Sonntag, 21. Februar 2016

Dziura w niebie

Bibliotheken

Selysses ist die in seinem Besitz befindliche Bibliothek der Mathild in zunehmenden Maße wichtig geworden. Man kann daraus nicht den Schluß ziehen, er würde sich, in leichter Abwandlung der nicht ohne Grund viel belächelten Prophezeiung von Karl Marx, vormittags regelmäßig mit religiösen Werken spekulativen Charakters beschäftigen, am Nachmittag Traktate von Bakunin und Fourier lesen und sich abends vor dem Einschlafen bei der Lektüre des autobiographischen der Lily von Braun entspannen. Es geht nicht um Lektüre, es ist die Gestalt der Mathild selbst, von der er nicht loskommt und die vor ihm aufsteigt, wenn er nur auf die Buchrücken schaut.

In Tadeusz Konwickis sehr schönem, in der Zwischenkriegszeit spielendem Roman Dziura w niebie (Ein Loch im Himmel; gibt es überhaupt eine deutsche Übersetzung?) geht unter den Kindern und Jugendlichen des Dorfes Młyny das Gerücht um, in der alten aufgelassenen Papierfabrik würden sich Fremde niederlassen, die alles zum Besseren wenden und gleichsam eine neue Welt erschaffen würden. Die Fremden sind aber nicht aufzufinden, und schließlich glaubt nur noch der jugendliche Held des Buches, Polek* Krywko, an sie. Was er findet, als er nachts allein in die Papiernia einsteigt, ist ein riesiger Saal voller Bücher. Sie liegen in Stößen auf vom Alter verbogenen Regalen, sie bedecken in dicken Schichten den Boden, türmen sich in riesigen Stapeln. Es sind polnische Bücher, russische, jüdische und litauische, Bücher aller Nationen, die diesen Landstrich bewohnen. Die meisten haben keinen Einband und fallen auseinander wie ein vergilbtes Kartenspiel. Man kann irgendeines in die Hand nehmen und einen passenden Satz lesen. Sie enthalten nämlich alle Gedanken, Sehnsüchte und Hoffnungen ihrer Zeit. Einige haben schwarze Ecken und sind zerblättert von den Händen wohlwollender Leser, andere sind nicht einmal aufgeschnitten. Sie liegen nun allesamt vergessen als Altpapier in der Papiermühle, die nicht mehr arbeitet.
Wie konnte ein Bücherschatz dieses Umfangs und dieser Vielseitigkeit in ein abgelegenes polnisch-litauisches Dorf gelangen? - offenbar ist er herabgestürzt durch ein Loch im ansonsten bedeckten und grauen Himmel. Selysses verwahrt in den hinterlassenen Büchern die Gestalt der Mathild Seelos. Krywko erkennt in dem Büchermeer nicht die Hinterlassenschaft der erwarteten Fremden. Daß Bücher, die alle Gedanken, Sehnsüchte und Hoffnungen der Menschen enthalten, den Himmel aufreißen, kann Krywko, sporadischer Gast der Dorfschule in Młyny, nicht erkennen. Vielleicht, wenn er Gelegenheit hätte, die fraglichen Seiten in Dziura w niebie zu lesen, gingen ihm die Augen auf.

*Apoloniusz

Montag, 15. Februar 2016

Snámh dá Én

Schwimmvögel paarweise, nachts

Zweimal das gleiche Erleben, ein Mann schaut in die Dunkelheit hinaus - einmal Selysses aus einem Hotelzimmer in Amsterdam und das andere Mal Dr. Quirke aus einer Wohnung in Dublin - und sieht in einem Gewässer zwei Entenvögel schwimmen. Der Anblick nimmt beide auf eigenartige Weise gefangen:

Es war Nacht geworden. Ich trat an die Brüstung und beugte mich hinaus in die warme, von Brausen erfüllte Luft. Einmal, als wieder ein Blitz über den Himmel fuhr, sah ich in dem breiten Graben, der den Garten vom Park trennt, im Schutz der niederhängenden Zweige einer Trauerweide ein Entenpaar, reglos auf der von grasgrüner Grütze ganz überzogenen Fläche des Wassers. In solcher Klarheit ist dieses Bild auf einen Sekundenbruchteil aufgetaucht aus der Dunkelheit, daß ich jetzt noch jedes einzelne Weidenblatt, die feinsten Schattierungen im Gefieder der beiden Vögel, ja sogar die Punkte der Poren der über ihre Augen gesenkten Lidhaut zu sehen vermeinte.

