Montag, 25. August 2008

Vynwry: Der Hund und das Mädchen

Kaum Liebe zwischen Mensch und Tier

C'est de cette facon que l'homme se distingue des primates et va, de découverte en découverte, toujours plus haut, vers la lumière.

Zu sagen, Sebald Bücher seien kaum weniger von Tieren als von Menschen bevölkert, wäre, nimmt man die schiere Zahl der auftauchenden Motten, Heringe und Seidenwürmer, eine mörderische Untertreibung. Auch wer diese Art der Rechnung mit gutem Grund zurückweist, wird nicht bestreiten wollen, daß Tiere eine eigene und sehr starke Bedeutungsschicht im Werk darstellen. Bevor wir im Austerlitzbuch mit den Augen des Selysses den ersten Menschen sehen, haben wir schon Fleder- und Springmäuse, Igel, Uhus und Eulen, australische Baummarder, Siebenschläfer, Halbaffen und einen Waschbären getroffen. Die ersten beiden Bilder im Buch zeigen Tieraugen, erst dann folgt ein Doppelphoto mit Menschenaugen. In der großen Masse der Tiere ist auffällig, daß Gefährten von Effi Briests Rollo und Thomas Manns Bauschan, individuelle Tiere als Freunde und Gefährten der Menschen also, weitgehend fehlen.


Den vielleicht nachhaltigsten Eindruck unter den Hunden hinterläßt der hellfarbige, der Selysses für eine Wegstrecke durch Verona folgt mit seinem schwarzen Fleck wie eine Klappe über dem linken Auge. Es ist kein Rollo oder Bauschan, es ist ein herrenloser Hund, und wie alle herrenlosen Hunde schien er schräg zu der Richtung zu laufen, in der er sich fortbewegte. Blieb ich stehen, so hielt auch er ein und schaute versonnen auf das fließende Wasser der Etsch. Ging ich weiter, so machte auch er sich wieder auf den Weg. Als ich aber am Castelvecchio den Corso Cavour überquerte, blieb er an der Bordsteinkante zurück, und ich wäre, weil ich mitten auf dem Corso mich umwandte nach ihm, um ein Haar überfahren worden (SG 139).

Hunden mit einem sogenannten menschlichen Zuhause geht es keineswegs zuverlässig besser: Ein Hund warf sich an ein grüngestrichenes eisernes Gartentor, völlig außer sich, als sei er um seinen Verstang gekommen. Es war ein großer schwarzer Neufundländer, dessen angeborene Sanftmut durch Mißhandlungen, lange Einsamkeit oder das glasklare Wetter zerstört worden war. In immer neuen Anläufen rannte das Tier gegen das Gitter. Nur manchmal hielt es inne und richtete seine Augen auf uns, die wir stehengeblieben waren. Ich warf einen Schilling als Seelenopfer in den am Gartentor angebrachten blechernen Briefkasten. Beim Weitergehen fühlte ich die Kälte des Schreckens in meinen Gliedern. Der Hund war nun verstummt und stand bewegungslos im Mittagslicht. Vielleicht hätten wir ihn einfach auslassen sollen (SG 50).

Dem ausdrücklichen Zwang, Joyces Buch vom Leopold Bloom als Neuauflage der Odyssee zu lesen, entspricht die leise Erlaubnis, im Austerlitzbuch eine Neuauflage der Divina Comedia zu sehen, und es bedarf schon des Paradieses, das im Buch die Gestalt und das Aussehen von Andromeda Logde annimmt, um in der Gestalt des Hündchens Toby auf einen Gefährten Rollos und Bauschans zu treffen (AUS 144). Toby, der den gleichen seltsamen Haarkranz um das Gesicht hat, ist der ins Paradies gerettete Engel des kleinen Hundes auf dem Schoß des Mädchens von Vynwry, so wie ja das überflutete, untergegangene Vynwry (AUS 81) so etwas wie die untergründige Spiegelung von Andromeda Logde ist. Auch im Paradies freilich tritt Toby kaum markant hervor in der Masse der Papageien und weißen Kakadus, die seufzten, lachten, niesten und gähnten wie die Menschen und sich räusperten, ehe sie in ihrer Kakadusprache zu reden anfingen (122f) und der Motten und Falter, den Porzellan- und Pergamentspinnern, den spanischen Fahnen und schwarzen Ordensbändern, Messing- und Ypsiloneulen, Wolfsmilch- und Fledermausschwärmern, Jungfernkindern und alten Damen, Totenköpfen und Geistermotten (136).

