man doch die andere, große und so kunstvoll geschmückte zur Verfügung hatte. Unfehlbar aber wählte der Prediger, wenn er am Sonntag vor die im Gotteshaus versammelte Gemeinde hintrat, diese kleine Kanzel, so wie man vielleicht ein reißendes Tier in einem besonders engen Käfig auf den alles entscheidenden Kampf vorbereitet. Oft eine Stunde führte er den Sündern mit einer tatsächlich erschütternder Wortgewalt das allen bevorstehende Strafgericht vor Augen, die Farben des Fegefeuers und die Qualen der Verdammnis sowie, in den wundervollsten Stern- und Himmelsbildern, das Eingehen der Gerechten in die ewige Seligkeit. Immer gelang es ihm, so als erfände er noch die entsetzlichsten Dinge aus dem Stegreif heraus, die Herzen seiner Zuhörerschaft mit einem solchen Gefühl der Zerknirschung zu erfüllen, das nicht wenige von ihnen am Ende des Gottesdienstes mit einem kalkweißen Gesicht nach Hause gingen. Der Prediger hingegen war den restlichen Sonntag in verhältnismäßig aufgeräumter Stimmung.

Montag, 18. Juli 2011

Kommentar Mesnerin

In den Schwindel.Gefühlen tadelt Selysses Kafka milde für dessen geringes Interesse an den italienischen Sehenswürdigkeiten und Kulturschätzen. Wie es schön ist und wie man es bei uns unterschätzt, habe er ausgerufen, sich über Einzelheiten aber ausgeschwiegen, man wisse nicht, was er in Wirklichkeit gesehen hat. Hier nun aber können wir ihn in Ruhe bei der Besichtigung eines Doms beobachten. Es gibt allerdings Schwierigkeiten mit den Lichtverhältnissen. Schon in den Häusern am Domplatz sind fast alle Fenstervorhänge herabgelassen. Mit stärkstem Licht kann man die Welt auflösen, hat er selbst an anderer Stelle geäußert, vor schwachen Augen aber wird sie schamhaft und zerschmettert den, der sie anzuschauen wagt. So dramatisch geht es nicht zu im Dom, jedenfalls nicht, solange wir anwesend sind und zuschauen. Es ist nur so, daß die schwachen Lichtquellen einerseits kaum etwas zu erkennen geben und andererseits vor dem wenigen, das sichtbar wird, zum Blinzeln zwingen. Eine von Selysses bestellte alte Mesnerin sorgt auf die denkbare einfachste Art für klare Verhältnisse, indem sie einen in ihrem Verschlag verborgenen Lichtschalter betätigt. Was da aber ins Licht gerückt wird, ist von dunkler Art. Seit Jahrhunderten schweben die Engel in lautloser Klage über dem unendlichen Unglück der Welt, und doch sind ihre weißen Flügel mit den wenigen hellgrünen Spuren der Veroneser Erde das weitaus Wunderbarste von allem, was wir uns jemals haben ausdenken können.

