Montag, 19. Januar 2015

Fenster zum Hof

Bedeutungslos

Hitchcocks Filme, so Roberto Calasso, oder auch die von Ophüls oder Lubitsch etwa, würden immer schöner, je öfter man sie sieht. Wer einen Film dieser Regisseure betrete, setze seinen Fuß in einen selbstgenügsamen Raum, der alles in sich beschließe. Das Fenster zum Hof ist insofern idealtypisch, als es den geschlossenen Raum zusätzlich thematisiert. Nach einem Unfall ist der Photograph James Steward für längere Zeit an das Haus und den Rollstuhl gebunden, sein Zeitvertreib besteht darin, das gegenüberliegende Haus und, durch die Fenster, dessen Bewohner zu beobachten, wenn es sein muß auch durch das Teleobjektiv seiner Kamera. Der Freiluftmensch James Steward ist unfallbedingt für eine Weile eingesperrt, Cary Grant, ein weltgewandtes Muttersöhnchen in fortgeschrittenem Alter, sieht sich in Der unsichtbare Dritte wider Willen hinausgestoßen in die offene Weite. Niemand, der den Film auch nur einmal gesehen hat, wird die Szene an der Bushaltestelle in der leeren Prärie vergessen und den anschließenden Spurt ins Maisfeld auf der Flucht vor dem angreifenden Schädlingsbekämpfungsstuka.

Als Kind in Prag beobachtet Austerlitz durch das Fenster den Schneider Moravec, der sein schweres, mit Kohlenglut gefülltes Bügeleisen durch die Luft schwenkt und am Ende des Tages dann den mit Filz überzogenen Arbeitstisch abräumt, ein doppeltes Zeitungsblatt auf ihm ausbreitete und auf diesem Zeitungsblatt das Nachtessen, auf das er gewiß die längste Zeit sich schon gefreut hatte: anders als im Fenster zum Hof eine ganz und gar harmlose Form des Voyeurismus. Alles in allem aber ist Der unsichtbare Dritte Sebald und seinem Erzähler, der den offenem Himmel der Zimmerdecke vorzieht, gemäßer.

Mir gegenüber saßen eine Franziskanerin von vielleicht dreißig Jahren und ein junges Mädchen mit einer aus vielen farbigen Flecken geschneiderten Jacke um die Schultern. Das Mädchen war in Brescia zugestiegen, die Franziskanerin hatte in Desenzano bereits im Zug gesessen. Die Schwester las ihr Brevier, das Mädchen, nicht minder versenkt, einen Bilderroman. Von vollendeter Schönheit waren sie beide, dachte ich mir, abwesend und anwesend zugleich, und ich bewunderte den tiefen Ernst, mit dem sie jeweils die Blätter umwendeten. Einmal blätterte die Franziskanerschwester um, dann das junge Mädchen und dann wieder die Franziskanerschwester. So ging es die ganze Zeit fort, auch nur ein einziges Mal mit der einen oder der anderen einen Blick zu wechseln. Ich versuchte mich also selber zu üben in einer ähnlichen Bescheidenheit und holte den Beredten Italiener heraus, ein praktisches Hülfsbuch der italienischen Umgangssprache.

Drei Formen des Lesens: Die Franziskanerin ist kaum versucht, das Brevier durchzulesen, sie vertieft sich in einzelne Seiten. Das junge Mädchen ist bedacht auf ein zügiges, bildgestütztes Verfolgen der Romanhandlung, im Grunde ist unwahrscheinlich, daß das Umblättern tatsächlich immer im Wechsel erfolgt. Selysses blättert gedankenverloren im Hülfsbuch, und dann steigen aus der Gedankenverlorenheit doch Gedanken auf. Seine eigene Methode des Lesens bleibt naturgemäß unkommentiert, das Lesen der beiden jungen Frauen betrachtet er mit der gleichen Sympathie. Was für den Film gilt, gilt für das Buch schon lange, im Grunde lohnt es sich nur Bücher zu lesen, die mit jeder Lektüre schöner werden. Dafür werden verschiedene Formen des Lesens benötigt. Man ist geneigt, das Mädchen mit dem Photoroman auf einer unteren Stufe des Lesens anzusiedeln und stößt auf das Bekenntnis des schon in die Jahre gekommenen Georges Dumézil, nichts wünsche er sich so sehr, als die Ilias noch einmal vom Anfang bis zum Ende zu lesen, ohne Forderungen an sich zu stellen, ohne an etwas anderes zu denken als an die erzählte Geschichte, ohne Kommentare, ohne Wörterbücher, mit anderen Worten, ohne zusätzliche Bedeutungen. L'arte non si lascia disturbare dai suoi significati, zieht Calasso das Fazit, die Kunst läßt sich von ihren Bedeutungen nicht belästigen, macht sich nicht gemein mit ihnen.
Die Literatur ist an die Sprache und damit in besonderer Weise an die Bedeutungen gebunden, sie ist, wenn man so will, bedeutungsvoll und kann ihr Heil nicht darin finden, unbedeutend zu sein. Sebald erläutert den Umgang der Wortkunst mit der Bedeutungslast am Beispiel Thomas Brownes. Er führe ständig seine ganze Gelehrsamkeit mit sich, einen ungeheuren Zitatenschatz. Zwar gelinge es ihm, unter anderem wegen dieser enormen Belastung nicht immer, von der Erde abzuheben, aber wenn er, mitsamt seiner Fracht, auf den Kreisen seiner Prosa höher und höher getragen wird wie ein Segler auf den warmen Strömungen der Luft, dann ergreift selbst den heutigen Leser noch ein Gefühl der Levitation. Naturgemäß ist Browne ein extremer Fall, am anderen Skalenende traut sich Modiano, ähnlich wie Hitchcock in seinen Filmen, so nah an das Unbedeutende, daß das Schweben sich beinah von selbst ergibt. Dem Leser stehen alle Möglichkeiten offen, er kann sich, wie die Franziskanerin, in die Bedeutungen vertiefen oder, wie das Mädchen mit der bunten Jacke, von den Bildern dahintragen lassen, oder auch nur gedankenverloren blättern und auf die Stimmen seines Inneren hören. Mit einem Sprachkunstwerk hat er es immer dann zu tun, wenn er auf Bedeutungen stößt, die sich nicht in Aussagen ummünzen lassen. Er begegnet der Metaphysik der Kunst.