He had got up from the bed and leaned by the window looking out into the moonlit night, and had seen two swans paddling these waters side by side, unreal-seeming creatures, pale enough to be their own ghosts.

Das Erleben ist gleich und doch gegensätzlich. Quirke schaut in eine unter dem ruhigen, milden Mondschein sich surreal verwandelnde Landschaft, in der die ohnehin weißen Schwäne sich in die bleichen Schatten ihrer selbst verwandeln. Ein Blitz verwandelt für Selysses das Dunkel für den Bruchteil eines Augenblicks in ein überhelles, hyperreales Bild, das Dinge zu sehen gibt, die im normalen Tageslicht verborgen bleiben.

Kein Thema hat die europäische Literatur seit der Antike mehr beschäftigt als das der ge- oder mißlingenden Paarbildung, in einer Literatur schreibkundiger Anatiden würde das Thema fehlen wegen allzu großer Leichtigkeit. Die beiden Dichter erwähnen zwar, daß es sich um ein Entenpaar und um two swans handelt, legen aber keinen Ton darauf, auch ihnen ist es vielleicht zu selbstverständlich, um angesprochen zu werden für ihre unwirklichen oder überwirklichen Nachtbilder. Was aber wären die wert ausgestattet mit Einzelexemplaren, was bliebe von der tief in ihnen verborgenen metaphysischen Sehnsucht. Anatiden in der Nacht, anatidae yn y nos.

Donnerstag, 11. Februar 2016

Nahuatl

Tod der Sprache 

Als Austerlitz im Zuge seiner Recherche die tschechische Hauptstadt Prag erreicht und in einem kleinen Hotel auf der Kampainsel ein Zimmer genommen hat, verbringt er die Nacht teils schlaflos, teils geplagt von unguten Träumen. So träumt ihm, wie er vergeblich an Hunderten von Türen läuten mußte, bis in einem der äußersten, schon gar nicht mehr zur Stadt gehörenden Vororte der Hauswart aus einer Art Verlies im Souterrain hervorkam und, nachdem er den ihm hingereichten Zettel studiert hatte, bedauernd die Schultern anhob und sagte, der Volksstamm der Azteken sei leider vor vielen Jahren ausgestorben, höchstens daß hie und da noch ein alter Papagei überlebe, welcher noch etliche Worte ihrer Sprache versteht. Träume sind nicht der Realität verpflichtet, darin besteht ihr Wesen, und so sei nur der Ordnung halber vermerkt, daß die Azteken nicht ausgestorben sind und ihre Sprache, das Nahuatl auch derzeit noch von mehr Menschen gesprochen wird, als es vielleicht Papageien gibt in Mexiko. Die Azteken und ihre Sprache sind ein Traumbild, hervorgerufen durch die Befürchtung, er, Austerlitz möchte niemanden finden, der mit ihm über seine Prager Kindheit noch sprechen könnte.

Das Bild der nur noch von der Tierwelt verwalteten Menschensprache ist zu eindrücklich, um es bei dieser Erklärung bewenden zu lassen. Wir haben die Jugend der Sprache kennengelernt, die immer gegeben ist, wenn ein Kind, so wie Austerlitz in Bala beim Schuster Evans, sie förmlich im Flug erlernt, hier treffen wir die Sprache im moribunden wenn nicht bereits postmortalen Zustand allerletzter Zuckungen. Bei den verschiedensten Gelegenheiten sieht der Erzähler die Erde entvölkert, die Menschen verschlungen von ihren Artefakten. Vom Flugzeug aus fällt sein Blick auf einen Traktor, der wie nach einer Richtschnur, quer über einen bereits abgeernteten Acker kroch, nirgends aber sah man auch nur einen einzigen Menschen. Und auch vom Zug aus war fast nirgends ein Mensch zu erblicken, wenn auch über die nassen Landstraßen genügend in dichte Sprühwolken gehüllte Fahrzeuge brausten. Die Sprache ist der früheste und großartigste Artefakt des Menschen. Der walisischen Haushälterin, Sprecherin einer gefährdeten Sprache, lauerten die Papageien regelmäßig auf, wenn sie mit einem schwarzen Hut auf dem Kopf und dem schwarzen Regendach in der Hand ins Bethaus ging, um auf das unflätigste hinter ihr herzuschreien. Das Alleinerbe der in Andromeda Lodge überwiegend gesprochenen Milliardensprache Englisch anzutreten, vermögen die Vögel im Augenblick noch nicht, aber ihre Zeit wird kommen.

