Freitag, 21. Februar 2014

Kritiklos

Kapitalismus et al.

 
Wer Ohren hat zu hören, der hört in den Ausführungen des jungen Literaturkritikers Sebald den forschen Ton Adornos. In der dichterischen Prosa ist dieser Klang dann verschwunden. Nur vereinzelt ist noch etwas wahrzunehmen, was als Kritik in der Nachfolge der kritischen Theorie gelten kann, etwa dann, wenn es um Touristen und Feriengäste geht. Es sind die weniger gelungenen Stellen, wenn die Belgier völlig ungerechtfertigt und jenseits aller Kritik als Volk von Krüppeln und Irren eingeordnet werden, ist das literarisch überzeugender. Allgemein gesprochen, hat die Kritik weithin der Klage Platz gemacht.

Die übliche Kritik ist Machtkritik, sie kritisiert die Ausübung der Herrschaft von Menschen über Menschen, ihr bekanntesten Terrain ist die Kapitalismuskritik, der Mensch und nicht das Geld soll die Welt regieren. Kapitalismuskritik klingt in Sebalds Essaywerk verschiedentlich an, orientiert sich dabei weniger unmittelbar an Marx als etwa an der literarischen, latenten Kritik Gottfried Kellers. Adorno war zunächst ein relativ orthodoxer Marxist, der auf die Entfesselung der Produktivkräfte setzte zum Zwecke der Beherrschung der Natur und der Emanzipation des Menschen. Im Kreis der Künstlerschar der jungen Sowjetmacht kam unter anderen der Vorschlag auf, das gesamte Areal von Taiga und Tundra als unnütz und dem Menschen nicht tauglich einzubetonieren, sicher eine weniger praktische als symbolische Petition, deswegen aber nicht weniger grauenhaft, zeigte sie doch, mit welch Geistes Kindern man es zu tun hatte. Gnadenlose Herrschaft über die Natur zur Errichtung eines herrschaftsfreien Raums der Freiheit, das konnte nicht gutgehen und machte sich bei Adorno und anderen nach einigem Nachdenken als Dialektik der Aufklärung geltend. Auf deren dunkle Seite ist Sebald weiter vertreten.

Es ist nicht sichtbar, daß Sebald sich nach der sprachlich auffälligen Entfernung von Adorno eines anderen philosophisch-soziologischen Beistands versichert hätte. Wittgenstein fasziniert ihn als Gestalt, seine Philosophie hat er nicht vertieft studiert. Luhmann zitiert er einmal, ist aber nicht mit ihm vertraut geworden. Immerhin hätte er hier eine theoretische Untermauerung seiner Vorstellung finden können, wonach sich das Weltgeschehen über unsere Köpfe hinweg vollzieht: Alles könnte ganz anders sein (wenn denn die gesellschaftliche Evolution anders verlaufen wäre, nicht etwa, wenn die Revolution gelungen wäre), und kaum etwas ist zu ändern (alles ändert sich ständig durch unser Tun, aber nicht gemäß unseren Wünschen). Die alten Meister, Giotto, Tiepolo, konnten das sich nach Gottes Willen vollziehende Geschehen über unseren Köpfen noch beherzt ausmalen, wir müssen das evolutionierendes Geschehen sozusagen von unten her hinnehmen. In beiden Fällen aber, zur Zeit Gottes und jetzt ohne ihn, haben wir es mit einer Welt zu tun, die in jeder Einzelheit, nicht aber insgesamt zu kritisieren ist, geschweige denn, daß eine Generalbereinigung möglich und das Wahre nicht mehr im Falschen wäre.

Die Entfesselung der Produktivkräfte zeichnet Sebald am Beispiel der traurigen und menschenleeren Stadt Manchester nach. Wem auch sollte die eigenverantwortliche Lenkung der Menschheit, wenn sie denn möglich wäre, anvertraut werden. Die Philosophen kommen, anders als noch die Alten dachten, nicht in Betracht. Die Herren des Geldes stehen bereit, sind aber allgemein unbeliebt, auch bei Selysses, die Arbeiter aus den Goldminen der City, wie sie sich zur frühen Abendstunde an ihrem gewohnten Trinkplatz einfinden, alle einander ähnlich, in ihren nachtblauen Anzügen, gestreiften Hemdbrüsten und grellfarbenen Krawatten, mit den Gewohnheiten einer in keinem Bestiarium beschriebenen Tierart, dem engen Beieinanderstehen, dem halb geselliges, halb aggressives Gehabe, dem Freigeben der Gurgel beim Leeren der Gläser, dem immer aufgeregter werdende Stimmengewirr, dem plötzliche Davonstürzen des einen oder anderen. Die Politiker nach Hitler werden schon gar nicht mehr erwähnt, ab und zu ein kurzer sarkastischer Blick auf Brüssel, Volksabstimmungen führen zu unerwünschten Ergebnissen, und die Wissenschaften können für die erhoffte Klarheit nicht sorgen.