Freitag, 16. Januar 2015

Bregenz

Kultur am Wasser

Noch heute, so Selysses, reue es ihn, die Einladung zur Teilnahme am Rahmenprogramm der Bregenzer Festspiele angenommen zu haben, in deren Zentrum eine Aufführung der Oper Nabucco stand. Unschlüssig ist er dann mit seiner Freikarte in der Hand auf dem Vorplatz herumgestanden, bis die letzten Besucher in den Eingängen verschwunden waren, unschlüssig, weil es ihm mit jedem vergehenden Jahr unmöglicher wurde, sich unter ein Publikum zu mischen; unschlüssig, weil er den Chor der verkleideten KZ-Häftlinge nicht sehen wollte, und unschlüssig, weil er hinter dem Pfänder ein großes Gewitter heraufziehen sah. Inzwischen wissen wir, daß es noch weitere gute Gründe gab, der Aufführung nicht beizuwohnen. Die ins Wasser gebaute Bühnenanlage ist imposant, die Toilettenanlagen sind großzügig und sauber, zugleich aber ein Treffpunkt dunkler Gestalten. Ob nun Nabucco oder Tosca und auch wenn die Inszenierung vielleicht nicht von so öden Einfällen wie dem der Choristen in Zebraanzüge geplagt ist, das Kunstverständnis bleibt niedrig. Dem Publikum, die Bilder zeigen es unmiverständlich, geht es vor allem darum, mit einem Glas Sekt in der Hand seine Garderobe zur Schau zu tragen, gesehen und gesehen zu werden. Darunter gemischt haben sich in nicht geringer Zahl Verbrecher von internationalem Format, die, warum auch immer hier, an diesem Ort der Kultur, untereinander ihre Pläne abstimmen wollen und ihre Attentate planen auf unsere Lebensweise und unsere Werte. Niemand mag sich ausdenken, was alles hätte geschehen können, wenn Daniel Craig alias James Bond nicht beherzt durchgegriffen und, dabei geschickt die Mittel nutzend, die uns die moderne Technik an die Hand gibt, den Standort von dem Teil des Übels zumindest, für das er die Zuständigkeit beanspruchen konnte, befreit hätte.

Dienstag, 13. Januar 2015

Engel auf Erden

Restverzauberung

Im Alltag können wir jederzeit auf Engel treffen. Langsam wandelten die Fluggäste durch die Hallen oder schwebten, still auf den Rolltreppen stehend, ihren verschiedenen Bestimmungsorten in den Höhen, wohl die Erretteten, und Untergründen, wohl die Verdammten, entgegen. Ab und zu wurde von den offenbar körperlosen, engelsgleich ihre Botschaften intonierenden Stimmen der Ansagerinnen jemand aufgerufen. Über kurz oder lang würde die Reihe an jedem der hier Versammelten sein. Auf einmal drang denn auch von weit her an das Ohr des für eine Zeitlang eingenickten Reisenden sein Name von sehr weit her an sein Ohr und gleich darauf die Mahnung: immediate boarding at Gate C4 please. Offenbar wird er noch einmal in das Purgatorium des Daseins entlassen. Die verborgenen Engel nehmen eine Aufgabe wahr nicht unähnlich derjenigen, der sich Dante verdingt hatte, als er die Divina Commedia niederschrieb.

Die Flughafenengel sorgen für eine gleichzeitig beängstigende und behütende Weltenordnung, die am Rande auch Selysses zugute kommt, das Engelspaar Katy und Lizzie, so hießen die Wesen, die ihn umschwebten, war ganz allein für ihn entsandt. Droben am Himmelsgewölbe waren die Sterne, winzige Goldpunkte, in die Öde gestreut. An sein Ohr drangen durch die dröhnende Leere die Stimmen der beiden Schwestern, die ihm ab und zu die Lippen netzten mit einem kleinen Schwamm. Selten nur war er so glücklich gewesen wie unter ihrer Obhut in dieser Nacht. Von den Alltäglichkeiten, über die sie miteinander redeten, verstand er kein Wort, nur ein vollendetes Klingen und Flöten, halb Engelsmusik, halb Sirenenmusik. Von einer Zauberinsel auch hört er, Malta genannt, wo Verkehr und Gegenverkehr die gleiche Spur benutzen, die im Schatten liegende nämlich, und wo nach dem unergründlichen Ratschluß des Herrn die Bewohner am Abend gleichwohl unversehrt ihre Wohnungen erreichen.