Sonntag, 7. Februar 2016

Förmlich im Flug

Niemcy

Bei Stammesgesellschaften ist die Eigenbezeichnung oft mit Menschen zu übersetzen, nur das eigene, vielleicht dreitausend Mann umfassende Volk, Frauen und Kinder abweichend von Rabelais' Rechenansatz mitgezählt, waren Menschen, die anderen nicht. Der unwiderlegliche Beweis: man kann sie nicht verstehen, sie haben keine Wörter, grunzen wie das Vieh, kein Gedanke, hinter diesen Lauten könne sich eine artikulierte Sprache verbergen, über die verfügen dank Gottes unermeßlicher Gnade nur wir selbst. Noch heute bezeichnen die Slawen uns Deutsche offiziell und kaum in Übereinstimmung mit den Menschenrechten als die Sprachlosen, die Stummen, die Barbaren: Niemcy. Uns wiederum erscheint es als ein Wunder, wenn sich kleinste Kinder am polnischen Ostseestrand beim Sandburgenbau gewandt und ohne jede Mühe in ihrer, wie uns scheint, unerfindlichen Muttersprache unterhalten, auch wenn sie vielleicht die Reihen der hellen und der dunklen Sibilanten noch nicht sauber auseinanderhalten können. Das Grunzen und Zischen der anderen, das vermeintliche Nichts, erweist sich als ein atemberaubendes Wunderwerk. 

Vom Schuster Evans, so Austerlitz, habe er förmlich im Flug das Walisische gelernt. Förmlich im Flug, ohne die Wortmutationen und die anderen grammatikalischen Schwierigkeiten des Keltischen, gegen die der Standardlerner anrennt wie gegen eine Mauer, auch nur zur Kenntnis zu nehmen, schon gar nicht die phonetischen Tücken, gipfelnd in dem doppelten ll. Austerlitz war zu dieser Zeit kaum älter als die kleinen Polen an der Ostsee, in der für das Spracherlernen noch elastischen Lebensphase, und er erlernt das Walisische aus märchenhaften Erzählungen über die Toten und Untoten, aus volkstümlichen Dichtungen sozusagen. Die Dichter spüren die Verpflichtung, das Wunderwerk der im Flug erlernten Sprache am Fliegen zu halten, Sätze zu bilden, die von der Erde abheben und mitsamt ihrer Bedeutungsfracht auf den Kreisen der Prosa höher und höher getragen werden wie ein Segler auf den warmen Strömungen der Luft, so daß auch den Leser ein Gefühl der Levitation der Levitation ergreift. Mae Duw yn wych ac rydym yn ei weision.

Donnerstag, 4. Februar 2016

Trunksucht

In Tirol und anderswo

Wer in den siebziger Jahren zu einer internationalen Veranstaltung in die Volksrepublik Polen reiste, konnte erleben, wie die zuhaus unter einer preisbasierten Quasiprohibition leidenden Skandinavier der Verlockung des bei unbürokratischem Geldwechsel praktisch kostenlosen Wodkas kaum Widerstand entgegenzusetzen hatten, ihre geistige Frische blieb dementsprechend vom ersten bis zum letzten Tag des Aufenthalts gemindert. Die Iren und anderen Kelten schlugen sich, vermutlich aufgrund eines anhaltenden und gleichmäßigen Trainings, um einiges besser. In der Literatur gehen sie allen anderen voran unter der Leitung von Dylan Thomas, von dem es heißt, er habe sich mit Bedacht und System zu Tode getrunken hat. Brendan Behan, selbsternannter drinker with a writing problem, war ihm dicht auf den Fersen, Flann O'Brien blieb schon um einiges zurück, fast schon ein normaler writer with a drinking problem. Wahrhafte Temperenzler finden sich unter den keltischen Literaten kaum.