Mittwoch, 19. Februar 2014

Keltisches Feuer

Meibion Glyndŵr

Es wird berichtet, im Haushalt von Ronald Stuart Thomas habe es nur ein Elektrogerät gegeben, einen Staubsauger, und auch der sei nach kürzester Zeit bereits als zu laut empfunden und wieder entfernt worden. Den walisischen Dichter kann man sich gut in einer Reihe vorstellen mit den Zurückgezogenen, Weltflüchtigen, die Selysses auf seinen englischen Wanderungen aufsucht, Garrad, Hamburger, Farrar, Le Strange. Daß er seinen Wohnsitz naturgemäß nicht in Südostengland hatte, tut nichts zur Sache, den Dichter trägt es mühelos bis nach China, und nach Irland ohnehin, das, wenn nicht mit dem Flugzeug, in der Regel auf einer Fähre von Ynys Môn aus erreicht wird, Wales in dieser Hinsicht - detaillierte Landeskenntnisse werden dann in Austerlitz unter Beweis gestellt - eine bloße Zwischenstation. Thomas’ engster Verwandter ist ohnehin kein Engländer, sondern der Venezianer Malachi, der, von Beruf Astrophysiker, bevorzugt nachdenkt über die Auferstehung und zumal über den Satz, demzufolge unsere Gebeine und Leiber von den Engeln dereinst übertragen werden in das Gesichtsfeld Ezechiels. R.S. Thomas, von Beruf Prediger, schaut aus der entgegengesetzten Richtung auf die gleichen Fragen: I go to church to proclaim with my fellows: I believe in the Ressurection - of what? Here everything is electric and automatic. How shall we sing the Lord’s song in the land of the electron. Elektrizität als Hindernis für den Glauben, wiederum von der anderen Seite aus hatte Lenin korrespondierend angenommen, Elektrifizierung würde das große befreiende Säkularisierungswerk im Zeichen des Kommunismus erfolgreich abschließen. Die große Zeitenwende, der Austausch von Religion gegen Wissenschaft und Technik, ist das verborgene Zentrum auch in Sebalds Werk. Der geplante Austausch gestaltet sich für die Nachdenklichen offenbar schwieriger als der Ersatz eines alten Autos durch ein neues.

Mrs. Ashbury erzählt von den Brandschatzungen während des irischen Bürgerkriegs, insgesamt sollen mehr als zweihundert Herrenhäuser der Engländer niedergebrannt worden sein. Offenbar galt das Niederbrennen der Häuser das wirksamste Mittel zur Ausräucherung und Vertreibung der verhaßten englischen Staatsgewalt. Ihr Mann, so Mrs. Ashbury, habe sich zu den irischen Verhältnissen nie geäußert, obwohl er schreckliche Dinge mitangesehen haben muß, sie selbst habe gar nichts verstanden von den Geschehnissen. Der Dichter nimmt keinerlei Stellung in dem sichtbar werdenden Konflikt, ihm geht es allein um die Unschuldigen der Geschichte, die Ashburys und viele andere.
R.S. Thomas hat sich als Pazifisten gesehen, gleichzeitig aber die Söhne des einem breiteren Publikum aus Cowper Powys’ Roman bekannten Glendower, y Meibion Glyndŵr, die in den achtziger und neunziger Jahren ihrerseits mehr als zweihundert Ferienhäuser reicher Engländer in Wales abgebrannt haben, wenn nicht mit Tat - dafür war er schon zu alt – so doch mit Rat unterstützt. Den Umstand, daß es dabei nicht ohne Unfälle und Schäden an Leib und Leben abging, hat er mit der Bemerkung quittiert: what is one death against the death of the whole Welsh nation? Der Amtsbruder Emyr Elias hatte sich noch beschränkt auf die Drohung mit dem Höllenfeuer, an das man glauben kann oder auch nicht.