Oft, vielleicht sogar in der Mehrzahl, bleiben die Engel zunächst unerkannt, vor dem geübten Blick aber können sie sich nicht lange verbergen. Selysses gegenüber saßen eine Franziskanerin von vielleicht dreißig Jahren und ein junges Mädchen mit einer aus vielen farbigen Flecken geschneiderten Jacke um die Schultern. Das Mädchen war in Brescia zugestiegen, die Franziskanerin hatte in Desenzano bereits im Zug gesessen. Die Schwester las ihr Brevier, das Mädchen, nicht minder versenkt, einen Bilderroman. Von vollendeter Schönheit waren sie beide, dachte ich mir und ich bewunderte den tiefen Ernst, mit dem sie jeweils die Blätter umwendeten. Einmal blätterte die Franziskanerschwester um, dann das junge Mädchen und dann wieder die Franziskanerschwester. So ging es die ganze Zeit fort. Der Habit der Franziskanerin mag ein unzuverlässiges Indiz sein, die vollendete Schönheit aber, wie könnte man sie einem menschlichen Wesen zusprechen, verrät sie.

Wie verhalten sich die Engel des Alltags zu den wahren Engeln aus der Zeit, als die Welt noch verzaubert war, Giottos Engeln etwa, deren lautlose Klage seit nahezu siebenhundert Jahren über unserem unendlichen Unglück erhoben wird. Sie stehen ihnen sicher näher als etwa den sogenannten gelben Engeln eines inzwischen in Verruf gekommenen Automobilclubs. Gelbe und andere eingefärbte Engel vollenden die Entzauberung der Welt, während die Engel des Alltags, wie sie der Dichter kennt, eine Restverzauberung bewahren oder wiederbeleben. Die Engel des Alltags erscheinen immer unter betont trivialen Umständen, aber kein triviales Wort oder eins, das in ihrem Munde trivial klingen würde, ist zu hören. Ihre Stimme ist Gesang oder Schweigen. Die Engel des Alltags sind immer weiblich, Weiblichkeit als Restverzauberung, eine Bastion, die im Interesse gleicher Berechtigungen für alle längst hätte geschliffen werden müssen, die der Dichter aber unverdrossen verteidigt hat, auf den Lippen ein Lächeln halb Spott über sich selbst und die Welt und halb Glück des Augenblicks.

Donnerstag, 8. Januar 2015

Romanfigur

Casting

Verschiedene Romane Patrick Modianos hat den gleichen Verlauf: Ein Erzähler schon fortgeschrittenen Alters erinnert sich an Geschehnisse aus der Zeit, als er zwanzig war. Er hatte keine Beziehung mehr zu seinen Eltern, oder jedenfalls keine gelungenen, keine besondere Ausbildung und keinen Beruf. Pas d'études. Pas de parents. Pas de milieu social. Oft hat er zum Broterwerb irgendetwas mit Büchern zu tun, liest einigermaßen wahllos und denkt daran, selbst zu schreiben. Er macht endlose Wege durch Paris oder eine andere Metropole, Berlin, London. Meist hat er keine feste Unterkunft, sondern wohnt die längste Zeit in einem Hotel der untersten Preiskategorie. Wiederholt zieht er auch trotz vorhandener Wohnung in ein Hotel, wo er allerdings angesichts des endlosen Wanderns durch die Straßen der Stadt auch nur selten anzutreffen ist. Er trifft ein junges Mädchen, das ihm wichtig wird. Das Mädchen, die junge Frau hat eine undurchsichtige und offenbar nicht ungefährliche Beziehung zu einem älteren Mann zwielichten Charakters, ein Spieler, ein Spekulant, ein Revolutionär, ein Gangster, kein Chorknabe jedenfalls, wie in Accident nocturne ausdrücklich vermerkt wird. Der Erzähler kommt dem Mädchen näher, am Ende aber ist sie, die in ihrer zwielichten Umgebung immer eine eigenartige Unschuld und Reinheit ausstrahlt, verschwunden. Manchmal glaubt er, zwanzig Jahre später, das junge Mädchen in einer Frau mittleren Alters wiederzuerkennen, die ihm in der Metro gegenübersitzt oder in einer Flughafenhalle an ihm vorübergeht. Kann man sich Selysses als Romanfigur innerhalb dieses Handlungsgerüstes vorstellen?
In Manchester erleben wir einen verheißungsvollen Auftakt. Gracie Irlams Hotel Arosa hat die richtige Kategorie, und das Publikum mit the gentlemen's travelling companions ist hinreichend verrufen, Selysses findet aber keinen Zugang zu dieser Halbwelt. Überhaupt ist Manchester nicht die richtige Stadt. Zwar wandert Selysses, wie es sich gehört, end- und ziellos durch die Straßen, aber er trifft kaum einen Menschen. Keine Rede von geeigneten Cafés, hinter deren beleuchteten Fenstern Jacqueline oder Charlotte im Kreis ihrer Freunde zu sehen ist. Das junge Mädchen aber ist de rigeur für das Buch.

