Dienstag, 28. Juni 2022

Ein neuer Morgen

'abinigo

Es ist in der Stadt Venedig ein anderes Aufwachen, als man es sonst gewohnt ist, still bricht nämlich der Tag an, durchdrungen nur von einzelnen Rufen, vom Hinauflassen eines Rolladens, vom Flügelklatschen der Tauben, weit ab von der Brandung des Verkehrs. Stille ist die Voraussetzung für eine angemessene Begrüßung und Feier des neuen Tages, für seine Würdigung, jeglicher Lärm zerstört das dankbare Erwachen. Der neue Tag. Wie uns Hillerman immer wieder erklärt und zeigt, wird kein Diné mit traditioneller Lebensform je die Morgenandacht auslassen, wenn er in der Frühe das Tages, 'abinigo, aus seinem Hooghan tritt, er würde dann die Wege seines Lebens verlassen, wäre seiner geistigen Gestalt beraubt. Der grußlose Tag könnte nicht vorübergehen, ohne daß Unheil geschieht, der religiöse Auftrag verbindet sich mit dem Staunen über sie Schönheit der Welt. Auch europäische Menschen, in Polen etwa, erleben in der Tradition des frühmorgentlichen Stundengebet zutiefst das Wunder der wiederkehrenden Sonne, und zwar auch dann, wenn sie längst nicht mehr gottgläubig sind. Ohne die Morgenandacht hat die Zeit weder Maß noch Halt. Die Sonne geht unter, die Sonne geht auf, tatsächlich aber, so zeigt sich immer wieder, ist sie schon mehr als einmal unter und wieder aufgegangen, und niemand hat es bemerkt. Sind nun, so fragt man sich, drei Tage vergangen oder schon vier oder gar fünf? Niemand findet sich zurecht in der Welt ohne die gehörige Begrüßung eines jeden Tages, man schaut sonst auf nichts als einen ungepflegten und unappetitlichen Zeitbrei. Das aber gilt es zu vermeiden vor allem anderen.


Freitag, 24. Juni 2022

Holzfällen

Rettet die Wälder

Holzfällen umfaßt dreihunderteinundzwanzig Buchseiten, man blättert Seite um Seite und findet nichts von Wald und vom Holzfällen, bis auf der Seite dreihundertzwei urplötzlich und anscheinend ohne irgendeine Verbindung zum Rest des Buches der Burgschauspieler seine Liebe zum Wald erklärt. In den Wald hineingehen, tief in den Wald, verkündet er und dann ruft er noch einige Male: Wald, Hochwald, Holzfällen. Auf den Bruch von Wald und Hochwald einerseits und Holzfällen andererseits geht er nicht ein, die Leser mögen grübeln, eine erleuchtende Erklärung finden sie nicht, umso weniger, wenn auch der Buchautor und Erzähler, anstatt Adalbert Stifter zu folgen, nicht Hochwald, sondern Holzfällen als Titel seines Buches wählt. Was den Burgschauspieler anbelangt, hatte er schon vor der Seite dreihunderteinundzwanzig viel Krauses und zum Teil extrem Widersprüchliches geredet, eigentlich verbreitet er nur angeberischen Unfug, die Wahrheit liegt tief im Verborgenen. Beim deutschen Voralpendichter ist nicht vollends klar, ob die Holzerbilder des Kunstmalers Hengge keine Zuneigung zu den Holzarbeitern aufkommen lassen, oder ob ihm umgekehrt die Holzfällerei die Bilder vergällt, wahrscheinlich summiert sich das eine zum anderen. Klarheit besteht aber darin, daß dem Dichter das Holzfällen ganz allgemein mißfällt. Denkt er doch daran, daß bereits der vormoderne Schiffbau erheblich Holzeinschläge erforderte, am eindrucksvollsten aber zeigt sich der fatale Umgang mit den Wäldern auf der Insel Korsika. Es war einmal eine Zeit, da war die Insel ganz vom Wald überzogen, Stockwerk um Stockwerk wuchs er Jahrtausende hindurch im Wettstreit mit sich selber bis in eine Höhe von fünfzig Meter und mehr. Der Degradationsprozeß der am höchsten entwickelten Pflanzenart begann bekanntlich im Umkreis der sogenannten Wiege der Zivilisation. Nur im Inneren Korsikas erhielten sich einzelne, die heutigen Wälder um vieles überragende Baumgesellschaften, die aber auch seither nahezu erloschen sind. Heute gibt es bloß noch geringe Relikte im Marmanotal und in der Foret de Puntiello. Die Zeit des hemmungslosen Rodens ist in den zivilisierten europäischen Ländern inzwischen vorbei, man bekennt sich zum nachhaltigen Forstwesen, die Holzfäller können ohne Schuldgefühle anrücken. Auffällig ist die enge Kameradschaft unter den Holzern, auch wenn sie sich erst während des Holzens kennengelernt haben. Jan Pradera und Peresada kann man schon nach wenigen Tagen als Freunde betrachten, Michał Kątny auf den ersten Blick als engen Freund, nicht vergessen werden darf die menschenfreundliche Unterkunft bei der fürsorglichen alten Wirtsfrau Babcia (Großmütterchen) Olenka. Vielleicht hat sich auch der Burgschauspieler mit seinem Rufen ausschließlich auf das zivilisierte Holzfällen der neueren Art bezogen, vielleicht aber auch hat er den Unterschied zwischen schonungslosen Roden und zivilisiertem Holzfällen gar nicht wahrgenommen. Angesichts der Kargheit seiner Äußerungen sind sie, wie bereits gesagt, nicht zuverlässig interpretierbar. Konrad wiederum, der Bewohner des Kalkwerks, soll immer wieder zu seiner Frau gesagt haben, in den Wald gehen, zu den Holzarbeitern, mit dem Höller in den Wald, ohne sich weiter Gedanken zu machen, sich retten vor den Gedanken. Gedankenlosigkeit ist Erholung, Entkommen, Rettung, am ehesten ist sie nach Konrads Verständnis unter den Waldarbeitern zu finden.