Den dicken, fuchsfarbenen Dackel, der nicht mehr gut auf den Beinen war und ab und zu stehenblieb, um mit gefurchter Braue vor sich hin in den Erdboden zu starren, Repräsentant einer ganzen Gattung griesgrämiger kleiner Hunde, die fast alle einen Maulkorb aus Draht trugen und vielleicht deshalb so verstummt und böse geworden sind (AUS 237f), diesen Dackel müssen wir hier nicht weiter beachten. Bleibt als weiterer möglicher Kandidat auf den Bauschanposten der Hund Waldmann des Jägers Hans Schlag aus den Schwindel.Gefühlen. Der Name Waldmann individualisiert den caninen Begleiter eines Jägers nicht ernstlich, typisiert ihn vielmehr scherzhaft. Wir sehen ihn festgebunden an Hans Schlags über die Stuhllehne hängenden Rucksack für Stunden in der Engelwirtschaft liegen (SG 259), wir sehen Waldmann wie er, angebunden wie immer an den Rucksack seines Herrn, still hinter diesem an der Erde stand und teilnahmslos dem ablaufenden Geschlechtsverkehr mit der Romana Gesellschaft leistet (261) und man hört schließlich, daß der Dachshund, als man ihm und dem Leichnam sich annäherte, auf einmal und obschon nur noch ein Hauch Leben in ihm gewesen war, toll geworden sei, so daß man ihn auf der Stelle habe erschießen müssen (271). Von einer sozusagen humanen Beziehung zwischen Herr und Hund wird nicht berichtet, von Bauschan sind wir Meilen entfernt.

Sebald sucht nicht die Nähe der uns nahen, sondern die Nähe und Ferne der uns fernen Tiere. Zu einem guten Teil sind sie flugbegabt, Hühner- und Wasservögel verschiedener Art, Tauben, Falter und Motten. Sie bescheren uns metaphysische Augenblicke, den schönsten erzeugt Sebald in unnachahmlichen Art, indem er ihn einfach und möglichen Widerstand gar nicht beachtend als solchen deklariert: Einmal fielen mir ein paar Hühner auf mitten in einem grünen Feld, die sich, obschon es doch noch gar nicht lang zu regnen aufgehört hatte, ein für die winzigen weißen Tiere, wie mir schien, endloses Stück von dem Haus entfernt hatten, zu dem sie gehörten. Aus einem mir nach wie vor nicht ganz erfindlichen Grund ist mir der Anblick dieser so weit ins offene Feld sich hinauswagenden Hühnerschar damals sehr ans Herz gegangen. Überhaupt weiß ich nicht, was es ist an bestimmten Dingen und Wesen, das mich manchmal so rührt (SG 192). Die Vögel erlauben uns mystische Versenkung: Immer habe ich Enten gehalten, schon als Kind, und immer ist mir die Farbgebung ihres Federkleids, insbesondere das Dunkelgrüne und das Schneeweiße, als die einzig mögliche Antwort erschienen auf die Fragen, die mich von jeher bewegten (RS 294f). Sie entführen uns ins Reich der Phantastik: Le Strange, der immer schon einen zahmen Hahn auf seinem Zimmer gehalten hatte, sei nachmals ständig umschwärmt gewesen von allem möglichen Federvieh, von Perlhühnern, Fasanen Tauben und Wachteln und den verschiedenen Garten und Singvögeln, die teils am Boden um ihn herumliefen, teils in der Luft ihn umflogen (RS 82). Vor allem anderen aber sind sie Gefährten der Höhe, wie die Tauben des Fliegers Gerald (AUS 168 u.a.), und so vorbereitet ist man fast versucht, auch die Engel, insbesondere Giottos angeli visitanti la scena della disgrazia (SG 96), einfach zu den hochfliegenden Gefährten hinzuzuzählen, und ebenso die in einem in Goldfarbe gemalten ornamentalen Bildnis erscheinende Taube, die gerade zurückkehrt zu der unter einem Regenbogen schwimmenden dreistöckigen Arche, in ihrem Schnabel den grünen Zweig (AUS 67).

Die Tiere dienen als Dekor menschlicher Behausungen, und nach dem Niedergang der prächtigen Zeit finden wir sie in einem Zustand kläglicher Verwahrlosung: Freilich bedrückte es mich, in einer der größtenteils aufgelassenen Volieren eine einsame chinesische Wachtel zu sehen, die – offenbar in einem Zustand der Demenz – in einem fort am rechten Seitengitter ihres Käfigs auf und ab lief und jedesmal, bevor sie kehrt machte, den Kopf schüttelte, als begreife sie nicht, wie sie in diese aussichtslose Lage geraten sei (RS 50). Der Erdboden im Inneren des gemauerten Kogels war bedeckt mit dem unter seinem eigenen Gewicht zusammengepreßten und doch bereits bis zu einer Höhe von mehr als zwei Fuß angewachsenen Taubendrecks, einer in sich verbackenen Masse, auf der zuoberst die Kadaver der todkrank aus ihren Nischen abgestürzten Vogeltieren lagen, während ihre noch lebendigen Genossen, in einer Art von Alterdemenz, in der Düsternis unter dem Dach, wo man sie kaum sehen konnte, leise klagend durcheinandergurrten und ein paar Flaumfedern, in einem Wirbel um sich selber sich drehend, langsam herabsanken durch die Luft (AUS 310). Aber auch nach moderner Terminologie artgerecht gehaltene Tiere befinden sich in einer falschen Welt, der unsrigen offenbar: Lange beobachtete ich den Waschbären, wie er mit ernstem Gesicht bei einem Bächlein saß und immer wieder den denselben Apfelschnitz wusch, als hoffe er, durch dieses, weit über jede Gründlichkeit hinausgehende Waschen entkommen zu können aus der falschen Welt, in die er gewissermaßen ohne sein eigenes Zutun geraten war (AUS 10). Ich entsinne mich, in einer graslosen, staubigen Einfriedung eine Damwildfamilie in schöner Eintracht und zugleich verängstigt unter einer Heuraufe beieinander gesehen zu haben. Unvergeßlich ist mir geblieben, daß die eingesperrten Tiere und wir, ihr menschliches Publikum, einander anblickten à travers une brèche d’incompréhension (AUS 375).Der geringen Rolle der Tiere als Stubengenossen entspricht die weitgehende Absenz der üblichen Nutztiere.