Selysses kennt sie, die reichen Londoner, die Arbeiter aus den Goldminen der City, die sich zur frühen Abendstunde an ihrem gewohnten Trinkplatz einfinden, alle einander ähnlich, in ihren nachtblauen Anzügen, gestreiften Hemdbrüsten und grellfarbenen Krawatten, und hatte versucht, die rätselhaften Gewohnheiten dieser in keinem Bestiarium beschriebenen Tierart zu begreifen, ihr enges Beieinanderstehen, ihr halb geselliges, halb aggressives Gehabe, das Freigeben der Gurgel beim Leeren der Gläser, das immer aufgeregter werdende Stimmengewirr, das plötzliche Davonstürzen des einen oder anderen. Am Wochenende erholen sie sich dann auf ihre Art an der walisischen Küste. Der aus Selysses’ Wandergebiet Norfolk stammende englische Reiseschriftsteller George Borrow hält 1854 in seinem Bericht über das Wilde Wales seinen arroganten und im Umgang plumpen Landsleuten immer wieder die von ihnen verachteten, dabei aber, wie er sie sieht, auf eine natürliche Weise kultivierten Cymry entgegen. Heute schauen wir auf den einzelnen Menschen und vermeiden derartige Urteile.
Das Wunder des aus Kohlenstoff entstandenen Lebens geht in Flammen auf, brucia continuamente. Das Feuer begegnet und in Sebalds Werk in jedweder Form, als stille, unsichtbare Verbrennung zur Erzeugung der Körperwärme, als Glimmen, Glosen, Entflammen, Lodern, als Brand des Kairoer Operhauses, der Stadt London, als die Feuerwalzen des Bombenkriegs, als das offenbar ersehnte Hervorbrechen des Erdfeuers aus den böhmischen und anderen Vulkanen.

Sebalds Einsiedler sind zivilisierte Zivilisationsflüchtige, den Einsiedler im Naturzustand kennt er nicht, Iago Prytherch his name, though, be allowed, just an ordinary man in the bald Welsh hills. There is something frightening in the vacancy of his mind. His clothes, sour with years of sweat and animal contact, shock the refined, but affected, sense with their stark naturalness. Yet he is your prototype.

Fy nghyfaill, efo'th lonydd braidd ar fryn a gwaun yn ymladd yn ddi-dor a'r ddaear ddidrugaredd, so ist, glaube ich, der Wortlaut.

Samstag, 15. Februar 2014

Am dunklen Rhein

Taumel

Feelings my friend wrote Schumann are stars which guide us only under a dark sky. Wir haben erfahren, daß die Gefühle in der ursprünglichen deutschen Fassung des Gedichts Sterne waren, die nur am lichten Tag uns leiten. Können wir uns daraufhin auf die Lichtverhältnisse in den anderen Gedichten aus For Years Now noch verlassen, ist es ohne jeden Zweifel the brown coat, the one he used to wear on his night journeys, der nachgesendet werden soll und nicht eher der helle Staubmantel für Sonnentage, wenn nicht gar, für nasses Wetter, der berühmte blaue Regenmantel mit der schadhaften Stelle an der Schulter - immerhin ist gleich darauf vom blue gras die Rede, seen through a wafer thin layer of frozen water.

Seit gut dreihundert Jahren steht die Welt im Zeichen intensiver Erhellungsbemühungen, der lichte Schein der Toleranz etwa soll noch die finstersten Winkel in ein mildes Licht tauchen, dort, wo vor Zeiten das Strafgericht des Herrn eingeschlagen wäre mit den dunklen Farben des Fegefeuers und den Qualen der Verdammnis. Die Nacht wird buchstäblich zum Tag gemacht, um 1870, als bereits allenthalben an Projekten zu einer totalen Illumination unserer Städte gearbeitet wurde, sollen zwei englische Wissenschaftler mit den seltsamerweise zu ihren Forschungen passenden Namen Herrington und Lightbown versucht haben, aus der von den toten Heringen ausgeschwitzten luminösen Substanz die Formel zur Erzeugung einer organischen, sich fortwährend von selber regenerierenden Lichtessenz abzuleiten. Das Scheitern dieses exzentrischen Planes war ein kaum nennenswerter Rückschlag in der sonst unaufhaltsamen Verdrängung der Finsternis. – Innerhalb eines Gegensatzpaares wird jeder nach seinem Temperament die eine oder aber die andere Seite bevorzugen, alle Versuche aber, die eine Seite zugunsten der anderen verschwinden zu lassen, sind zum Scheitern verurteilt. What is it that so darkened our world, Beleuchtungsapparaturen sind keine Antwort auf diese Frage.
Auf welchen uns bekannten Nachfahrten mag Selysses den braungefärbten Mantel getragen haben; auf der Fahrt von Wien nach Venedig im Herbst 1980 mag er von Nutzen gewesen sein, ebenso auf der Flucht zurück über den Brenner noch im selben Jahr, als der Regen schon in Schnee überging. Bei der Wiederholung der Fahrt im Sommer 1987 war leichteres Tuch angesagt. Oder geht es gar nicht in erster Linie um die Alpen, sondern um das Rheintal: Rhine Valley at dusk northward we go into the bays of darkness.