Dienstag, 21. Juni 2022

Schreiben, niederschreiben

Kontraproduktive Umstände

Er war damals, im Oktober 1980, nach Wien gefahren in der Hoffnung, durch eine Ortsveränderung über eine besonders schwere Zeit hinwegzukommen. Was die besonders schwere Zeit hervorgerufen hat, bleibt ungesagt, war es vielleicht nur eine innere Leere nach der Beendigung eines wissenschaftlichen oder literarischen Projekts? Auffällig ist jedenfalls, daß er während des Aufenthalts in Wien und dann in Italien keinerlei Schreibabsichten zu erkennen gibt, so als habe er kein Schreibgerät dabei. Bei der zweiten Reise, sieben Jahre später, ist er dagegen fortwährend mit Schreiben beschäftigt. Einerseits geht es um die, wie man sagt: Aufarbeitung der ersten Reise, die rückblickend als gefahrvoll eingestuft wird, andererseits wird sogleich eine Art literarisches Tagebuch auch der zweiten, noch nicht abgeschlossenen Reise geführt. Die selbstgestellte Aufgabe, die Erlebnisse der beiden Reisen niederzuschreiben, wird offenbar erfüllt, spätestens während des Aufenthalts in den Oktoberwochen in einem am Ende der Vegetation in einem Hotel oberhalb von Bruneck. Entspanntes Dahinerzählen ist aber etwas ganz anderes als die Niederschrift einer wissenschaftlichen Studie, in der tausend Einzelheiten exakt am richtigen Platz erscheinen müssen. Rudolf, der unverkennbar Ähnlichkeit mit Thomas Bernhard zeigt, hat seine Studie betreffend Mendelssohn Bartholdy begleitet von zahlreichen Notizen vollständig in seinem Kopf gespeichert, er könnte, so scheint ihm, sie von einem Tag auf den anderen niederschreiben, nun aber ist seine Schwester für unbestimmte Zeit zu Besuch bei ihm, in ihrer Gegenwart ist an die Niederschrift der Studie nicht zu denken. Die Schwester ist wieder fort, ihre plötzlich Abwesenheit hinterläßt eine Leere, die sich als Leere im Kopf spiegelt, die Niederschrift ist weiterhin nicht möglich. Rudolf fliegt nach Mallorca und kehrt in seinem geliebten Palma in einem Nobelhotel ein, das absolute Stille und Abgeschlossenheit verspricht, und doch erwarten ihn ungeahnte Schwierigkeiten. Ob es jemals zur Niederschrift gekommen ist, bleibt unbekannt, am Ende der Erzählung ist jedenfalls noch kein Satz zu Papier worden.  Konrad steht vor ähnlichen Schwierigkeiten, er hat alle vorbereitenden Arbeiten für seine bahnbrechende Studie zum Gehör abgeschlossen und ist seinerseits bereit für die Niederschrift. Er hat sich in einem Kalkwerk, das absolute Stille und Ungestörtheit verspricht, wohnlich eingerichtet, Stille und Ungestörtheit treten aber nicht ein. Sobald Konrad am Schreibtisch Platz genommen hat, schellt jemand an der Haustür, und wenn niemand an der Haustür schellt, läutet seine pflegebedürftige Frau. Seit Jahren schon ist alles parat für die Niederschrift der Studie, ohne daß es zur Niederschrift kommt. Letztendlich erschieß Konrad seine Frau, kein förderlicher Akt für die Niederschrift .