Fahrten aufs Land gehören durchaus zum Erzählprogramm, und so sind wir nicht entmutigt, als Selysses und Clara sich in der Gegend von Hingham auf Wohnungssuche begeben. Die beiden sind aber bereits verheiratet, Modianos Augenblick ist verpaßt. Clara allerdings hat einen unverfälschten Modianoaugenblick, als sie eines Nachmittags kurzerhand einfach ein Haus kauft, sorglos in Fragen der Finanzierung.
Je n'avais vu personne depuis plusieurs semaines. Ceux auxquels j'avais téléphoné n'étaient pas rentrés de vacances: Ich habe in den Tagen mit niemanden ein Wort gewechselt und auch Telephonnummern vergeblich ausprobiert. Die Personen, mit denen ich unter Umständen hätte reden können, waren alle auswärts und auch durch das längste Läutenlassen nicht herbeizubringen. - Fast schon eine Übersetzung, soviel Übereinstimmung läßt hoffen, und dabei bleibt es nicht. Wie Modianos Helden hat Selysses alle Stricke zum bisherigen Leben gekappt, der Umgang mit den Büchern ist ähnlich nonchalant, mal blättert er in Grillparzers Reiseerinnerungen, die er irgendwo aufgegriffen hat, mal im Beredten Italiener, von dem man nicht weiß, wie er in seine Tasche geraten ist, offenbar ist er auch selbst literarisch tätig. Das junge Mädchen mit der bunten Jacke im Zug nach Mailand erfüllt alle Voraussetzungen für die weibliche Hauptrolle, daß er sie am Bahnhof ziehen läßt, entspricht der Regel, nun aber müßte er alles daransetzen, sie in der großen Stadt wiederzufinden. Das unterbleibt. Ohnehin sieht man einen vierzigjähriger Schauspieler in der Rolle eines Zwanzigjährigen, eine Besetzungsmodalität, die in Hollywood durchaus vorkommt, man denke an den jungen Rechtsanwalt James Steward in Liberty Valence, der den größten Teil des Films bestreiten muß, bevor er dann endlich wieder, wie bereits in der Eingangsszene, der schon erheblich in die Jahre gekommene Senator Ransom Stoddard sein darf. Einen guten Eindruck hinterläßt das nicht immer.
Vielleicht eignet sich der noch junge Austerlitz, in mancher Beziehung Selysses Doppelgänger, besser. Das nächtliche London durchstreift er allein, in Paris aber lernt er Marie kennen im Rahmen einer Szene, die nahezu ungeschnitten übernommen werden kann. An diesem Tag ist es gewesen, daß Marie, die wie er in der Dokumentensammlung arbeitete, ihm einen Kassiber zuschob, mit dem sie ihn einlud auf einen Kaffee. In dem Zustand, in dem er sich befand, gab er sich keine Rechenschaft über die Ungewöhnlichkeit ihrer Handlungsweise, deutete vielmehr nur mit wortlosem Kopfnicken sein Einverständnis an und ging mit ihr durch das Stiegenhaus und über den inneren Hof auf die Bibliothek hinaus, durch einige der an diesem frischen Morgen von einer angenehmen Luft durchwehten Gassen bis hinüber zum Palais Royal, wo die beiden dann lange unter den Arkaden gesessen sind. Es folgen gemeinsame Spaziergänge durch Paris, ein Ausflug nach Marienbad, alles wie vorgesehen. Wie es die Regeln erfordern, verliert er Marie und begibt sich, weiterhin regelkonform, viele Jahre später auf die Suche nach ihr.

Zusammenfassend läßt sich sagen: Die Teilnahme am Castingverfahren wäre nicht aussichtslos, die Idealbesetzung für ein neues Buch des Nobelpreisträgers aber ist Selysses nicht.

Dienstag, 6. Januar 2015

Sprezzatura

Quelle insolence!