Die Fahrt mit dem Zug durch Süddeutschland findet bei Taglicht statt und ist gänzlich unspektakulär, Waldparzellen, Kiesgruben, Fußballplätze, Werksanlagen, Kolonien von Reihen- und Einfamilienhäusern hinter Jägerzäunen und Ligusterhecken. Die Situation ändert sich von Grund auf, als in Heidelberg, kurz vor Erreichen des Bezirks der Rheinromantik, die Winterkönigin einsteigt. Die Erzählung folgt nun ihrem Blick in eine von ihr verzauberte Landschaft. Von einem starken Wind getrieben wehten die Heckflaggen der die graue Flut durchpflügenden Lastkähne nicht nach rückwärts, sondern wie auf einer Kinderzeichnung nach vorne zu. Das Licht hatte abgenommen, bis nur mehr eine fahle Helle das Stromtal erfüllte. Ein allmählich eintretendes Schneetreiben überzog den Prospekt, wie auf einer japanischen Tuschzeichnung, mit einer feinen, fast waagerechten Schraffur, und es war, als seien wir auf dem Weg hinauf in den hohen Norden und näherten uns bereits der äußersten Spitze der Insel Hokkaido. Bei fahlem Licht und kalter Witterung ist der Nachtmantel nicht fehl am Platz. Die Winterkönigin, die aller Wahrscheinlichkeit nach die Verwandlung der Rheinlandschaft bewirkt hatte, war auf den Gang herausgetreten, um das schöne Schauspiel zu betrachten. My love I am sending you this picturesque view of the river Rhine as I will be leaving today by the six o’clock steamer: wir fragen uns, wie Selysses Name und Anschrift der schönen Fremden, die anzusprechen er dumm und stumm versäumt hatte, dann doch noch in Erfahrung bringen konnte. Ausgestiegen ist sie am Bahnhof Bonn, dürfen wir Bewohner der Bundesstadt sie in unserer Mitte vermuten?

Diesmal von Böhmen her kommend - ein grenzen- und namenloses, gänzlich von finsteren Waldungen überwachsenes Land war zu durchqueren - biegt der Zug irgendwo hinter Frankfurt in das Rheintal ein. In dem in der Dämmerung schwer dahinfließenden Strom liegen die Lastkähne, bis an die Bordkante im Wasser, scheinbar bewegungslos, hinter den schiefergrauen Felsen und den Schluchten, hineinführen verbirgt sich ein vorgeschichtliches und unerschlossenes Reich, die Geschichte der Mordstadt Bacharach, der Binger Mäuseturm, das große Heer der Mäuse, wie es sich in die Fluten stürzt und, die kleinen Gurgeln nur knapp über dem Wasser, verzweiflungsvoll rudert, um auf die rettende Insel zu gelangen. Der große, unregulierte, stellenweise über die Ufer getretene Strom, so wie er von früheren Reisenden beschrieben wurde, in seinem tiefen Wasser das Bild des untergegangenen Kirchdorfs Llanwddyn. Die bereits untergehende Sonne erfüllt das ganze Tal mit ihrem Glanz, aus dem heraus es wie die Morgenröte einer anderen, vergangenen Reise strahlt. Drei riesige Schlote - jeder Rheintalreisende kennt diese Wahrzeichen - ragen hinauf in den Himmel, so als sei das östliche Ufergebirge in seiner Gesamtheit ausgehöhlt und nur die äußere Tarnung einer unterirdischen, über viele Quadratmeilen sich erstreckenden Produktionsstätte.
Northward into the bays of darkness: wo ist dieses Norden, diese Kälte, dieses Dunkel? Bis ans äußerste Nordmeer, wie Georg Wilhelm Steller, müssen wir vielleicht nicht reisen. Hokkaido wurde ins Gespräch gebracht, aber vor allem wohl wegen der nach der Art japanischer Zeichnungen schraffierten Landschaft. In Bala, Wales, hat es Austerlitz immer gefroren, und das Predigerpaar erlebte die völlige Eindunklung. Die topographische Suche ist aber wenig maßgeblich und verfehlt, wenn es um einen unbestimmten Ort der Dunkelheit und Kälte in unserem Inneren geht. Immerhin, die Umkehrung: southward into the bays of darkness, ist nicht gut möglich. Selysses Italienreisen mögen im großen und ganzen scheitern wie zuvor diejenige Kafkas und wie vielleicht sogar diejenigen Stendhals, allein schon der Aufenthalt im Giardino Giusti spricht eine andere Sprache, dort, wo ein weißes türkisches Taubenpaar mit einigen wenigen klatschenden Flügelschlägen steil über die Wipfel sich erhob, eine kleine Ewigkeit stillstand in der blauen Himmelshöhe und dann, vornüberkippend mit einem kaum aus der Kehle dringenden gurgelnden Laut, herabsegelte, ohne sich selbst zu rühren um die schönen Zypressen herum, von denen die eine oder andere vielleicht an die zweihundert Jahre schon gestanden hatte an ihrem Platz. Der hellste Ort aber liegt im Norden, Andromeda Lodge in Gwynedd, Gogledd Cymru. Northward oder southward, das mittlere Land mit dem Rheingraben ist immer nur Transit, aufzuhellen allenfalls von einer Winterkönigin.