In den Ringen des Saturn freilich trifft Selysses auf eine an die hundert Stück zählende Schweineherde. Eines der Tiere öffnete, als ich mich niederbeugte zu ihm, sein kleines von hellen Wimpern umsäumtes Auge. Ich fuhr im mit der Hand über den staubbedeckten, unter der ungewohnten Berührung erschauernden Rücken und kraulte ihm die Kuhle hinter dem Ohr, bis es aufseufzte wie ein von endlosen Leiden geplagter Mensch (RS 85). Von den realen Schweinen, deren Nutzwert völlig außer Acht gelassen bleibt, gleitet die Erzählung zum biblischen Bericht von der Schweineherde beim Evangelisten Markus. Der Herr befiehlt den bösen Geistern hineinzufahren in die Sauherde, die daselbst auf der Weide ist. Haben wir hier, fragte ich mich, eine von dem Evangelisten bloß erfundene Parabel, die, wenn man es recht bedenkt, darauf hinausläuft, daß wir unseren kranken Menschenverstand immer wieder auslassen müssen an einer anderen, von uns für niedriger gehaltenen und für nichts als zerstörenswert erachteten Art? (RS 86)

Als vollendete Perversion erscheint die Jagd. Obgleich das in früherer Zeit so zahlreich in den Inselwäldern wohnende Wild nahezu restlos ausgerottet ist, bricht auf Korsika nach wie vor jeden September das Jagdfieber aus. Es schien, als sei die gesamte männliche Bevölkerung beteiligt an einem längst ziellos gewordenen Zerstörungsritual. Unrasiert, mit schweren Gewehren und bedrohlichen Gehabe sehen die Jäger aus wie die kroatischen und serbischen Milizen, die ihre Heimat zugrunde gerichtet haben, verstehen auch die korsischen Jäger, wenn man sich auf ihr Territorium verirrt, keinen Spaß. Als ich einen von ihnen fragte, worauf er hier warte, antwortete er bloß sangliers, als müsse das allein genügen, mich zu verscheuchen (CS 43f). Ihren Kulminationspunkt, zu hoch, als das wir ihn hier ersteigen könnten, findet die Jagdim großen Bericht vom Heringsfang, der dem von der Schweineherde unmittelbar vorausgeht (RS 69ff). Nur soviel, daß die Annahme bestand, die besondere physiologische Organisation der Fische sie schütze vor der Empfindung der Angst und der Schmerzen, die beim Todeskampf durch die Körper und die Seelen der höher ausgebildeten Tiere gehen. Doch in Wahrheit wissen wir nichts von den Gefühlen des Herings (RS 75).

Ein Nutztier freilich, das uns weniger gegenwärtig ist als Ochs, Schwein und Rind, spinnt sich durch alle Ringe des Saturn, der Seidenwurm, unmittelbarer Verwandter der Motten im Austerlitzbuch und ihre Nutzvariante, der es verwehrt ist, das Falterstadium auch nur zu erreichen. Es ist nicht annähernd möglich, all die Fäden hier aufzuhaspeln, nicht vergessen lassen sich aber die der Kaiserwitwe Tz’u-hsi zugeschriebenen Sehnsüchte: Diese blassen, beinahe transparenten Wesen, die bald ihr Leben lassen würden für den feinen Faden, den sie spannen, betrachtete sie als ihre wahren Getreuen. Sie erscheinen ihr als das ideale Volk, dienstfertig, todesbereit, in kurzer Frist beliebig vermehrbar, ausgerichtet nur auf den einzigen ihnen vorbestimmten Zweck, völlig das Gegenteil der Menschen, auf die grundsätzlich kein Verlaß war (RS 183).