Eine alte Mesnerin

Sonntag, 17. Juli 2011

Eine alte Mesnerin

Aus dem Schattenreich
Kommentar

Der Domplatz war ganz leer, er erinnerte sich, daß es ihm schon als kleinem Kind, auf Reisen mitgenommen von den Eltern, aufgefallen war, daß in den Häusern dieses engen Platzes fast alle Fenstervorhänge herabgelassen waren. Bei dem heutigen Wetter war es allerdings verständlicher als sonst. Auch im Dom, den er durch einen Seiteneingang betreten hatte, schien es leer zu sein. Auch war es so dunkel, daß er, als er aufblickte, in dem nahen Seitenschiff kaum eine Einzelheit unterscheiden konnte. In der Ferne funkelte auf dem Hauptaltar ein großes Dreieck von Kerzenlichtern, vielleicht waren sie erst jetzt angezündet worden. Als er sich zufällig umdrehte, sah er nicht weit hinter sich eine hohe, starke, an einer Säule befestigte Kerze gleichfalls brennen. So schön das war, zur Beleuchtung der Altarbilder, die meistens in der Finsternis der Seitenaltäre hingen, war das gänzlich unzureichend, ganz zu schweigen von den großen Fresken, es vermehrte vielmehr die Finsternis. Er stieg ein paar Stufen bis zu einer niedrigen Marmorbrüstung und, über sie vorgebeugt, versuchte er das Altarbild zu betrachten. Störend schwebte das ewige Licht davor. Das erste, was er sah und zum Teil erriet, war ein großer, gepanzerter Ritter, der am äußersten Rande des Bildes dargestellt war. Er stützte sich auf sein Schwert, das er in den kahlen Boden vor sich - nur einige Grashalme kamen hie und da hervor - gestoßen hatte. Er schien aufmerksam einen Vorgang zu beobachten, der sich vor ihm abspielte. Es war erstaunlich, daß er so stehenblieb und sich nicht näherte. Vielleicht war er dazu bestimmt, Wache zu stehen. Er hatte schon lange keine Bilder gesehen und betrachtete den Ritter längere Zeit, obwohl er immerfort mit den Augen zwinkern mußte. In einem Bogen war, wie er jetzt sah, eine mit brauner Farbe schlecht gestrichene und mit einer Türe versehene Bretterwand eingebaut, hinter der sich der Aufenthaltsort, wo nicht gar die Wohnung der Mesnerin befand. Jedenfalls ist die kummervolle und von langen Jahren des Schweigens und der Einsamkeit fast schon vergangene Frau, nachdem sie kurz nach vier Uhr das schwere eisenbeschlagene aufgesperrt hatte und einem Schatten gleich durch daß Kirchenschiff herabgewankt war, wortlos in diesem Verschlag verschwunden, wie sich zeigte mit der Absicht, zu allererst einen Lichtschalter zu betätigen. In dem nun gleichmäßig ausgeleuchteten Kirchenraum konnte er endlich die vom Gesims bis zum Bodensaum in vier Reihen sich hinziehenden Wandbildern betrachten. Am meisten erstaunte ihn die lautlose Klage, die seit nahezu siebenhundert Jahren von den über dem unendlichen Unglück schwebenden Engeln erhoben wird. Wie ein Dröhnen war diese Klage zu hören in der Stille des Raums. Die Engel selbst aber hatten die Brauen im Schmerz so sehr zusammengezogen, daß man hätte meinen können, sie hätten die Augen verbunden. Und sind nicht, dachte ich mir, die weißen Flügel mit den wenigen hellgrünen Spuren der Veroneser Erde das weitaus Wunderbarste von allem, was wir uns jemals haben ausdenken können?

Samstag, 16. Juli 2011

Kommentar Vom Licht

Kein natürlicher Gegensatz ist stärker symbolisch genutzt worden als der von Licht und Dunkelheit. Selysses erlebt ein beeindruckendes Fiat Lux beim morgendlichen Anflug auf die Mittelmeerinsel Korsika. Sogleich ist bei dem grandiosen Anblick in ihm der alte Wunsch erweckt, alles aufgeben zu können außer dem Schauen, ein Schauen, so möchte man ergänzen, das sich ihm scheinbar aufwandlos in Worte verwandelt. Kafka gibt zu bedenken, mit stärkstem Licht könne man die Welt auflösen, geht dann aber nur auf die Gegenseite ein, auf die Sehschwachen, deren Augen das Licht kaum aufnehmen. Bei ihrem Blick würde die Welt schamhaft, bereit sie zu zerschmettern, ein Gedanke, den man nur mit einiger Mühe nachdenken kann. Die mit dem stärksten Licht sind womöglich die mit dem analytischen Feuerblick, die die Welt auflösen in ihre Bestandteile, bereit, sie blutig zu zerstören, wie es Selysses angesichts von Rembrandts Prosekturbild durch den Sinn gegangen ist. Das reine, lichtvolle Schauen ist unser Traum, den wir vielleicht die längste Zeit träumen können im Widerschein der Prosa Sebalds.Vom Licht

Donnerstag, 14. Juli 2011

Vom Licht

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Bald tauchte die Insel vor uns auf, ein düsteres, noch von Nachtschatten umfangenes Gebirge. Wenig später aber waren wir, in der Höhe, in der wir uns befanden, umgeben von strahlendem Morgenlicht, und auch drunten auf dem Wasser wichen westwärts die Schatten zurück. Der Pegel des Lichts senkte sich nun auf die Steinwüsten oberhalb der Baumgrenze nieder. Es war, als würde auf der Morgenseite der Berge eine graue Stoffbahn eingeholt und Zoll für Zoll ein auf der glatten Fläche des Meers aufgebahrter Riesenkörper enthüllt oder doch die Überreste eines Felsenskeletts, eine Wirbelsäule, ein Schädeldach, eine Kinnlade, Schulterblätter und Rippen, bizarre Formen aus Quarz- und Feldspatgranit, die aufragten aus dem seit der Zeit des Tertiärs andauernd von ihnen abgefallenen Schutt. Mit stärkstem Licht kann man die Welt auflösen, ging mir durch den Sinn. Vor schwachen Augen wird sie fest, vor noch schwächeren bekommt sie Fäuste, vor noch schwächeren wird sie schamhaft und zerschmettert den, der sie anzuschauen wagt.