Sonntag, 2. Februar 2014

Avantgarde

Napoleons Farben

In dem Film The Fountainhead, deutscher Verleihtitel: Ein Mann wie Sprengstoff, verkörpert Gary Cooper einen avantgardistischen Architekten, unverstanden von der Masse seiner Mitbürger und daran schwer leidend. Der Eindruck ist vernichtend, keiner, der sich den exemplarischen Helden nicht zurück aufs Pferd wünscht, unterwegs, por el llano, por el viento, nach Vera Cruz, oder, von allen verlassen und unbeugsam, auf dem Gang durch die nach traditionellen Mustern erbauten wenigen Straßenzüge von Hadleyville. Avantgarde, Vorhut, ist ein Begriff aus der Militärsprache. Er bezeichnet den vordersten Truppenteil, dem die restlichen Teile gleichsinnig nachrücken. Weitaus häufiger und abgewandelt wird der Begriff seit langem in Kunst und Kultur verwandt. Gemeint ist hier eine präsumtive künstlerische Elite, die sich als voran- und vorausschreitend erlebt und auf eine nicht ohne weiteres gleichgesinnte, weit zurückbleibende, letzten Endes dann aber doch mitgezogene Truppe spekuliert. Wenn der Kontakt zur Truppe vollends abreißt, weil die sich gar nicht bewegt oder aber unbekümmert um die Avantgarde in eine andere Richtung geht, ergibt sich für diese eine schwierige Situation, im Militär- sowohl wie im Kunstbereich. Eine Avantgarde mit nichts im Rücken gilt als versprengter Haufen.
Sebald wird mit dem Begriff der Avantgarde eher selten in Verbindung gebracht, am ehesten noch mit seiner letzten, bereits posthumen Publikation For Years Now. Tess Jarays Bildausstattung fügt sich ein in den Rahmen einer inzwischen klassisch gewordenen Avantgarde. Die Avantgarde ist ein Kind, in ihrer Blütezeit eher schon ein Enkel der großen aufklärerischen Zeitenwende, der großen Blickwende von zurück in die Vergangenheit nach vorn in die Zukunft, dem heftigsten von der Historiographie je vermessenen Amplitudenausschlag, nicht auspendelbar. Mit der französischen Revolution teilt die Avantgarde die Vorstellung vom völligen Neubeginn, Tabula rasa. Bereits Hegel aber hatte als leibhaftiger Beobachter der französischen Vorgänge die Unvermeidlichkeit des Übergangs in den Terrors nachgezeichnet, die sich ergibt beim Versuch, alle Verbindungen zur Vergangenheit und jede Verwurzelung in ihr zu kappen und aufzuheben. Man kann sich fragen, ob Tabula rasa in der Kunst weniger terroristisch ist als in der Politik, auch wenn das Blut nicht so offenkundig fließt.