Natürlich geht es hier, wie in einem Untertitel des Kapitels VI vermerkt, um die Geheimnisse der Macht und um ihre Perversionen, aber geht es nur darum? Sebald ist kein Humanist in dem Sinne, daß ihm der Mensch unbehelligt im Mittelpunkt stünde, der Rest der Welt ihm nur zugeordnet. Gerade aus der weitgehenden Überspringung der dem Menschen nach dessen eigenen Verständnis zur Freude oder zum Nutzen zugeordneten Tiere und der Aufmerksamkeit, die er fernen und uns gänzlich verschlossenen Geschöpfen wie den Motten oder den Heringen widmet, gewinnt er Abstand von diesem falschen Zentrum. Jeder Luhmannadept weiß, daß dem normalen Humanismus das intellektuelle Fundament längst völlig abhanden gekommen ist und daß er umso wüster seine gewonnenen Positionen verteidigt. Nur so ist es verständlich, daß nicht wenige Rezensenten, die ja auf die eine oder andere Weise auch die ersten drei Seiten des Buches gelesen haben müssen, im Austerlitz nichts anderes sehen können als einen "halbdokumentarischen" Roman "über den Holocaust". In bestimmter Hinsicht aber sind in dem Roman und in der Welt, in die wir verloren sind, die Motten nicht weniger wichtig als Theresienstadt, die ständigen Anlehnungen in Sebalds Werk an den Schmetterlingsfänger Nabokow unterstreichen das nur.

Es sollten sich Reflexionen anschließen über die toten Motten in den Schächtelchen, über das Veterinärmuseum in Paris und das Quincunx und Bestiarium der Abnormitäten des Thomas Browne.

Samstag, 16. August 2008

Bedürfnislosigkeit und Luxus

Des objets de toilette, dit Mercier
Luxe inutile, dit Camier.
Et des provisions de bouche, dit Mercier.
Juste bonnes à jeter, dit Camier

Logis in einem Landhaus ist nicht in eine Reihe mit Sebalds professoralen Essaybänden Unheimliche Heimat und Unglück und Beschreibung des Unglücks zu stellen, sondern den Prosawerken zuzurechnen. Natürlich ist de Grenzverlauf nicht so klar geregelt wie der zwischen modernen Staaten, im Landhaus wohnen aber ausschließlich Dichter und Maler, denen Sebald sich aus dem einen oder anderen Grund verwandt gefühlt hat, und der Gestus des Vortrags entspricht weitgehend dem der Vignetten Conrads, Chateaubriands und anderer in den Ringen des Saturns. Die Urszene des in Sebalds Werk an den verschiedensten Stellen auftauchenden, insgesamt für die Farbe der Prosa nicht unmaßgeblichen Motivs der Bedürfnislosigkeit finden wir im Aufsatz über Gottfried Keller, und sie ist dessen Werk entnommen: Durch den Tod des Vaters früh mit dem Mangel vertraut, wird die winzige, im Grunde bloß noch aus Sparsamkeit bestehende Hauswirtschaft der Mutter Keller in der Rückschau zum Sinnbild einer so gut wie restlos reduzierten Existenz. Am Abend nach meiner Abreise hatte meine Mutter sogleich die Wirtschaft geändert und beinahe vollständig in die Kunst verwandelt, von nichts zu leben. Sie erfand ein eigentümliches Gericht, welches sie jahraus, jahrein, einen Tag wie den anderen um die Mittagszeit kochte, auf einem Feuerchen, welches gleichermaßen von nichts brannte (LL 101).

Das bedürfnislose Feuerchen findet sich wieder, sozusagen brennend nach Wales getragen und in einen sarkastischen Kontext gestellt, im Austerlitzbuch: Nur wenn mehrere Tage hintereinander die Temperatur auf dem Thermometer am Fensterrahmen zur Mittagszeit unter fünfzig Grad Fahrenheit sank, durfte die Haushälterin im Kamin ein winziges Feuerchen anschüren, das von fast gar nichts brannte (AUS 131). Vom Onkel Evelyn, der schwer von der Bechterewschen Krankheit gezeichnet ist, heißt es erbarmungslos, er sei so krumm geworden aus reinem Geiz, den er vor sich selbst damit rechtfertigte, daß er allwöchentlich das von ihm nicht ausgegebene Geld an die Kongomission überweisen ließ zur Errettung der dort im Unglauben schmachtenden schwarzen Seelen (AUS 130). Jedem halbwegs eingeführten Sebaldleser steigt sofort das Kongokapitel aus dem Saturnbuch in den Sinn mit der grauenvollen Evidenz, daß es nicht um die schmachtenden Seelen, sondern nur um die gemarterten Leiber der Schwarzen im Herzen der Finsternis gehen kann.