Der Trunksucht zuliebe macht der Dichter für einmal einen Unterschied zwischen Hauptdarstellern und Komparsen, Hauptdarsteller bleiben verschont. Der Erzähler ist gleichsam umgeben von Trunksucht aufgewachsen. Im übel beleumundeten Wirtshaus, in dessen Obergeschoß die Eltern ihre Wohnung hatten, hockten die Bauern bis tief in die Nacht hinein und tranken bis zur Bewußtlosigkeit. Jetzt, im Mannesalter, unterwegs von Oberjoch nach W., kehrt er beim Engelwirt ein und genehmigt sich einen halben Liter Tiroler, im Grunde eine besorgniserregende Menge für die Mittagszeit. Am frühen Morgen war er im Innsbrucker Bahnhof auf eine bereits um einen Kasten Gösser-Bier versammelte Sandlertruppe gestoßen, die der Spiritualität in ihrer prekären Doppeldeutigkeit recht nahe kam. Verbunden untereinander durch die weit über die Landesgrenzen hinaus für ihren Extremismus bekannte Tiroler Trunksucht, verbreiteten sich die Sandler, die durch die Bank einen Zug ins Philosophische, ja sogar ins Theologische hatten, über das Tagesgeschehen sowohl als über den Grund aller Dinge, wobei es regelmäßig gerade denjenigen, die besonders lauthals das Wort ergriffen, mitten im Satz die Rede verschlug oder aber sie winkten voller Verachtung ab, weil sie den Gedanken, den sie gerade noch im Kopf gehabt hatten, nicht mehr in Worte fassen konnten.

Als namentlich benannten Trunkenbold lernen wir einzig den Jofferle Zufrass kennen, vermählt mit der Regina Zufrass, einer entsetzlich tüchtigen Frau, die ständig und selbst am Sonntag auf das strengste beschäftigt war. Jofferle verdingte sich als Fuhrknecht im Dorf herum. Die Regina war wenig zufrieden mit ihm, und er seinerseits fürchtete sich vor dem Heimgehen zu ihr. Man fand ihn oft betrunken neben der umgekippten Heufuhre liegen. Das Heu wurde wieder aufgeladen und das Jofferle von der Regina geholt. Anderntags blieben die grünen Läden ihrer Wohnung geschlossen. - Wie immer beim Dichter wächst auch im Fall der Trunksüchtigen die freundliche Nachsicht mit den Menschen, je mehr sie Gestalt annehmen und uns leibhaftig vor Augen treten. Naturgemäß ist das keine Aufforderung, das trunkene Treiben gutzuheißen, auch wenn man es dem Jofferle schwerlich verdenken kann.
Ein erneuter Blick auf Polen fällt zugleich auf Marek Hłasko. Die näheren Umstände seines Todes sind ungeklärt, Alkohol aber war so oder so mit im Spiel. Auf einigen späten Bildern sieht er, in entsprechender Pose, gerade so aus, wie der dem Geschwindigkeitsrausch verfallene James Dean zweifellos ausgesehen hätte, wären ihn zehn weitere Jahre vergönnt gewesen. In der Stadt Kielce wurde für Hłasko ein Denkmal aufgestellt, im Mundwinkel eine Zigarette, der er noch enger verbunden war als dem Alkohol. Es ist nicht bekannt, ob irgendwann und an anderer Stelle noch jemand auf diese den Bemühungen der Gesundheitsfürsorge entgegenlaufende Weise geehrt worden ist. Im vergangenen Jahr ist posthum ein Frühwerk Hłaskos erschienen, Wilk. In Polen war das eine kleine literarische Sensation, die jenseits der Grenzen unbemerkt blieb.