Sonntag, 19. Juni 2022

Über Bord

Nichts wie weg

Im Rahmen des umfassenden Fiaskos der ersten Italienreise im Jahre 1980 war der Aufenthalt in Venedig fast noch positiv zu verbuchen. Da ist die Bootfahrt und der Gedankenaustausch mit Malachio, das ganz andere Aufwachen, als man es sonst gewohnt ist. Still bricht nämlich der Tag an in dieser Stadt, durchdrungen nur von einzelnen Rufen, vom Hinauflassen eines Rolladens, vom Flügelklatschen der Tauben, weit ab von der Brandung des Verkehrs. Wer will, mag auch den siegreichen Kampf um eine Cappuccino im Stehcafé der Ferrovia als positives Geschehen verbuchen. Bei der zweiten, insgesamt weitaus entspannteren Reise im Jahre 1987 schneidet Venedig überraschender Weise weitaus schlechter ab. Die Anreise mit dem überfüllten Zug verläuft akzeptabler denn gedacht, es gelingt dem Reisenden, sich während der Fahrt ganz auf seine Aufzeichnungen zu konzentrieren. In Santa Lucia steigt er als einer der letzten aus, in der Bahnhofshalle erwartet ihn ein wahres Heer von Touristen in ihren Schlafsäcken und Strohmatten auf dem blanken Steinboden lagernd, wie sonst ein fremdes Volk auf dem Weg durch die Wüste. Die negative Einstellung des Dichters zum von ihm so genannten Ferienvolk ist bekannt. In der Stadt hatte nun der Morgenverkehr angehoben, ein mit Bergen von Müll beladener Kahn kam vorbei, auf dem eine große Ratte entlang lief und sich kopfüber ins Wasser stürzte. Der Reisende faßt den Entschluß, nicht in Venedig zu bleiben, sondern unverzüglich nach Padua weiterzufahren. Die Ratte hatte keineswegs abstoßend auf ihn gewirkt, ihr Sprung über Bord hatte geradezu Vorbildcharakter, nichts wie weg von hier, die Ratte weg vom Schiff, der Reisende weg von Venedig.


Donnerstag, 16. Juni 2022

Bauwerke

Wohnungsbau


Man kann davon ausgehen, daß Clara ein geschmackvolles und ihren Bedürfnissen entsprechendes Haus gekauft hat, unbekannt ist allerdings, ob sie die finanziellen Belastung durch den Kredit sorgfältig eingeschätzt hat. Kaufen oder erbauen Frauen anders als Männer, vielleicht weniger bedacht auf Geld als auf die Schönheit des Domizils? Das wäre der Beginn einer Vergeltung dafür, daß Architektur und Bauwesen bis zur Neuzeit ausschließlich in männlicher Hand lagen. Aber auch Männer haben zum Teil tiefgreifende Vorbehalte gegenüber der heutigen Architektur. Neubauviertel fallen weniger durch Extravaganz auf als durch ihre Banalität, nach dem Urteil des österreichischen Dichters liegen sie wie in  die Gegend geschissen da. Pracht- und Protzbauten der  Politik und Verwaltung schneiden in der Beurteilung nicht besser ab, Austerlitz ordnet den Justizpalast in Brüssel architektonische Monstrosität ein. An und um den Palast sich bildende Kleinanlagen haben vergleichsweise ein menschliches Gesicht, kleine Geschäfte, etwa ein Tabakhandel, ein Wettbüro oder ein Getränkeausschank, einmal soll sogar eine Herrentoilette im Souterrain von einem Menschen namens Achterbos, der sich eines Tages mit einem Tischchen und einem Zahlteller in ihrem Vorraum installierte, in eine öffentliche Bedürfnisanstalt mit Laufkundschaft von der Straße und, in der Folge, durch Einstellung eines Assistenten, der das Hantieren mit Kamm und Schere verstand, zeitweilig in einen Friseurladen umgewandelt worden sein. Wie man in einzelnen dazu stehen mag, nur Gebäude unter dem Normalmaß der domestischen Architektur, so Austerlitz, können menschengerechte Züge aufweisen. Kaum einer der Pracht- und Protzbauten wurde von Frauen entworfen. Noch weniger kommen Frauen auf die Idee, industrieanlagenähnliche Bauwerke, Kraftwerke etwa, als Wohnbauten zu planen oder Industriebauten, Kalkwerke etwa, als Wohnbauten zu nutzen, unter Männern dagegen ist dieser Ansatz relativ verbreitet, gleichzeitig aber fehlt den Männern das nötige Durchhaltevermögen. Der Schweizer macht sich davon, noch bevor das von ihm entworfene kraftwerkähnliche Wohngebäude vollendet ist und treibt seine Lebensgefährtin, die Perserin, in den Selbstmord, Konrad, der Eigentümer des Kalkwerks erschießt, als die Lage aussichtslos geworden ist, die Konrad, seine Frau, im Kalkwerk. Tatsächlich aber spielt die Architektur aber nur nachgeordnete Rolle, sie ist ein Teilbereich im umfassenden Fortschritts- und Maschinenwahnsinn, dessen Verwüstungen die Frauen schneller noch als die Männer zum Opfer fallen. Inzwischen, in unseren Tagen, sind auch die Fortschrittsfanatiker zunehmend verunsichert und geraten, was ihre herkömmlich frohgemuten Überzeugungen anbelangt, ins Wanken.