Die Mutter bei Keller ist bedürfnislos aus Armut, notgedrungen, der Onkel Evelyn aus Krankheit und Verschrobenheit, der eigentliche Sebaldsche Held ist bedürfnislos aus geistiger Notwendigkeit. Im Austerlitzbuch repräsentiert der Titelheld selbst diesen Typus, über eine Reihe von Schaltungen ist er mit der asketischen Gestalt Ludwig Wittgensteins verbunden. Das auffälligste gemeinsame Merkmal ist der für beide unverzichtbare Rucksack, Sinnbild des omnia mea mecum. Der Rucksack ist abgebildet auf Seite 63, bereits das nächste Bild zeigt die Kuppel des Great Eastern Hotels, einer Luxusunterkunft der Jahrhundertwende, jetzt größtenteils stillgelegt. Der Diningroom umfasste dreihundert Gäste, es gab Rauch- und Billardsalons, Zimmerfluchten und Stiegenhäuser, ein kühles Labyrinth zu Lagerung von Rheinwein, Bordeaux und Champagner, allein der Fischkeller, wo Barsche, Zander, Schollen, Seezungen und Aale zuhauf auf den aus schwarzen Schiefer geschnittenen, unablässig von frischem Wasser überflossenen Tischflächen lagen, war ein kleines Totenreich für sich.

Wittgensteineske Gestalten bestimmen den Ton in drei der vier großen Bücher Sebalds, aber auch Proust und seine Guermantes, Trümmerbrocken der Belle Epoque, geistern ständig durch das Blickfeld. In den Schwindel.Gefühlen ist diese Texteinfärbung nicht in auffälliger Weise vorhanden, immerhin aber irrlichtert das Jahr 1913, das allerletzte der Belle Epoque durch das gesamte Buch. 1913 war für Sebald offenbar auch der letzte Augenblick, zu dem sich die Menschheit noch Illusionen über sich selbst machen konnte. Professionelle Leser haben herausgefunden, daß der Dichter sein Wörterbuch der deutschen Sprache 1933 geschlossen und Neueingänge ins Vokabular nicht mehr berücksichtigt hat - oder war das schon zwanzig Jahre zuvor geschehen?

Heruntergekommene Luxushotels und zerfallende Herrenhäuser stehen in der vordersten Front Sebaldscher Erzählkunst. In der Erzählung Ambros Adelwarth wird bei einem Besuch des alten mondänen Seebads Deauville in der Normandie, Terre de Proust, auf fünfzehn Seiten (AW 171 bis 186), überwiegend in einer Traumsequenz, die Proustsche Morbidität ohne Abstriche eingefangen. Es schien, als habe sich hier in Deauville im Sommer 1913 die gesamte Welt versammelt. Ich sah die Comtesse de Montgomery, die Comtesse Fitz James, die Baronne d’Erlanger und die Marquise de Massa, die Rothschild, die Deutsch de la Meurthe, die Peugeot und die Orlovs, Künstler und Künstlerinnen und die Demimondäne, griechische Reeder, mexikanische Petroleummagnaten und Baumwollpflanzer aus Louisiana. Ein wunderbar rosarot durch die gedämpfte Atmosphäre leuchtendes Hummertier, das langsam manchmal eines seiner Glieder rührte, lag zwischen ihnen auf einer silbernen Platte. Von der wie von einem leichten Seegang bewegten Menge der dinierenden Gäste waren nur die glitzernden Ohrringe und Halskettender Damen und die weißen Hemdbrüste der Herren zu sehen. Eine österreichische Gräfin, femme au passé obscur, von unvergleichlicher Unergründlichkeit, hielt Hof in einer der etwas abgelegenen Ecken. Eine ungeheuer feingliedrige, beinahe transparente Person in grau- und braunseidenen Moirékleidern. Niemand kannte ihren wirklichen Namen, niemand vermochte ihr Alter zu schätzen oder wußte, ob sie ledig, verheiratet oder verwitwet war. Zum letzten Mal erblickte ich sie, als ich, aus dem Deauviller Traum wieder erwacht, ans Fenster meines Hotelzimmers getreten war. Auf das geschmackloseste zusammengerichtet und auf das entsetzlichste geschminkt kam sie daher, mit einem hoppelnden weißen Angorakaninchen an der Leine. Außerdem hatte sie einen giftgrün livrierten Clubman dabei, der immer, wenn das Kaninchen nicht mehr weiterwollte, sich hinunterbeugte zu ihm, um es ein wenig zu füttern von dem riesigen Blumenkohl, den er in der linken Armbeuge hielt.

Die beiden Erzählbände von den Ausgewanderten und von den Ringen des Saturn lassen sich lesen, neben zahllosen anderen Lesarten, die sie ermöglichen, als eine durchgehende Wellenbewegung aus Bedürfnislosigkeit und Luxus. Paul Bereyter ist ein Permanentasket aus der Wittgensteinschule. Dr. Henry Selwyn, den Selysses und seine Begleiterin Clara als praktizierenden Asketen antreffen, gibt an, in den zwanziger und dreißiger Jahren in großem Stil gelebt zu haben (AW 34). Ambros Adelwarth nimmt als Begleiter des Cosmos Salomon an dessen mondänen Ausschweifungen teil und sucht dann selbst seine psychiatrischen Folterknechte auf zum Zweck der planvollen Selbstzerstörung. Max Aurach kennt nur die künstlerische Arbeit, ohne sie irgend zu lieben oder zu achten, allenfalls liebt er den durch das Ausradieren erzeugten Staub. Als sich der nicht gesuchte und unerwünschte Erfolg einstellt, mietet er eine Suite hinter der an ein phantastisches Befestigungswerk erinnernden Fassade des Midland Hotels (AW 348), von dem ganze Teile schon abgesperrt sind, so daß es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis der Betrieb eingestellt wird, nur um seinem Zustand, den er als schandbar empfand, schon möglichst bald zu entkommen auf die eine oder andere Weise.