Mittwoch, 13. Juli 2011

Kommentar Sieben Stücke

Selysses wurde der reisende und wandernde Icherzähler in Sebalds Büchern genannt, zeitweise greift der Name auch über auf geistesverwandte Figuren im Werk und insbesondere auf Austerlitz. Hier sind die beiden über das Merkmal des Rucksacks vereint, als dritter Vertreter der Schultertasche gesellt sich Wittgenstein hinzu. Kafka greift die durch den Rucksack symbolisierte besonders anspruchlose Form des Reisens auf und erläutert den geringen Umfang seines Besitzes, sechs bis sieben Stück nur, die wohl in einem solchen Sack Platz finden würden. Daß er die Stücke tatsächlich auf der Schulter bei sich trägt, ist nicht gesagt. Während uns jeder der Elf Söhne haargenau beschrieben wird, erfahren wir über die Natur der sechs bis sieben Stücke gar nichts. Besondere Aufmerksamkeit erfährt das siebte Stück, bei dem die Besitzverhältnisse unklar sind. Vier Freunde sind schon beisammen, die Silhouette eines fünften zieht am Horizont vorüber. Vielleicht geht es gar nicht um die Stücke und wir hören vielmehr ein Trauerlied für den verlorenen Freund. Wenn die Stücke keinen großen Wert haben, so müssen wir uns fragen, welcher Wert gering ist, der Wert an sich, der Tauschwert also, oder der Seelenwert für den Eigentümer. Der Tauschwert mag niedrig, der Seelenwert aber hoch sein oder auch umgekehrt, oder beide Werte sind gering. Vielleicht sind Tausch- und Seelenwert der sechs Stücke niedrig, der Seelenwert des siebten Stückes aber hoch.

Sechs bis sieben Stücke

Dienstag, 12. Juli 2011

Sechs bis sieben Stücke

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Selysses konnte also, nachdem er ein paar weitere Worte mit dem Zöllner über die elende Jahreszeit gewechselt hatte, bloß mit dem kleinen ledernen Rucksack über der Schulter durch die ans Niemandsland angrenzenden und den Tobel hinabwandern und schließlich nach W. hinausgehen. Ich hatte mir schon länger Gedanken gemacht über die Ähnlichkeit seiner Person mit Ludwig Wittgenstein, über den entsetzten Ausdruck, den sie beide trugen in ihrem Gesicht. Ich glaube, es war vor allem der Rucksack, von dem er behauptete, daß er das einzig wahrhaft Zuverlässige in seinem Leben sei, der mich auf die eher abwegige Idee einer gewissen körperlichen Verwandtschaft zwischen ihm und dem 1951 in Cambridge an einem Krebsleiden gestorbenen Philosophen brachte. Auch Wittgenstein hatte ja ständig einen Rucksack dabeigehabt, in Puchweg und Otterthal geradeso wie wenn er nach Norwegen fuhr oder nach Irland oder nach Kasachstan. Auf den Rucksack angesprochen, antwortete Selysses lachend, manchmal suche er seinen Besitz zusammen und überprüfe, ob er ihn im Rucksack unterbringen könne, der Weisheitslehre des Omnia mea mecum zuliebe. Es sei sehr wenig, was er besitze, aber es sind genau umrissene, feste, jeden sofort überzeugende Dinge. Es sind sechs bis sieben Stück, er sage sechs bis sieben, weil sechs davon zweifellos nur ihm gehören, das siebente aber auch einem Freund gehört hat, der allerdings vor vielen Jahren die Stadt verlassen hat und seitdem verschollen ist. So kann man also sagen, daß auch dieses siebente Stück ihm gehört. Trotzdem diese Stücke recht eigenartig sind, haben sie keinen großen Wert.

