Freitag, 22. Mai 2015

Spatzen

Frühlingsmönch

Es hieß, Le Strange, der immer schon einen zahmen Hahn auf seinem Zimmer gehalten hatte, sei nachmals ständig umschwärmt gewesen von allem möglichen Federvieh, von Perlhühnern, Fasanen, Tauben und Wachteln und den verschiedenen Garten- und Singvögeln, die teils am Boden um ihn herumliefen und teils in der Luft ihn umflogen. Wenn er später sich ähnlich dem heiligen Hieronymus in die Erde gräbt, so hat er hier offenbar Gestalt und Gehabe des heiligen Franziskus angenommen, fast schon eine Arche Noah der Vogelwelt an Land und im Garten wandelnd. Verständlich, daß nicht alle Arten beim Namen genannt werden können, unter den Garten- und Singvögeln hätte aber vielleicht doch der Spatz hervorgehoben werden sollen. Passer, deliciae meae puellae, für nicht wenige Lateinschüler ist Catulls Gedicht eine der wenigen angenehmen Erinnerungen aus dem Foltergerüst der Konjunktionen und Deklinationen. Leopold Staff nennt die Spatzen Frühlingsmönche im grauen Franziskanerkleid, Gefolgsleute des heiligen Franz vor allen anderen. Spatzen, so sagt man, hätten mit ihrem fröhlichen Tschilpen als erste das Ende der Passion und die Auferstehung des Herrn ausgerufen.

Dienstag, 19. Mai 2015

Giardino Giusti

Der rechte Garten

Im siebzehnten Jahrhundert habe das gartenbauliche Ideal, so J.M. Rymkiewicz*, dabei auf Francis Bacons Of Gardens Bezug nehmend, in der Erzeugung einer Illusion des ewigen Frühlings bestanden, später sei dann in der Literatur der herbstliche Garten bestimmend geworden bis hin zur Verschmelzung von Garten und Friedhof zu einem einzigen Motiv. Selysses besucht den Giardino Giusti im Herbst und gibt sich insofern, so könnte man meinen, als Vertreter der Moderne zu erkennen. Tatsächlich aber weist der Giardino Giusti mit seinen immergrünen Zypressen keine herbstlichen Spuren auf und auch sonst keine jahreszeitlichen Merkmale, er ist jahreszeitenlos.
Der Garten als ewiger Frühling und der herbstliche Garten als Friedhof, zwei Ewigkeiten oder besser: zwei halbe Ewigkeiten, eine Ewigkeit des Lebens und die Ewigkeit des Todes. Der Giardino Giusti - immer ist man versucht, vom Giardino giusto zu sprechen - übergreift die beiden Ewigkeitshälften. Ein türkisches Taubenpaar erhob sich mehrmals hintereinander mit einigen wenigen Flügelschlägen steil über die Wipfel und stand eine Weile still in der blauen Himmelshöhe. Dann segelten die Tauben, ohne sich selbst zu rühren, in weiten Bögen um die schönen Zypressen herum, von denen die eine oder andere vielleicht an die zweihundert Jahre schon gestanden hatte an ihren Platz. Es soll Bäume geben, die gut ein Millennium überdauert und anscheinend an das Sterben vergessen habe. Die mystische, im Augenblick verborgene Ewigkeit des Taubenflugs verschränkt sich mit der im Lebensvollzug kaum wahrnehmbaren, dem mineralischen Zustand noch verwandten Ewigkeit der Bäume.
Und Gott der Herr pflanzte einen Garten in Eden gen Morgen und setzte den Menschen hinein. Wie alle wissen, ist die Geschichte nicht gut ausgegangen, es war wohl falsch, den Menschen in den Garten zu setzen. Dahingestellt bleiben kann, ob er sich als gartenuntauglich erwiesen hat oder ob die Anforderungen an ihn unbillig waren. Der Giardino giusto, der rechte Garten ist menschenleer. Man hört das feine Geräusch beim Rechen der Kieswege, bekommt den Gärtner aber nicht zu Gesicht. Wäre der Gärtner ein Mensch, so hätte er wohl eine lärmende Maschine zum Einsatz gebracht. Die Pförtnerin sitzt in einem kleinen Gehäuse im Vorhof außerhalb des Gartens. Selysses durfte den Garten mit einer besonderen, kurz bemessenen Lizenz betreten, um von ihm berichten zu können.