In den Ringen des Saturn treffen wir schon bald (RS 14) Michael Parkinson, den mehr als alles andere eine Bedürfnislosigkeit auszeichnete, von der manche behaupteten, daß sie ans Exzentrische grenzte. Jahraus, jahrein trug er abwechslungsweise eine dunkelblaue und eine rostfarbene Jacke, und wenn die Ärmel abgestoßen oder die Ellbogen durchgewetzt waren, hat er selber zu Nadel und Faden gegriffen. Im Kapitel II lernen wir dann Morton Peto und seinen im anglo-italienischen Stil gehaltenen Prinzenpalast kennen. Es gab Korridore, die in einer Farngrotte mit immerzu plätschernden Brunnen zusammentrafen, überlaubte Gartengänge, die sich kreuzten unter der Kuppel einer phantastischen Moschee. Versenkbare Fenster öffneten den Raum nach draußen, während inwendig auf den Spiegelwänden die Landschaft erschien. Palmenhäuser und Orangerien, der einem grünsamtenen Tuch gleichende Rasen, die Bespannung der Billardtische, die Bouquets in den Morgen- und Ruhezimmern und die Majolikavasen auf der Terrasse, die Paradiesvögel und Goldfasane auf den Seidentapeten, die Stieglitze in den Volieren und die Nachtigallen im Garten, die Teppicharabesken und die von Buchsbaumhecken eingefassten Blumenparterres. – Und so fort, auf und ab, das ganze Buch hindurch. Die schönste und phantastischste Verbindung von Bedürfnislosigkeit und Luxus stellt im Kapitel III der über ein Vermögen von mehreren Millionen Pfund verfügende Major George Wyndham Le Strange dar. Er nimmt an der Befreiung von Bergen Belsen teil und zieht sich anschließend in noch recht jungen Jahren auf seine Landgüter zurück, um eine eigenwillige Logis in einem Landhaus zu beziehen. Als Haushälterin verschreibt er sich eine einfache junge Frau namens Florence Barnes unter der ausdrücklichen Bedingung, daß sie die von ihr zubereiteten Mahlzeiten mit ihm gemeinsam, aber unter Wahrung absoluten Stillschweigens einnimmt (RS 80). Le Strange sei in seinem späteren Alter, weil er seine Garderobe völlig abgetragen hatte und neue Stücke sich nicht mehr zulegen wollte, in Kleidern aus früheren Zeiten herumgegangen, die er bei Bedarf aus den Kästen auf dem Dachboden seines Hauses hervorholte. Es gab Leute, die behaupteten, ihn gelegentlich gesehen zu haben in einem kanarienfarbenen Gehrock oder einer Art Trauermantel aus verschossenem veilchenfarbenen Taft mit vielen Knöpfen und Ösen. Auch hieß es, Le Strange, der immer schon einen zahmen Hahn auf seinem Zimmergehalten hatte, sei nachmals ständig umschwärmt gewesen von allem möglichen Federvieh, von Perlhühnern, Fasanen Tauben und Wachteln und den verschiedenen Garten- und Singvögeln, die teils am Boden um ihn herumliefen, teils in der Luft ihn umflogen. Einmal im Sommerhabe Le Strange in seinem Garten eine Höhle ausgehoben, in der er tage und nächtelang gesessen sei gleich dem heiligen Hieronymus in der Wüste.

Wittgenstein und Proust könnten sich vielleicht einigen auf Sebalds Feldern, aber Józef Korzeniowski, später Joseph Conrad genannt, läßt das nicht zu. Sebald ist der Vorwurf gemacht worden, im Austerlitzbuch die Belgier nicht mit dem nötigen Respekt behandelt zu haben. Die Schuld, in Wahrheit natürlich das Verdienst liegt aber bei Joseph Conrad, der mit The Heart of Darkness das konzentrierteste und eindringlichste zeitgenössische Buch geschrieben hat über die Verheerungen des Kolonialismus, der das wahnwitzigen Aufbrausen des Reichtums in Europa erst ermöglichte. Wenn aber das Herz der Finsternis am Kongofluß liegt, so ist Brüssel der Kopf der Finsternis, und Brüssel ist inzwischen die Hauptstadt Europas. Angesichts solcher Zusammenhänge kann der Dichter auf die empirischen Belgier unserer Tage keine große Rücksicht nehmen. Proust hat eine gewaltige Kathedrale der vergangenen Zeit errichtet, in deren Bau die großen mondänen Hotels samt der sie ermöglichenden fernen afrikanischen Marter nur als kleine Bausteine oder als Flecken im Mauerwerk eingegangen sind. Wie der Dichter Bergotte in den Mauerfleck auf Vermeers Gemälde, so mag sich auch Sebald in die Mauerflecken der Proustschen Kathedrale versenken, Wittgenstein, Austerlitz und der Major Le Strange werden dafür vielleicht schon keinen Blick mehr haben.