Calasso bringt den in Sebalds Werk gut vertretenen Tiepolo mit dem Begriff der Sprezzatura in Verbindung, abgeleitet von sprezzo, Verachtung, gegenüber dem Herkunftswort aber abgemildert in der Bedeutung und auch verschoben. Gemeint ist die vorgebliche Geringschätzung der eigenen Leistung, glaubwürdig gemacht durch die Leichtigkeit und Mühelosigkeit bei der Bewältigung des Anstehenden. Der Begriff geht zurück auf Baldassare Castiglione und sein Libro del Cortegiano: usar in ogni cosa una certa sprezzatura, che nasconde l'arte e dimostri ciò che si fa e dice venir fatto senza fattica e quasi senza pensarvi -, war also gemünzt auf die höfische Lebensart und ist verwandt mit dem englischen understatement, in neuerer, demokratischer Entwicklung: cool. In der Kunst geht es um die betonte Nichtzurschaustellung, die Verschleierung des Kunstcharakters, auch das Verstecken der Kunst im Handwerklichen.
Der Gedanke einer im Handwerk versteckten Kunst war dem Dichter sicher nicht unsympathisch, er selbst ist aber kaum in den Verdacht der Sprezzatura gekommen. Nicht wenige kommentierende Aufsätze erwecken den Eindruck, man könne sich Sebalds Werk nur im Feiertagsgewand, besser noch in eine Toga gehüllt nähern, man fragt sich warum. Es dürfte sich um eine reflexartige Ableitung aus dem für das Werk als tragend angesehenen Holocaustsujet handeln, das in der realen Welt weiterbesteht in der Form von Gedenkfeiern, auf denen offiziell gekleidete Herrschaften aus Politik und Gesellschaft mit ernstem Blick beisammensitzen. Der Dichter hat aber klar gemacht, daß es ihm mit jedem Jahr unmöglicher wurde, sich unter ein Veranstaltungspublikum zu begeben, und als Gast in einer Holocaustgedenkveranstaltung sieht man ihn nicht. So wie er uns in den Schwindel.Gefühlen begegnet, fernab vom Holocaust, mit bereits bemerkbar werdenden Anzeichen staubiger Abgerissenheit, unterwegs mit einer Plastiktasche voller allerlei unnützer Dinge, das Schuhwerk in Fetzen aufgelöst, blieben ihm ohnehin die Türen aller Festsäle verschlossen, nach dem Willen einiger seiner Kommentatoren dürfte er in diesem Zustand die eigenen Werke nicht lesen. In Hotels und Gaststätten wird er in der Regel denn auch schlecht bedient, die Engelwirtin mustert ihn mit unverhohlener Mißbilligung wegen seiner von der langen Wanderschaft in Mitleidenschaft gezogenen äußeren Erscheinung. Nun folgt aus einem Erzähler und Protagonisten mit heruntergekommenem Erscheinungsbild, der möglicherweise sprezzo auf sich zieht, noch nicht die Sprezzatura des Prosawerks. Die rückblickende Erzählung auf das vielfache Mißgeschick aber ist voller Leichtigkeit und Sprezzatura, und auch der Erzähler scheint mit sich oder doch mit der Art, wie er sich erzählt, auf eine legere Weise zufrieden.
Wer bei Sebald einen erhabenen Ton wahrnimmt, auch Manierismus, sollte auch hören, wie dieser Ton ständig unterlaufen wird, er sollte es hören und auch sehen. Die Bebilderung des Prosawerks ist provokativ kunstlos, als Sujet dient nicht selten der abends den Hosentaschen entnommene Krempel, Fahrscheine, Eintrittskarten, inzwischen überflüssige Ersatzdokumente &c. Man stelle sich vor, ein Verleger hätte den Einfall, den Krempel zu entfernen und stattdessen die betrachteten Bilder von Giotto, Pisanello und Tiepolo in Kunstbandqualität zu dokumentieren. Wer keinen Sinn für Sprezzatura hat, sähe vielleicht eine Verbesserung der Edition. In Tiepolos Bildern, besonders in den Scherzi, findet sich in großer Menge Krempel besonderer Art, magischer Krempel, Schlangen, Stäbe, Schlangen um Stäbe gewickelt, Eulen, Krempel, der sich in abgewandelter auch bei Sebald findet, Koinzidenzen, Zahlenmagie, Dinge dieser Art.
Der Begriff der Sprezzatura wird in Verbindung gebracht mit den Begriffen der Insolenz und der Indolenz. Ist es nicht von indolenter Insolenz, wenn der Erzähler behauptet, an eine Stelle in Conrads Kongotagebuch, die er im Textverlauf benötigt, würde er sich wortwörtlich erinnern, obwohl das Tagebuch diese Stelle in keiner Weise enthält. Mit Interesse und Sorgfalt studiert der Leser die Zeitungsnotiz zum Tod des Majors Le Strange, um dann zu erfahren, Le Strange habe es nie gegeben und die Notiz sei gefälscht. Quelle insolence! Symbole und Bedeutungen dürfen unter der Herrschaft der Sprezzatura nicht in Pose gesetzt werden. Wer erinnert sich auch nur, wenn er auf Seite 282 einen Strohhut auf San Giorgios Kopf sieht, daß auf Seite 127 Giorgio Santini den selben in der Hand gehalten hatte.