* Myśli różne o ogrodach (Einige Gedanken zu den Gärten)

Samstag, 16. Mai 2015

Essengehen

Bé hem dinat


Essengehen ist eine Einrichtung, die aus der modernen Gesellschaft nicht gut fortzudenken ist. Die elektronischen Geräte schweigen, abgesehen von einer sanft eingespielten Musik, die sich wie ein Schleier über die Tischgespräche legt, ab und zu aus der Ferne das beruhigende Dröhnen der Espressomaschine. Dienstbare Geister umsorgen den Gast, ein angenehmer Hauch aristokratischer Vergangenheit dringt in die demokratischen Verhältnisse. Dinge werden wieder möglich, die, wie das traute Gespräch, sonst kaum mehr möglich sind. Glaubt man den Büchern und Filmen, so wird die Mehrzahl der Liebesgeschichten mit einer Einladung zum Essen eingeleitet.
Die Dichter gehen, wie so oft, ihre eigene Wege. Nabokow erinnert sich an eine Einladung Bunins zum Essen und zum trauten Gespräch. Das Mahl sei aller Wahrscheinlichkeit nach teuer und gut gewesen, leider aber könne er, Nabokow, Restaurants nicht ausstehen, nicht die Wässerchen, nicht die Häppchen, nicht die Musikstückchen und auch nicht das traute, herzliche (saduschewnyj) Gespräch. Nachdem sie gemeinsam Essen gegangen waren, habe sich das Verhältnis zwischen Bunin und ihm deutlich abgekühlt