Montag, 11. Juli 2011

Kommentar Hinunter

Man muß sich vor Augen halten, daß Selysses in dieser kurzen Erzählung auf dem Weg der Rückkehr, di ritorno in patria ist, auf dem sogenannten Sebaldweg von Oberjoch nach Wertach. Beim Gehen malt er die Landschaft mit Worten, und auch seine Empfindungen sind in die gemalte Außenwelt verlegt. Der Weg führt im oberen Teil steil bergab, hinunter ins Tal. Ab einer gewissen Wegstation übernimmt Kafka den Wanderstab, und die Art der Betrachtung ändert sich grundlegend. Die Landschaft ist so gut wie verschwunden, der Weg hinab ist ein Abstieg in das eigene Innere. Tiefer als er schon gelangt ist, will der Dichter nicht hinab. Wir können nur hoffen, daß es dabei nicht bleibt. Zwar ist verständlich, daß es Selysses, neben anderen Empfindungen, auch graust vor dem Abstieg in die eigene Vergangenheit, um nichts in der Welt aber möchten wir auf seinen Bericht verzichten, und alles in allem ist es für ihn weniger ein Abstieg in die Hölle als eine Rückkehr ins Paradies, jedenfalls solange er die Hand des Großvaters in der seinen spürt.
Hinunter

Sonntag, 10. Juli 2011

Kommentar Mauer


Jeder erinnert sich, daß die Wege des Dorfes oder des Viertels, in dem er aufwuchs, bis an das Ende der Welt führten und die Aussicht, sie zu durchmessen zu müssen, die Glieder lähmte, es sei denn, der Weg war Teil eines Spiels. Niemanden wird es daher wundern, wenn einem kleinen Jungen bei seinem Weg durch das Dorf die Länge der Friedhofsmauer sich in kaum erträglicher Öde erstreckt, die er nur geborgen in einem Zauberspiel überwinden kann, die Mauer wird zur Zauberwand, Rosinentrauben an Rosinentrauben, dahinter womöglich ein Zaubergarten. Am Ende der Mauer erscheint als Retter der heilige Georg, ganz seinem Vernichtungswerk hingegeben. Wenn das Verhältnis des jungen Selysses zu Georgius Miles, dem Mann mit eisernem Rumpf und erzen geründeter Brust, angesichts dieser heimischen Verkörperung noch zweifelnd und zwiespältig war, so ist er später, insbesondere bei Grünewald und Pisanello, auf Bildwerke gestoßen, bei denen einer frohgemuten Identifikation mit dem Namenspatron nichts im Wege stand.
 Entlang der Mauer

Samstag, 9. Juli 2011

Entlang der Mauer

Aus dem Schattenreich
Kommentar

Unter einem matten Weiß regungslos verharrten die Häuser und Höfe, lagen die Weiden und die unbefahrenen Straßen und Wege. Über allem der graue Himmel hing so weit und so schwer herunter wie nur vor einem ganz großen Schneefall. Mein Weg ging am Lehrerhaus und am Kaplanhaus vorbei und die hohe Friedhofsmauer entlang. Schaue ich heute auf die Mauer, so beeindruckt sie mich wenig. Damals aber schien sie mir eine Länge und ein Ausmaß zu haben, das mich verzagen ließ. Um die Strecke irgendwie zu bewältigen mußte ich mir immerfort neue, Spiele ausdenken, die ich mit mir selbst im Kopf spielen konnte. An diesem Tag sagte ich mir, es ist keine öde Mauer, es ist zur Mauer zusammengepreßtes süßestes Leben, Rosinentrauben an Rosinentrauben. Ich glaube es nicht, antwortete ich mir selbst. Koste davon. Ich kann vor Nichtglauben die Hand nicht heben. Ich werde Dir die Traube zum Mund reichen. Ich kann sie vor Nichtglauben nicht schmecken. Dann versinke. Sagte ich nicht, daß man vor der Öde dieser Mauer versinken muß? – Damit war ich schon am Ende der Friedhofsmauer angelangt, dort wo der heilige Georg mit seinem Spieß ohne Unterlaß dem zu seinen Füßen liegenden greifartigen Vogeltier den Rachen durchbohrte. Wenn ich auch keineswegs die Augen verschloß vor der Grauenhaftigkeit dieses endlosen blutigen Gechäfts, so fühlte ich mich doch jedesmal von dem furchtlosen Ritter wie befreit und erlöst. Dann mußte ich den Kirchhofberg hinunter und durch die obere Gasse.