Freitag, 8. August 2008

Sehfehler

I'm blind and you can see
I've been blinded totally


Viele Leser haben die Bekanntschaft mit Sebald über das Buch Austerlitz gemacht und waren vielleicht ein wenig schockiert, sich bereits auf der dritten Seite mit vier ausgeschnittenen Augenpaaren konfrontiert zu sehen, zwei tierischen und zwei menschlichen, in dieser Abfolge. Der erzählerische Kommentar zu den photoähnlichen Abbildungen macht gleich deutlich, daß es hier hineingeht in einen zentralen Motivkomplex: Von den in dem Nocturama behausten Tieren ist mir sonst nur in Erinnerung geblieben, daß etliche von ihnen auffallend große Augen hatten und jenen unverwandt forschenden Blick, wie man ihn findet bei bestimmten Malern und Philosophen, die vermittels der reinen Anschauung und des reinen Denkens versuchen, das Dunkel zu durchdringen, das uns umgibt (AUS 11f). Posthum ist der Band Unerzählt erschienen mit gut dreißig solcher von Augenpaare, präpariert von Jan Peter Tripp, darunter solche von Größen wie Beckett oder Onetti, von nicht ganz so bekannten Leuten, und auch die Augen eines Hundes, jeweils unterlegt mit einem Kürzestprosatext von Sebald. Das Thema der Augen schließt unmittelbar an an das der Photographie, die Sebalds Prosa in zwei Formen durchzieht, als Thema und, auffälliger noch, als "Illustration", dies sicher ein falscher Begriff, die Suche nach einer angemessenen Kennzeichnung würde aber zu tief in die Verknüpfungen semantischer Großkomplexe bei Sebald führen. Hier soll es wieder um ein abzweigendes Nebenthema gehen, das der Augenerkrankungen.

Die reichhaltigste Darstellung eines Augenleidens findet sich im Austerlitzbuch selbst. Ich befand mich damals gerade in einiger Unruhe, weil ich beim Heraussuchen einer Anschrift in einem Telephonbuch bemerkt hatte, daß, sozusagen über Nacht, die Sehkraft meines rechten Auges fast gänzlich verschwunden war. Die mir bis ins einzelne vertrauten Figuren und Landschaften hatten sich aufgelöst, unterschiedslos, in eine bedrohliche schwarze Schraffur. Ich ängstigte mich um die Fortführung meiner Arbeit, war aber zugleich erfüllt, wenn ich so sagen darf, von einer Vision der Erlösung, in der ich mich, befreit von dem ewigen Schreiben- und Lesenmüssen, in einem Korbsessel in einem Garten sitzen sah, umgeben von einer konturlosen, nur an ihren schwachen Farben noch zu erkennenden Welt (AUS 54f). Befreit zu sein vom Sehen, Denken, Lesen und Schreiben ist ein wiederkehrendes Motiv bei Sebald, insbesondere aufblühend in dem Prosastück J'aurais voulu que ce lac eut été l'Océan LL 43 ff). Es ist eine Ausweitung der Augenkrankheit und zugleich eine Umkehrung von Krankheit und Gesundheit. Eingelassen in diese Umkehrung ist in der Szene im Austerlitzbuch die Umkehrung von sehen zu gesehen werden: Den Opersängerinnen ebenso wie den jungen Frauen, wenn man sie einem Freier vorführte, gab man ein paar Tropfen einer aus dem Nachtschattengewächs Belladonna destillierten Flüssigkeit auf die Netzhaut, wodurch ihre Augen erstrahlten in einem hingebungsvollen, quasi übernatürlichen Glanz, sie selber aber so gut wie gar nichts mehr wahrnehmen konnten.