Wenn das Gespräch, wie traut auch immer, notwendiger Teil des Essengehens ist, sollten nicht weniger als zwei beteiligt sein sein, aber vielleicht kann der Einzelne so erfüllt sein von Gedanken und Erlebnissen, daß er sich selbst genügt. Während der Zar und Napoleon auf einem Floß in der Memel den Frieden aushandeln, betritt Nikolai Rostow vom Hunger veranlaßt ein Gasthaus in Tilsit. Zum Essen läßt er sich zwei Flaschen Wein kommen. An den Nachbartischen bereden die Regimentskameraden das Geschehen auf dem Floß. Es sind Vorbehalte und Sorgen, die er letzten Endes teilt, auch wenn er es nicht wahrhaben will. Er bestellt eine dritte Flasche. Drei Flaschen Wein am Mittag, dem wäre heute kaum noch jemand gewachsen, gern erführe man Genaueres zur Füllmenge der Flaschen und zum Alkoholgehalt des Weins in der damaligen Zeit.
Wenn schon Nikolai Rostows Gasthofbesuch in Tilsit nur mit einiger Gewalt dem Vorstellungsbild Essengehen zuzuordnen ist, so gilt das umso mehr für die Verköstigung im Hotel Sole. Generell arbeitet Selysses an seinen Aufzeichnungen gern in Gaststuben, beim Engelwirt, im Hotel unter dem Großvenediger und so auch zuvor schon in Limone. Während er Zeile um Zeile füllt, bringt die Wirtin Luciana ihm in regelmäßigen Abständen, wie erbeten, einen Express und ein Glas Wasser und ab und zu auch ein in eine Papierserviette eingewickeltes Toastbrot. Ob er gut vorankomme, fragt sie. Wieder hinter ihrer Theke macht sie Eintragungen in ein großes Kontokorrentbuch, und immer öfter muß er zu ihr hinüberschauen, und wenn ihre Blicke sich trafen, lachte sie jedesmal wie über ein dummes Versehen. Eine vergleichbare Seligkeit ist durch reguläres Essengehen kaum erreichbar, für Selysses am allerwenigsten. Einerseits ist er zu wählerisch und geht stundenlang durch die Straßen und Gassen, ehe er sich für ein Restaurant entscheiden kann; andererseits gerät er zuletzt meistens wahllos einfach irgendwo hinein und verzehrt dort in trostloser Umgebung und unter Unbehagen ein ihm in keiner Weise zusagendes Gericht. Legendär sind sein Versuch, in Verona eine Pizza zu verzehren und sein zerstörerischer Kampf mit der aufgetauten panierten Fischschnitte in Lowestoft. Im Wadi Halfa ist das Essen weder teuer noch gut, Wässerchen, Häppchen und Musikstückchen muß man nicht befürchten, es ist nicht der Nährboden für traute (saduschewnyje) Gespräche, Nabokows Argumente greifen nicht, es würde ihm dort aber wohl trotzdem nicht gefallen. Aurach hingegen sucht das Wadi Halfa täglich sowohl vor als auch nach der Arbeit auf und mindestens einmal die Woche gesellt Selysses sich hinzu. Beide verzehren die grauenvollen, halb englischen, halb afrikanischen Gerichte mit Gleichgültigkeit wenn nicht gar mit perverser Genugtuung. Die Billigesser müssen sich den Schlechtessern geschlagen geben, nostalgie culinaire de la boue.
Nach der Preisverleihung zeigten Interviews Modiano in seiner großbürgerlichen Pariser Wohnung, geregeltes Essengehen zeichnete sich als mögliche Komponente seiner Lebensweise ab, seine Bücher handeln davon nicht. Sie handeln von dem, was den Dichter, wie er sagt, ne concerne pas en profondeur, das ihn gleichwohl nicht losläßt, die Zeit seiner Kindheit und Jugend. In den Internaten nicht selten ein wahrer Hungerleider, lebt er später mit den Helden seiner Bücher in Paris als Stadtnomade in ständig wechselnden Zimmern und Hotels, in leeren Wohnungen, deren Besitzer verreist sind. Er kennt Essengehen nicht abgehoben vom Essen zuhaus, er kennt den Kontrast von Essengehen und Hungern, Essengehen also nicht als ein herausgehobenes Ereignis, sondern als den Normalzustand hinreichenden Essens.

Nichts weist darauf hin, daß die Dichter unter ihrer Verhaltensstörung leiden. Nabokow ist, wie bei jeder Gelegenheit, auch hier ganz und gar mit sich einverstanden. Selysses blickt mit stillem Vergnügen zurück auf seine kulinarischen Fiaskos. Für Modiano ist das Essengehen fester Teil seiner erzählerischen Topologie und unterliegt, wie das gesamte Gelände, keiner weiteren Beurteilung.