Beim ständigen Voranschreiten erweisen immer weitere Wege sich als Sackgassen. Angelangt beim Monochromen Blau bleibt der Malerei nur noch ein einziger weiterer Schritt voran, die Einstellung des Betriebs. Becketts Helden ist das Gefühl der Vorwärtsbewegung gründlich abhanden gekommen, und auch Selysses ist auf seinen Reisen und Wanderungen kaum zielstrebiger, Benjamins Engel hat sich gedreht, schaut, wie vor der großen Wende üblich, zurück und findet dort auch keinen rechten Trost. Soll man Proust zur Avantgarde zählen oder Kafka? Die sich nach eigenem Selbstverständnis mit ständigen Neuheitswerten überschlagende und fortwährend selbst überrollenden Welle müßte längst über sie weggegangen sein. Ihre Neuheit aber scheint beständig, schlägt man zum ersten Mal einen Band Kafka oder Proust auf, so ist es, als treffe man auf den Türsteher, und er öffnete dir ohne Zögern den allein nur für dich bestimmten Zugang. Eine ungeahnte Welt tut sich auf, und so weit man auch geht, unbekümmert um Neu oder Alt, man kommt nicht an ein Ende.
Das erste Kurzgedicht in For Years Now greift das bereits angesprochene Thema eingeschränkter Chromatik auf: It is said / Napoleon was / colourblind / & could not / tell red / from green. Eine korrespondierende Prosastelle schlägt die Brücke zu Terror und Blut: Die genaueste Wissenschaft von der Vergangenheit reicht kaum näher an die von keiner Vorstellungskraft zu erfassende Wahrheit heran als, beispielsweise, eine so aberwitzige Behauptung wie die, die mir einmal vorgetragen wurde von einem in der belgischen Hauptstadt lebenden Dilettanten namens Alfonse Huyghens, der zufolge sämtliche von dem Franzosenkaiser in den europäischen Ländern und Reichen bewirkten Umwälzungen auf nichts anderes zurückzuführen waren als auf dessen Farbenblindheit, die ihn Rot nicht unterscheiden ließ von Grün. Je mehr das Blut floß auf dem Schlachtfeld, so der belgische Napoleonforscher zu mir, desto frischer schien ihm das Gras zu sprießen.

Das im Buch im Zeilenverlauf vertikal angeordnete Kurzgedicht geht auf uns nieder wie ein winziger Meteor, eine Botschaft des Himmels, die verglüht, bevor wir sie verstehen konnten. Der Belgier Alfonse Huyghens glaubt etwas verstanden zu haben, und mit seiner Hilfe entfaltet der Dichter die Botschaft neu, jeder weitere Nebensatz, jeder Einschub ein leichter Flügelschlag, bis sie, nur vom Aufwind getragen, über uns schwebt. So an den Himmel geschrieben ist die Botschaft klar und ernüchternd, und wir gewinnen einen Begriff von dem, was sich über unseren Köpfen vollzieht und unter unseren Füßen: die abstrusesten Überlegungen sind zur Erklärung des Geschichtsverlaufs nicht besser und nicht schlechter als die ausgefeilteste Theorie. Der große historische Schub zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts nichts als die Folge einer Sehschwäche, wer kann beweisen, er wisse es besser - es wird sich schon beweisen lassen, Scherz und tiefere Bedeutung halten sich beim Dichter die Waage. Kein reiner Tisch jedenfalls, sondern eine mit den Brocken der Geschichte vollgeräumte und eingestaubte Platte.

Aurach mag unter gewissen Aspekten als Vertreter der Avantgarde in Sebalds Prosawerk erscheinen, tatsächlich aber ist er der Künstler des Staubs, der sich einstaubenden Welt, ein Versprengter, nicht allem voran, sondern abseits von allem, ein Verlorener der Garde dispersée. Eine Vorstellung von dem, was ein wahres Kunstwerk ist, gewinnt er im Traum, als er auf dem Schoß von Pan Frohmann aus Drohobycz ein winziges Modell des Tempel Salomonis sieht. Zweitausendfünfhundert Jahre zurück, so weit muß man gehen, um, im Rahmen der menschlichen Möglichkeiten, eine Amplitudendämpfung zu erreichen. Alec Garrad hat offenbar den gleichen Traum gehabt und sein Leben mehr und mehr dem Bau eines Tempelmodells in einem etwas größeren Maßstab verschrieben.

Aurach wohnt in seinem Atelier, Garrad mehr oder weniger in der Scheune, in der das Tempelmodell entsteht, der Architekturhistoriker Austerlitz liebäugelt mit einem Bahnwärterhäuschen als Unterkunft, Sebald siedelt als Selysses um in seine Prosa, alles, auch für uns Leser, wohnlichere Orte als die in ihrer Neuheit erstarrten oder einstürzenden Neubauten der Avantgarde.