Samstag, 3. Januar 2015

Flucht nach Ägypten

Rast am Wasser

Riposo nella fuga in Egitto, ein kleines Ölgemälde, 57 auf 44 Zentimeter, ist das letzte in Roberto Calassos Il rosa Tiepolo reproduzierte Bildwerk. Der Betrachter denkt eher an Bildkompositionen aus einem Westernfilm von John Ford als an den Maler des Weltenwunderbilds in der Würzburger Residenz. Maria, Joseph und der Esel rasten unauffällig in der rechten unteren Bildecke, das Erlöserkind ist mit unbewaffnetem Auge nicht zu entdecken, zwei Vögel schweben über dem Wasser, ansonsten eine unbelebte, nicht ganz geheure Landschaft, fern ab von allem Leibergetümmel der großen Fresken. Bei dem die linke untere Bildhälfte beherrschende Gewässer ist nicht klar, ob es sich um einen Fluß oder einen See handelt, unklar ist auch, wie die heilige Familie nach der Rast ihren Weg fortsetzen soll. Das offenbar tiefe Gewässer kann nicht durchwatet werden, und auch ein begehbarer Uferweg zeichnet sich nicht ab.
Er entsinne sich, so Austerlitz, wie er vor vielen Jahren in einer Rembrandtausstellung in Amsterdam sich vor keinem der großformatigen, unzählige Male reproduzierten Meisterwerke habe aufhalten mögen und statt dessen lange vor einem kleinen, etwa zwanzig auf dreißig Zentimeter messenden Gemälde gestanden sei, das, der Beschriftung zufolge, die Flucht nach Ägypten darstellte, auf dem er aber weder das hochheilige Paar, noch das Jesuskind, noch das Saumtier habe erkennen können, sondern nur, mitten in der schwarzglänzenden Firnis der Finsternis, einen winzigen, vor seinen Augen bis heute nicht vergangenen Feuerfleck.
Die gestalterische Kraft der Erinnerung ist unverkennbar, die Figurengruppe in der Darstellung Rembrandts ist ohne weiteres auszumachen, zumal das Jesuskind, das sich bereits mit überraschender Selbständigkeit an der Feuerstelle bewegt. Fragen bleiben gleichwohl offen, nicht zwei, sondern drei erwachsene Personen sind sichtbar. Maria und Joseph offenbar sitzen am Feuer, weiter rechts steht ein Mann, in der Tat nicht in Begleitung eines Saumtiers, sondern eines Ochsen und kleinerer, ziegenähnlicher Geschöpfe, die Szenerie von Bethlehem scheint sich in etwa zu wiederholen. Alles in allem aber läßt sich das Rembrandtbild als Fortsetzungsfolge des Tiepolobildes lesen. Die Rast hat sich bis zum Abend und in die Nacht hinein ausgedehnt, die Rastenden sind diesmal nicht vom Land, sondern vom Wasser aus gesehen, und aus dieser Perspektive erscheinen die Möglichkeiten für eine Fortsetzung des Weges am nächsten Morgen günstiger.
Vielleicht hätte auch Aurach, bei aller Begeisterung für die Würzburger Fresken, dem kleinen Bild von der Flucht nach Ägypten, wäre es ihm denn gekannt gewesen, den Vorzug gegeben. Calasso sieht, Fragen dieser Art enthoben, eine Art Selbstbildnis: Giambattista Tiepolo accenna di essere arrivato anche al suo fiume verdeazzurro, che è la morte. Jeden Augenblick könnte der die Einfahrt zum Totenreich suchende Kahn des Jägers Gracchus hinter dem Felsvorsprung hervorkommen, so wie er, eben als der Tag anbrach, unversehens in den kleinen Hafen von Riva eingelaufen war, gerade als Mme Gherardi und Stendhal, die die Nacht auf dem See verbracht hatten, dort Rast halten wollten. Der Feuerfleck, der in der Erinnerung Rembrandts Bild fast völlig verschlungen hatte, knüpft an an die drei kleinen Feuerchen aus Austerlitz' Jugend, das von Gerald Fitzpatrick in seiner Not auf dem Flur des Schulgebäudes entfachte, das winzige, von fast nichts brennende Feuerchen in der Wohnung des geizigen Onkels Evelyn und das gleichartige, aber einer bitteren Armut geschuldete im Haus des grünen Heinrichs.
Giambattistas Gemälde vorangestellt ist in Calassos Buch ein ebenfalls die Flucht nach Ägypten behandelnder Stich von Giandomenico Tiepolo. Der Weg führt das heilige Paar vorbei an einer heidnischen Statue, die in dem Augenblick, als das Erlöserkind sie passiert, durch Materialermüdung, wie es aussieht, den Kopf verliert. Tatsächlich aber hat mit der Geburt Christi eine neue und zweifellos bessere Zeit begonnen, und dies nehmt zum Zeichen, das Heidenreich zerfällt, das Gottesreich ist da. In Sebalds Werk stellen sich verschiedene spätere Zeitenwenden nicht so hoffnungsvoll dar, nachdem auch die hier im Bild dargestellte, wie inzwischen einzuräumen ist, längst nicht alle Verheißungen erfüllen konnte.