Freitag, 8. Juli 2011

Kommentar Hundeleben

Das Schicksal des sanften Neufundländers ähnelt dem der Gadarener Schweine. Beim Hund wie bei den Schweinen läuft es darauf hinaus, daß wir unseren kranken Menschenverstand immer wieder auslassen müssen an einer anderen, von uns für niedriger gehaltenen und für nichts als zerstörenswert erachteten Art. Wer das sieht, dem dreht sich die Welt um. Er kann dem trauernden Blick des Tieres nicht standhalten und spürt die Gerechtigkeit seiner ausdrucksvollen Zähne. Gerechtigkeit hin, Gerechtigkeit her, er möchte entkommen, sich hinwegschwingen, aber es gelingt nicht. Einmal dem dunklen Läuten der Gerechtigkeit gefolgt – es ist niemals gutzumachen.
Hundeleben

Mittwoch, 6. Juli 2011

Hinunter

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Der Tobel war erfüllt von einer Dunkelheit, wie ich sie mitten am Tag nicht für möglich gehalten hätte. Astlose, gut siebzig- bis achtzigjährige Fichten standen die Abhänge hinauf. Immer wieder, wenn die Luft dort droben etwas in Bewegung geriet, regnete das Tropfwasser in Güssen herab. Keinen Laut gab es in dem Tobel als den des Wassers auf seinem Grund, keinen Vogelschrei, nichts. In zunehmenden Maße verspürte ich ein Gefühl der Beklemmung in meiner Brust, und es war mir auch, als ob es, je weiter ich hinunterkam, desto kälter und finsterer wurde. Eine Stimme sagte, daß ich noch weiter hinunter gehen soll, aber ich war doch schon so sehr tief, es verschlug mir schon den Atem, auch hier war es fast schon zu tief, aber, wenn es so sein muß, will ich hier bleiben. Was für ein Raum! Es ist wahrscheinlich schon der tiefste Ort. Aber ich will hier bleiben, nur zum weiteren Hinabsteigen zwinge mich nicht.

Dienstag, 5. Juli 2011

Hundeleben

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Ein Hund warf sich an das grüngestrichenes eisernes Gartentor, völlig außer sich, als sei er um seinen Verstand gekommen. Es war ein großer schwarzer Neufundländer, dessen angeborene Sanftmut durch Mißhandlungen, lange Einsamkeit oder das glasklare Wetter zerstört worden war. In immer neuen Anläufen rannte das Tier gegen das Gitter. Nur manchmal hielt es inne und richtete seine Augen auf uns, die wir stehengeblieben waren. Das Tier hatte ein uncharakteristisches, fast menschlich flaches, ovales Gesicht, aber nur seine Zähne hatten Ausdruckskraft, ob es sie nun verbarg oder fletschte. Ich war wie von Zähnen gehalten und konnte mich ihnen nicht entwinden; ich wußte nicht, wodurch sie mich hielten, denn sie waren nicht zusammengebissen; ich sah sie auch nicht in den zwei Reihen des Gebisses, sondern nur hier einige, dort einige. Ich wollte mich an ihnen festhalten und mich über sie hinwegschwingen, aber es gelang mir nicht.

Montag, 4. Juli 2011

Kommentar Flora

In immer neuen Versuchen entvölkert Sebald die Welt, dieses Mal geht er besonders weit, alle organische Substanz ist verschwunden und die Steine zerstrahlen, nicht weit ist der Tag, an dem alles begann und die Erde wüst und leer war. Kafka seinerseits bevölkert die Welt gern mit Fabelwesen, mit singenden Mäusen, sprechenden Affen und wundersamen Odradeks. Eins dieser Tiere hat sich nun in Sebalds Ödnis verirrt und schwingt obendrein in dieser Leere einen in seiner Üppigkeit jeder Beschreibung spottenden Schweif. Auch dieses Tier zeigt offenbare Verwandtschaft mit dem Menschen, sein Gesicht ist flach und fast menschlich. Seltsamerweise bleibt das Gesicht aber ohne Eindruck, nur die Zähne haben Ausdruckskraft. Das Tier will sich nicht zum Menschen, seinem Antlitz aufschwingen, sondern diesen herabziehen zu seinen Zähnen, eine Umkehrung herbeiführen, den Menschen dressieren. Eine Ödnis ist nur dann eine Ödnis, solange ein Mensch sie sieht und als solche bezeichnet, und zugleich ist sie noch keine vollständige Ödnis, solange ein Mensch darinsteht und sie sieht. Mit der Dressur des letzten Menschen wird begonnen, das Werk der Entvölkerung abzuschließen. So könnte man es sehen. Das Tier mit dem wüsten Schweif allein auf weißem Schotter, kein Strauch, kein Krüppelholz, kein Büschelchen Gras, der Mensch wegdressiert, wir können es uns nicht vorstellen.
Flora und Fauna