Freitag, 1. Mai 2015

Arabisches Kostüm

Betrachter im Bild

indiferent com un musulmà

Auf seiner gemeinsamen Orientreise mit Cosmo Solomon läßt sich Ambros Adelwarth in einem arabisches Kostüm photographieren. Das Photo findet sich nicht nur im Inneren des Buches, sondern auch auf dem Schutzumschlag der Ausgewanderten in der Ausgabe des Eichbornverlages und, erstaunlich, auf der Hülle eines Hörbuches mit einer Dichterlesung der Erzählung Max Aurach, zu der es gar nicht paßt. Das Photo erhält eine Bedeutung, die ihm der Leser aus eigener Kraft kaum beimessen würde. Wird er auf etwas Verborgenes hingewiesen? In der Goldenen Taube zu Verona trägt sich Selysses unter falschem Namen als Jakob Philipp Fallmerayer, Historiker und Orientalist, ein, streift sich also gewissermaßen ein orientalisches Gewand über. Vielleicht ist er es und nicht Adelwarth, den wir im arabischen Kostüm sehen, an falsch deklarierte Bilder sind wir gewöhnt.
Selysses beginnt seine vierbändige Prosareise in Wien, vor dessen Toren bekanntlich mehrfach die Türken gestanden sind, und reist von dort weiter nach Venedig, in der frühen Neuzeit das Tor zum Orient und Heimat des Malers Tiepolo, dessen Bilder in verwunderlichem, durch die Realität kaum gedecktem Maße von Orientalen bevölkert werden, zumeist würdige ältere Männer mit Turban und langem Bart. Roberto Calasso erklärt: Nella pittura Tiepolo volle che fosse incluso l'atto del guardare. E lo affidò a una classe di figure: gli Orientali. Avrebbero avuto una funzione precisa e altissima: essere i testimoni, essere il primo sguardo che si posa sulla scena che poi sarà osservato dallo spettatore. Se un occhio, se vari occhi si annidavano nella pittura e la guardavano, prima ancora che la guardasse qualcun altro, in ogni immagine si aggiungeva in nuovo livello, un gradino invisibile.
Selysses begenet Tiepolo häufiger als jedem anderen Maler und bestückt auch seine eigenen Berichte mit Orientalen. Stellen wir uns Manchester vor, nach den Vorgaben der Erzählung Aurach von Tiepolo gemalt. Das okzidentale Personal besteht aus Selysses, Gracie Irlam, Aurach sowie vermutlich dem Taxifahrer am Flugplatz sowie dem Knaben mit dem Wägelchen und dem stummen Gesellen darin, das orientale Personal aus dem umfangreichen Klan, der das Wadi Halfa bewirtschaftet. Die morgenländischen Figuren sind demnach rechnerisch in der Überzahl. Auch in den Niederlanden ist der Anteil morgenländischer Männer ausgesprochen hoch. Da stellt sich die Frage, wer wen beobachtet. Aber hat Calasso Tiepolos Orientalen betreffend die ganze Wahrheit gesagt und muß, was für sie in der Malerei gelten mag, auch für die morgenländischen Männer in der Prosa gelten, und ferner: haben der Betrachter im Bild und der Betrachter des Bildes den gleichen Blickwinkel? Nicht nur, daß der Betrachter im Bild dem Betrachter des Bildes voraus ist, die Betrachter sind nicht von der gleichen Art. Im Betrachter des Bildes kann der Wunsch erweckt werden, alles aufgeben zu können außer dem Schauen, der Betrachter im Bild ist dafür zu sehr involviert in das dargestellte Geschehen. Das Gesehene muß beim Betrachter im Bild irgendeinen Eindruck hinterlassen, Zustimmung oder Mißbilligung, Tiepolos Orientalen ist allerdings nicht anzusehen, was sie denken und empfinden. Die Betreiber des Wadi Halfa und die morgenländischen Männer in Holland sind nicht weniger undurchsichtig, Aurach wird neben der schlechte Qualität des Essens die Leere schätzen, die dadurch entsteht. Selysses findet keinen Orientalen als Gesprächspartner, wohl aber eine Orientalin, die aus der Türkei stammende Saaleschifferin in Kissingen. Man wird sich einig in einem kulturübergreifenden philosophischen Ansatz, der in der These gipfelt, nichts sei so unendlich und so gefährlich wie die Dummheit. Die meisten Orientalen aber bekommen wir gar nicht zu Gesicht, sie selbst haben kein Gesicht, sie sind verborgen in den Karawanen, die immer wieder durch die Bücher ziehen, in Manchester oder Paris, in Amerika oder in Wales, in Holland, Italien oder London, von ungeschickter Hand gemalte Karawanen, Karawanen als Fimsequenz inszeniert, halluzinierte Karawanen, keine Betrachter, eher Menetekel am Horizont oder vielleicht Verheißung.