Freitag, 2. Januar 2015

Kostümfragen

Zeitlos
Tiepolo, so erläutert Roberto Calasso, hat für seine Bilder und Fresken eine Theatertruppe engagiert, deren Mitglieder uns in immer neuen Rollen vor die Augen treten. Der Maler selbst schaut gern, hinter den Kulissen nur unzulänglich verborgen, auf die von ihm entworfene Szenerie. Er sieht Pharaos Tochter, die Moses in seinem Kästchen aus dem Schilf errettet, und dann, in realer Zeit weit mehr als tausend Jahre später, Kleopatra beim Bankett mit Mark Anton, es ist nicht nur dieselbe Schauspielerin, sie trägt noch immer das gleiche Kostüm. Auch als wir sie in Würzburg als Beatrix von Burgund wiedersehen, ist sie kaum verändert. Stellt man sich Sebalds Erzählungen präpariert für die Bühne vor - aber wer mag sich das vorstellen? - wäre leicht ein und derselbe Schauspieler in den verschiedenen Haupt- und Nebenrollen denkbar. Auch in der Erzählprosa bleiben viele von ihnen ihrem einmal gewählten Kostüm treu.
Nicht anders als bei den späteren Begegnungen trug Austerlitz damals in Antwerpen schwere Wanderstiefel, eine Art Arbeiterhose aus verschossenem blauen Kattun, sowie ein maßgeschneidertes, aber längst aus der Mode gekommenes Anzugsjackett. Jahraus, jahrein trug Michael Parkinson abwechslungsweise eine dunkelblaue und eine rostfarbene Jacke, und wenn die Ärmel abgestoßen oder die Ellbogen durchwetzt waren, hat er selbst zu Nadel und Faden gegriffen und einen Lederbesatz aufgenäht. Mathild Seelos sah man unfehlbar in einem schwarzen Kleid oder einem schwarzen Mantel und stets unter der Bedeckung eines Hutes und nie, auch beim schönsten Wetter nicht, ohne Regenschirm. Aurach ist ganz verschwunden im Staub seines Ateliers, man stellt sich eine Art grauer Tarnkleidung vor. Selwyn trägt zum Dinner Tweedjackett und Krawatte, Dinge, so muß man es verstehen, die er abgesehen von Festlichkeiten wohl nicht trägt. Selysses' Kleidung läßt sich schwer einschätzen, da sie in Wort und Bild kaum Erwähnung findet. Einmal sehen wir ihn, an einen Baum gelehnt, in heller Hose und einem T­-förmigen, kragenlosen weißen Hemd, offenbar ein nicht ganzjährig tauglicher Outfit, im Winter müßte etwas Wärmendes hinzukommen.
Dressmänner begegnen uns kaum, Stendhal, der aber ohnehin nicht zum engeren Kreis der Sebaldmenschen zählt, ist die Ausnahme in seinem neuen gelben Rock, dunkelblauen Beinkleidern, schwarz lackiertem Schuhwerk, einem extrahohen Velourshut und ein paar grünen Brillen. Bei Le Strange resultiert der Wechsel aus der Konstanz, nur weil er seine Garderobe völlig abgetragen hatte und neue Stücke sich nicht mehr zulegen mochte, holte es sich das Notwendige aus den Kästen auf dem Dachboden seines Hauses hervor, und so konnte man ihn gelegentlich sehen in einem kanarienfarbenen Gehrock oder in einer Art Trauermantel aus verschossenem veilchenfarbenen Taft mit vielen Knöpfen und Ösen. Adelwarth sehen wir kurz im orientalischen Gewand, Tiepolos Weltdarstellungen sind in erstaunlichem Maße von morgenländischen Männern bevölkert, aber das ist ein anderes Kapitel.

Der heilige Georg tauscht den Kriegshelm gegen einen weitkrempigen Strohhut ein, an dem hält er dann anderthalbtausend Jahre fest. Während dieser Zeit tauscht er dann auch die lichtbeschienene Rüstung gegen einen weißen Sommeranzug ein und die sporenbewehrten Stiefel gegen ein Paar überaus eleganter steifleinener Schuhe. Als einziger neuzeitlicher Mensch, der das wahre Gesicht des San Giorgio zu sehen bekommt, trifft Selysses ihn so im deutschen Konsulat zu Mailand, durchaus ein Tiepoloeffekt. Wenn Sebalds Gestalten überwiegend wenig Wert auf ihre Kleidung legen, so sieht man sie andererseits auch nie unbekleidet. Eine Ausnahme bildet in gewissem Sinne der Jäger Hans Schlag, der nach seinem rätselhaften Tod einer Autopsie unterzogen wird, bei der sich auf dem linken Oberarm eine kleine eintätowierte Barke zeigt. Hinter der Ähnlichkeit hatte sich die Identität des Jägers Schlag mit dem Jäger Gracchus verborgen, sie mußte im wahrsten Sinne bloßgelegt werden.