Samstag, 2. Juli 2011

Flora und Fauna

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Dann bin ich durch eine bergige Gegend gegangen. Lang zog sich die mit feinem weißen Schotter bedeckte Straße in endlosen Kehren durch die Wälder hinan und führte zuletzt durch einen tiefen Einschnitt auf die andere Seite des Gebirges hinüber. Alles was ich von dort oben aus sah, war einerlei kalkfarben, ein helles gleißendes Grau, in dem Myriaden von Quarzsplittern schimmerten. Dieses machte mir seltsamerweise den Eindruck, als zerstrahle der Stein. Zu meiner Linken ging es in eine wahrhaft schwindelerregende Tiefe hinab. Nirgends war ein Baum zu sehen, kein Strauch, kein Krüppelholz, kein Büschelchen Gras, sondern es war alles nur Stein. Die Schatten der Wolken liefen über die jähen Abhänge und durch die Schluchten. Nichts rührte sich sonst. Es herrschte die äußerste Stille, denn auch die letzten Spuren des Pflanzenlebens, das letzte raschelnde Blatt oder Rindenfetzchen waren längst verweht. Nichts konnte mich ahnen lassen, was ich plötzlich zu Gesicht bekam. Es war ein Tier mit einem unpassend, ja angesichts der kargen Umgebung geradezu extravagant großen und üppigen Schweif, einem viele Meter langen fuchsartigen Schweif. Gern hätte ich den Schweif einmal in die Hand bekommen, aber es war unmöglich, immer fort ist das Tier in Bewegung gewesen, immerfort wurde der Schweif herumgeworfen. Das Tier war kängeruhartig, aber uncharakteristisch im fast menschlich flachen, kleinen, ovalen Gesicht, nur seine Zähne hatten Ausdruckskraft, ob es sie nun verbarg oder fletschte. Fast hatte ich das Gefühl, daß mich das Tier dressieren wollte. Was hätte es sonst für einen Zweck haben können, mir den Schwanz zu entziehen, wenn ich nach ihm griff, dann wieder ruhig zu warten, bis es mich wieder verlockte und dann von neuem weiterzuspringen.

Freitag, 1. Juli 2011

Kommentar Drei Kreise

Cosmo Solomon macht einen verwirrten Eindruck, seine Darlegung der drei Kreise wirkt leicht verworren, sicher aber ist sie nicht ohne Sinn, wenn der vielleicht auch diskursiv nicht restlos zu entschlüsseln ist. Die reichlich abstrakten Ausführungen werden belebt durch die zentral eingestellten Figuren des Diogenes im mittleren und des Großen Alexander auf dem äußeren Kreis. Cosmo, der ursprünglich als Lebemann und Polospieler durchaus die strahlenden Züge Alexanders hatte, sieht sich jetzt als Diogenes, aber der ist gründlich verändert. Wann hätten wir gehört, daß er Alexander mit verzweifelter Stimme bittet, die Sonne freizugeben, bislang war es eine harsche Aufforderung bei furchtloser Leugnung oder anmaßendem Übersehen der Machtverhältnisse. Wie bei Don Quijote, den Sirenen und manchen anderen, hat Kafka auch zu Diogenes seine sehr eigene Sicht. Auf dem mittleren Kreis wohnen die denkenden Menschen, die in Tuchfühlung stehen zum Kern der Wahrheit. Die Wahrheit aber hat Cosmo bei seinem Wechsel vom Kreis des Alexander auf den des Diogenes nicht gefunden, zum Schaden auch des Diogenes, der sie im gleichen Augenblick verliert. Sein Faß, Symbol der von ihm vertretenen Lebenswahrheit, ist von Gespenstern voll. In der Hoffnung, wieder klar zu sehen, verlangt er panisch nach dem Sonnenlicht.
Drei Kreise