Über die ganze Strecke leitmotivisch durchsetzt von Augenschwäche und Sehfehlern ist die Erzählung Paul Bereyter. Bis in den Tod ist die Brille ein festes Merkmal Bereyters. Ich sah ihn hingestreckt auf dem Gleis. Er hatte in meiner Vorstellung die Brille abgenommen und zur Seite in den Schotter gelegt (AW 44). Nicht selten nahm er dabei auch sein Sacktuch heraus und biß, vor Zorn über unsere, wie er vielleicht nicht zu Unrecht meinte, vorsätzliche Dummheit, in es hinein. Regelmäßig tat er nach solchen Rappeln seine Brille herunter, blieb blind und wehrlos mitten in der Klasse stehen, hauchte auf die Linsen und putzte sie so hingebungsvoll, als sei er froh, uns eine Zeitlang nicht sehen zu müssen (AW 52f).Trotz seines schwächer werdenden Augenlichts habe er tagelang in den Archiven gesessen und sich endlose Notizen gemacht (AW 80). Ein ruhiges Sichversenken in bewegte Blätter zur Schonung und Besserung seines Auges war ihm ja angeraten worden von dem Arzt, der ihm den Star gestochen habe (AW 85). Schon als Kind sei er vom sogenannten Mückensehen geplagt worden und habe immer befürchtet, die kleinen dunklen Flecken und perlartigen Figuren, die durch sein Gesichtsfeld huschten, würden nächstens zu seiner Erblindung führen. Tatsächlich redete Paul in jenen Tagen mit der größten Ausgeglichenheit über den, wie er sich ausdrückte, mausgrauen Prospekt, welcher nun vor ihm sich erstreckte, und er stellte die Hypothese auf, die neue Welt, in die er nun im Begriff sei einzutreten, wäre zwar enger als die bisherige, doch verspreche er sich davon ein gewisses Gefühl des Komforts (AW 88). Also das gleiche Motiv des freudige Sichschickens in die Erblindung, hier allerdings mit einem langen, etappenweisen Vorlauf der Sehbehinderung, darin das Motiv der (wenn auch unwirksam) als Waffe gegen die Dummheit eingesetzten Blindheit, und verlängert in den Selbstmord auf den Gleisen mit zuvor sorgsam zusammengelegter Brille. Die Rückgabe des Sehens geht der Rückgabe des Lebens nur um eine sehr geringe Zeit voraus.

Angesichts der immer weiter ausufernden und immer gründlicheren Arbeit am Modell des Jerusalemer Tempels fragt sich Alec Garrad jetzt, wo es allmählich dunkel zu werden beginnt an den Rändern des Gesichtsfelds, ob er den Bau jemals zu Ende führen werde, und ob nicht alles, was er bislang geschaffen habe, bloß ein Machwerk sei (RS 291). Hier verschwimmen befürchtetes Scheitern des Lebenswerks und fortschreitende Erblindung zu einem unauflöslichen Grau.

In den Schwindel.Gefühlen verhalten sich die Dinge anders und doch ähnlich. Es ist mir gewesen, als spürte ich ihre Hand auf meiner Schulter. Selten genug ist es vorgekommen in meinem Leben, daß ich von einer mir an sich fremden Frau angerührt worden bin. Ich erinnere mich beispielsweise, vor Jahren einmal in der verdunkelten Konsultationskammer eines Optikergeschäftes in Manchester gesessen zu sein. Neben mir stand eine chinesische Optikerin, die, wie ein kleines Schild an ihrem Berufskittel anzeigte, wunderbarerweise Susi Ahoi hieß. Wenn sie sich zu mir neigte, um die Linsen auszuwechseln, spürte ich die kühle, von ihr ausgehende Fürsorglichkeit, und einmal rührte sie sogar, viel länger, wie ich mir einbildete, als nötig gewesen wäre, mit ihren Fingerkuppen an meine wie so oft vor Schmerz klopfenden Schläfen (SG 111).

Zum einen scheint Sebald hier in Wettstreit zu treten mit einem Großteil der modernen Literatur, die ihr Heil sucht in einer sich stetig steigernden sexuellen Drastik, indem er ihr ein intensives erotisches Sordino kaum oberhalb der Wahrnehmungsschwelle zurückspielt, und zum anderen ist es das Thema des Repos du guerrier, verwandelt durch die weibliche Zauberberührung zum Repos du penseur. In der Gegenwart Lucianas verläuft das Schreiben schmerzlos, die Chinesin Ahoi lindert die Qual hinter den Augen.

Fraglos ist die Labilität des Auges eine Verästelung der Großthemen Ambivalenz des Denkens, Ambivalenz des Lebens. Um die Nachzeichnung dieser Verästelung sollte es gehen, und keineswegs soll sich ein interpretatorischer Großangriff anschließen. In einer seiner Glossen zu Fontane macht Blumenberg des bloße Gedanke schaudern, eine gerade entdeckte ebenso schöne wie rätselhafte Grabinschrift könne einem der zeitgenössischen theologischen Meisterdenkern zur Auslegung in die Hände fallen. Sebalds Prosa täuscht ständig ein intensives Bemühen um Selbsterläuterung vor, immer noch ein weiterer erhellender Halbsatz wird aufgeklappt. Im Rücken aber dieser fingierten Bemühung um Erhellung breitet sich das Dunkel aus. Wollte man darein mit der interpretatorischen Grubenlampe vordringen, würde man kein semantisches Erz zu Tage fördern, sondern den semantisches Tod beim Grubeneinsturz hervorrufen.