Mittwoch, 3. Februar 2016

Nápoles

En las estampas

Im Hotelzimmer in Neapel war auf einer Tafel zu lesen:

PAPALINI ET FILS
COIFFEUR POUR DAMES ET MESSIEURS.DANS L'HOTEL
AVEC SALONS SEPARÉS
Shampoing. - Ondulation. - Applications de teinture
au henné. Décoloration. - Postiches d'Art.
Massage de visage. - Manucure.
Y seremos tan bárbaros para ne necesitar nada de esto, fragt der Capitán Shanti Andiá seinen Reisegefährten, den anthropologisch interessierten Dr. Recalde. Tú no necesitas un poco de ondulation, antropólogo? Selysses muß als notorischer Alleinreisender auf einen förderlichen Meinungsaustausch dieser Art verzichten. Beim Studium der Veroneser Zeitungen aus dem Jahre 1913 gleitet sein Blick immer wieder ab auf die Reklameanzeigen und wie der immer einsame Besucher im abgedunkelten Kinosaal sieht er allerhand Stummfilmszenen vorüberziehen, er sieht korrekt gekleidete Herren die heimlich zum Haut- und Geschlechtsarzt Dott. Ringger hineinspringen, das blasse Antlitz einer Patientin, die sich biegt und windet im Behandlungsstuhl des Zahnarztes Dott. Pesavento, er sieht Offenbarungen wie beispielsweise die wie ein Versprechen des ewigen Lebens in der Sonne glänzende und glitzernde Pyramide aus zehn Millionen Flaschen Tafelwasser Ferro-China zur Rekonstitution des Blutes, die bei einem plötzlichen lautlosen Löwengebrüll lautlos in Milliarden Scherben zersprang. Mit einem Wort, er macht das beste aus seiner einsamen Lage. Ohnehin hat der alleinreisende Selysses sich mit Grillparzer einen gleichgesinnten Reisegefährten im Geiste verschafft, der an nichts Gefallen findet und von allen Sehenswürdigkeiten maßlos enttäuscht ist. Barojas Italienreisende sind ähnlich gestimmt, vor allem der Vesuv erregt ihr Mißfallen. Primeramente no tenía la forma de un cono perfecto, ni acaba en punto, como era su obligación de volcán clasico; luego, no echaba el humo de una manera solemne i majestuosa, como habíamos visto siempre en las estampas, por ejemplo auf der, die die Engelwirtin Rosina Zobel in W., Allgäu, verwahrt. En vez de subir en una columna recta y decorativa, se desparramaba por los lados, a impulsos de las corrientes de aire. Era un humo vulgar.

Es gibt ein Photo, das Hemingway an Pio Barojas Sterbebett zeigt. Baroja hätte statt seiner den Nobelpreis erhalten sollen, soll er gesagt haben. War das ernstgemeint oder eine Floskel aus einem vorgreifenden Nachruf, hatte er Zustimmung oder Widerspruch erwartet?

Montag, 1. Februar 2016

Schweigsam

Alleinreisende

Alleinreisende sind in der Regel dankbar, wenn sie, nach manchmal tagelang nicht unterbrochenem Schweigen, eine Ansprache finden. Verschiedentlich hat es sich bei solchen Gelegenheiten sogar gezeigt, daß sie dann bereit sind, sich einem fremden Menschen rückhaltlos zu öffnen. In der Regel: man könnte glauben, es handele sich um ein allgegenwärtiges Phänomen, Sebalds Erzähler müßte immer wieder auf Leute wie Austerlitz treffen, und Austerlitz müßte seine Geschichte immer wieder geduldigen Zuhörern in Bahnhöfen und an anderer Stelle erzählen. Beides trifft offenbar nicht zu, der Erzähler begegnet im gesamten Werk keinem zweiten Alleinreisenden, der sich ihm rückhaltlos öffnet, und wenn er Austerlitz unter den unwahrscheinlichsten Umständen im Café des Espérances im Lüttich oder in der Salon Bar des Great Eastern Hotel in London wiedertrifft, setzt der seine Erzählung genau an der Stelle fort, an der er sie beim letzten Mal unterbrochen hatte, ein eingermaßen sicheres Indiz dafür, daß er in der Zwischenzeit geschwiegen hatte. Der Erzähler trifft bei weitem mehr Alleinhausende als Alleinreisende.