Sonntag, 12. Juni 2022

Nachrichtenzentralen

Ländliche Gasthöfe

Der Dichter hat, wie er mitteilt, seine Kindheit und Jugend in einer Etagenwohnung über einer Gastwirtschaft verbracht, man kann nicht sagen, daß ihm das Gasthofswesen dadurch nahe gebracht worden wäre. Die Bauern und die Holzknechte saßen allabendlich gruppenweise beieinander am oberen beziehungsweise unteren Ende der Gaststube. Ohne die entzückende und schöne Romana, die fortwährend frische Getränke für die Gäste herbeitrug, hätte die Wirtschaft, immer wenn der Junge am Abend vom Vater geschickt wurde ein Päckchen Zigaretten der Marke Zuban zu holen, auf ihn einen gar schauderhaften Eindruck gemacht. Später, auf Reisen, sind seine Eindrücke das Hotel- und Gaststättenwesen betreffend kaum positiver, im Hotel Boston in Mailand etwa gelangte er über zwei Hintertreppen schließlich zur obersten Etage, ein langer Korridor führte an Zimmertüren vorbei, die kaum zwei Meter auseinanderlagen, die armen Reisenden ging ihm unwillkürlich durch den Kopf, sich dabei selbst nicht ausschließend. Naturgemäß gab es auch andere, positive Eindrücke, allem voran in der Goldene Taube in Verona, wo ein in jeder Hinsicht aufs beste zusagendes Zimmer zu haben war, eine perfekte Nachtruhe und ein ans Wunderbare grenzendes Frühstück. Man sollte bei all dem aber nicht den speziellen Beitrag gerade der damaligen ländlichen Gasthöfe zum Weltverständnis unterschätzen, zu dem, was sich tut in der Welt und im nahen Umfeld, zum Beispiel Einzelheiten der Ermordung der Konrad. Die fehlende digitale Schärfe bei der Tatsachenfeststellung, wie wir sie heute gewohnt sind, kann allerdings nicht übersehen werden, die Angaben können erheblich schwanken. So heißt es im Lanner, Konrad habe seine Frau im Kalkwerk mit zwei Schüssen, im Stiegler mit einem einzigen Schuß, im Gmachl mit drei und im Laska mit mehreren Schüssen getötet. Auch der Ablauf der Verhaftung des Konrad nach der Tat ist umstritten. Im Jänner heißt es, Konrad habe sich nach der Bluttat selbst gestellt, dabei hat er sich wohl überhaupt nicht gestellt, im Laska heißt es jedenfalls, die Gendarmen hätten ihn erst nach zweitägiger Suche schließlich in der ausgetrockneten und ausgefrorenen Jauchengrube hinter dem Kalkwerk entdeckt. Im Gmachl wiederum war die Rede davon, die Bluttat sei von langer Hand vorbereitet worden, im Stiegler spricht man noch heute von einer Kurzschlußhandlung, im Lanner heißt es, gemeiner vorsätzlicher Mord, im Gmachl wiederum ist die Rede von einer Wahnsinnstat, und im Laska vermutet man einen Unfall beim Putzen des Mannlicher-Karabiners, im Stiegler heiß es demgegenüber vier Schüsse, zwei in den Hinterkopf, zwei in die Schläfen, also wohl kein Unfall, im Lanner ist sogar von fünf Schüssen die Rede ac yn y blaen. Wir können inzwischen die Vorteile einer klarsichtigen Welt genießen, eine gewisse Sehnsucht nach der Vergangenheit läßt sich aber nicht verbergen. Den Landgasthöfen konnte eine Reform bei all dem nicht erspart werden, man muß mit der Zeit gehen, was rastet rostet.