Donnerstag, 1. Januar 2015

Fine della pittura

Tiepolo
Auf seinem Weg durch Oberitalien läßt Selysses sich von drei Malern begleiten, Giotto, Pisanello und Tiepolo. Warum, kann man sich fragen angesichts der großen Zahl möglicher Kandidaten, gerade diese. Seine Vorliebe für Pisanello begründet Selysses einigermaßen ausführlich: Nicht allein die für die damalige Zeit ungeheuer hoch entwickelte Realismuskunst Pisanellos ist es, die mich anzieht, sondern die Art, wie es ihm gelingt, diese Kunst in einer mit der realistischen Malweise eigentlich unvereinbaren Fläche aufgehen zu lassen, in der allem, den Hauptdarstellern und den Komparsen, den Vögeln am Himmel, dem grün bewegten Wald und jedem einzelnen Blatt dieselbe, durch nichts geschmälerte Daseinsberechtigung zugesprochen wird. Die Bilder Pisanellos haben in mir vor Jahren schon den Wunsch erweckt, alles aufgeben zu können außer dem Schauen. Giotto, der Urvater der neuzeitlichen europäischen Malerei, bedarf womöglich keiner Begründung, und wenn man Roberto Calasso folgt, gilt das, sozusagen am anderen Ende, auch für Tiepolo. Tiepolo fu adatto ad assumere il ruolo di epilogatore della pittura, almeno in quel senso particolare, singolare, irrecuperabile che aveva assunto in terra europea per cinque secoli. Als Tiepolo die Würzburger Residenz ausmalte, war die fantasmagoria della Storia ancora provvista di una allarmante vivezza, poco prima che une cesura invalicabile la riducesse a materiale per i libri di scuola. Questo sarebbe accaduto dopo il 1789. Die Historienmalerei des neunzehnten Jahrhunderts ist akademische Schulbuchmalerei. Dopo, restavano gli artisti, pieni di umori, capricci, estri, insofferenze. E alla fine rischiarano di non esserci più neppure loro.
Daß Selysses sich die Dinge in der gleichen Weise und mit ähnlichen Worten zurechtgelegt hat, kann bezweifelt werden. Immerhin aber handeln die Schwindel.Gefühle von Zeitwenden und vom Ende der Zeit. Der erste Wendepunkt ist auf das Jahr 1813 datiert, als Napoleons Niedergang sich anbahnte und Stendhal in eine anhaltend elegische Stimmung verfiel. Die Napoleonzeit ist jedoch nur die Verlängerung des 1789 Begonnenen, des eigentlichen Wendepunkts, der aber schlecht von Stendhal, dem damals Sechsjährigen, her beleuchtet werden konnte. Die Maler, die in Sebalds Werk eine umfänglichere Behandlung erfahren, sind allesamt aus der Zeit vor diesem Wendepunkt, der so oder so auch ein Wendepunkt in der Kunst war. Einige der artisti, pieni di umori, capricci, estri, insofferenze wie Turner, Courbet, Magritte haben kürzere Auftritte. Der halb fiktive Aurach, vielleicht schon aus der Zeit, in der nach Calassos Einschätzung die Künstler ganz verschwinden, begeistert sich, in auffälliger Übereinstimmung mit dem Dichter, für Tiepolo und gleichzeitig auch für Grünewald, seinen Antipoden. Man bedenke, Grünewalds Gekreuzigten vor Augen, Calassos Feststellung, il Gesù sei die einzige Gestalt, die Tiepolo nicht zu malen verstand, und hat gleichsam den Gipfel des Gebirges erreicht, das sie trennt. 
Selbst wenn man Calassos Theorie einer epochalen fünfhundertjährigen, dann aber auslaufenden Geschichte europäischer Maler zuneigt, bleibt die Frage: Wieso Tiepolo? Die Zahl derer, die Tiepolo übersehen, wie Stendhal, der ihn nicht erwähnt in seiner Histoire de la peinture en Italie, oder geringschätzen, wie Henry James, dem er als pompös erscheint, ist groß. Zum einen aber ist die Zahl bedeutender italienischer Maler, deren Leben bis in die zweite Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts, also zum Wendepunkt, führt, nicht allzu groß, und zum anderen ist Tiepolo nicht der, als den seine Verächter ihn sehen. Tiepolo: l'ultimo soffio de la felicità in Europa, liest man gleich zu Beginn von Calassos Buch. All die bunten Weltenbilder, die Deckenfresken in Palästen und Kirchen sind Auftragsarbeiten, die Tiepolo, der rasanteste unter den Malern, in Windeseile erledigte. Für den eigenen Bedarf hat er die 23 Scherzi angefertigt, die in manchem an Piranesi erinnern und ihrer Bezeichnung nicht unmittelbar Ehre machen: Il sentimento più costante che incutono può essere il terrore. Dementsprechend sieht Calasso sich zu einem erweiterten Urteil veranlaßt: Tiepolo fu il pittore saturnino in luce radiosa. Die Nähe zeigt sich. Während bei Tiepolo gewöhnlich das Saturnische im ersten Augenblick nicht auffällt, wird in Sebalds Prosa das strahlende Licht, obwohl imgrunde überdeutlich, von vielen nicht bemerkt.
Für seine Biographen ist Tiepolo die reine Verzweiflung, so gut wie nichts ist bekannt über sein Leben außerhalb der Bilder. So müssen wir Selysses dankbar sein, wenn wir den Maler ein Stück begleiten können, als er mit seinen Söhnen Lorenzo und Domenico im Herbst 1750 von Venedig aus über den Brenner gezogen ist, und sich in Zirl entschloß, nicht, wie ihm geraten worden war, über Seefeld aus dem Tirol hinauszugehen, sondern westwärts über Telfs hinter den Salzfuhrwerken her den Weg über den Fernpaß, den Gaichtpaß, durch das Tannheimer Tal, über das Oberjoch und durchs Illertal ins Unterland zu nehmen, und wenn wir ihm dann zusehen dürfen, wie er, der um diese Zeit auf die Sechzig gegangen sein muß und bereits sehr an der Gicht gelitten hat, in der Kälte der Wintermonate zuoberst auf dem Gerüst einen halben Meter unter der Decke des Treppenhauses der Würzburger Residenz liegend mit kalk- und farbverspritzten Gesicht und trotz der Schmerzen in seinem rechten Arm mit sicherer Hand die Farblasur einträgt in das Fleck für Fleck aus dem nassen Verputz entstehende riesige Weltwunderbild.