Aurach ist von Haus aus kein Alleinreisender. Das Warten auf den Bahnhöfen, die Lautsprecheransagen, das Sitzen im Zug, die Blicke der Mitreisenden, all das ist ihm eine einzige Pein, darum ist er auch in seinem Leben so gut wie nirgends gewesen. Auch beim Richter Farrar oder beim Landwirt Garrad denkt man nicht ans Reisen, in ihrem Atelier, ihrem Rosengarten, ihrer Scheune sind sie aber verhältnismäßig auskunftsfreudig. Der Erzähler ist für seine Erzählung angewiesen auf diese Auskünfte, aber so recht gefallen aber will ihm die Wortflut nicht. Er ersinnt den Major Le Strange, der Florence Barnes als Haushälterin engagiert unter der ausdrücklichen Bedingung, daß sie die von ihr zubereiteten Mahlzeiten mit ihm gemeinsam, aber unter Wahrung absoluten Stillschweigens einnimmt, auch er selbst wird naturgemäß das Schweigegebot einhalten. Und er ersinnt die Mathild Seelos, die von ihren Münchener Eskapaden in einem nahezu sprachlosen Zustand nach Haus zurückgekehrt ist. In ihrer Eingezogenheit hat sie sich in zunehmendem Maße wohlgefühlt, ja die Art wie sie Jahr um Jahr unter den von ihr verachteten Dorfbewohnern herumgegangen ist, hat etwas durchaus Heiteres gehabt. Heiter stellen wir uns auch Le Strange in seinen späten Jahren vor. Erheitert die Prosa die Figuren oder ist es umgekehrt? - man wird es nicht unterscheiden können.

Auch wenn Le Strange weniger schweigsam wäre, käme Selysses mit ihm nicht mehr ins Gespräch, denn er ist bereits tot, bereits tot sind auch Bereyter und Adelwarth. Bereyter und Adelwarth hatte Selysses als Kind gekannt, den Großonkel Adelwarth hatte er nur ein einziges Mal gesehen, bei eine Familientreffen. Der Großonkel hatte eine Rede gehalten, an deren Inhalt er sich längst nicht mehr erinnern kann, nur soviel, daß er mühelos nach der Schrift redete und Wörter und Wendungen gebrauchte, von denen er, der Knabe, allenfalls ahnen konnte, was sie bedeuteten. Von dem was der redegewandte Adelwarth sonst noch gesagt hat in seinem Leben, sind kaum mehr Worte überliefert als die des Herrn am Kreuz. Er hat wohl immer weniger gesprochen.

Als Aurach des Redens müde ist, gibt er Selysses das Tagebuch der Mutter zum Lesen. Auf dem Schreibtisch des Erzählers liegt auch das Agendabüchlein des Ambros, das ihm die Tante Fini bei seinem Winterbesuch in Cedar Glen West ausgehändigt hatte. In dem Agendabuch erfahren wir mehr über Cosmo Solomon als über Adelwarth selbst, der sich gleichsam hinter Cosmo versteckt. Mathilde Seelos hinterläßt keine Aufzeichnungen, immerhin aber eine Bibliothek, in der unter anderem religiöse Werke spekulativen Charakters und Gebetsbücher mit zum Teil drastischen Abschilderungen der uns alle erwartenden Pein neben Traktaten von Bakunin, Fourier, Bebel, Eisner und Landauer standen. Die schweigende und zugleich beredte Bibliothek der Mathild ist Selysses in zunehmenden Maße wichtig geworden. Le Strange, an Verschwiegenheit unübertroffen, hinterläßt, nach allem was wir erfahren, weder Aufzeichnungen noch eine Bibliothek.

Übertrieben wäre naturgemäß der Wunsch, das gesamte Oeuvre würde von Mathild Seelos erzählt, so daß der uns vertraute sebaldnahe Erzähler, Selysses, in die zweite Position rücken würde, aus der heraus er ihr, der Mathild, erzählt, was Marie de Verneuil ihm über Austerlitz erzählt hat, der ihr erzählt hatte, wie Penelope Peacefull das Kreuzworträtsel löste, während aus dem Radio leise Stimmen drangen, die von einem Kindertransport im Jahre 1939 von Prag nach England erzählten. Die Stimmen aus dem Radio sind kaum mehr vernehmlich, sie verstummen, und Schweigen breitet sich aus.