Montag, 28. Januar 2013

Grenzübertritt

Richter Leser Dichter

Man könne Sebald den Dichter nicht ohne Sebald den Polemiker und literaturwissenschaftlichen Provokateur haben, heißt es. Richtig ist das nicht. Jeder kann sich die vier Prosabände und noch dies und jenes kaufen und sich um den Rest nicht kümmern, und genau so verfahren die weitaus meisten Leser auch. Am Autor orientierte Literaturwissenschaft allerdings kann diesen Weg nicht gehen. Fridolin Schley beansprucht, eine durch das Gesamtwerk in seinen verschiedenen Teilen sich ziehenden Strang freizulegen, an dem entlang Sebald sich im Rahmen einer Bourdieu abgelesenen Positionierungsstrategie nach dem Ausschalten mißliebiger Konkurrenten per Verriß auf den begehrten Thron des Holocaustherrschers lanciert habe.

Schley merkt den das Prosawerk im Gegensatz zur Essayistik dominierenden samtenen Ton an, zieht daraus aber keine weitgehenden Schlüsse. Die frühen Untersuchungen zu Sternheim und Döblin sind gekennzeichnet von Adornos aggressiven, sich immer peitschenartig einrollenden Satzmustern. Der Leser duckt sich, jederzeit kann es auch ihn treffen, ohne daß er etwas Böses getan hätte, ist vielleicht er gemeint. Die Prosa dagegen bewegt sich still dahin auf ihrer schönen, Satz für Satz vor uns aufgerollten Bahn. Innerhalb der kraß unterschiedlichen Sprachformen kann nicht ein und dieselbe Weltwahrnehmung stattfinden, und es wäre schon verwunderlich, wenn Sebald die von Schley vermutete perfide Strategie gleichsam in einer Zangenbewegung von zwei Welten aus zu verfolgen vermocht hätte.

Wäre andererseits Sebald nicht zum Prosadichter geworden, würde sich kaum noch jemand mit seinen literaturkundlichen Arbeiten beschäftigen, und auch so, wie es ist, scheint eine isolierte Betrachtung dieses Werkteils wenig sinnvoll. Einzelne Arbeiten, zumal die die frühen über Sternheim oder Döblin, lassen sich behandeln, ohne viel nach links oder rechts zu schauen, überblickt man aber die gesamte wissenschaftlich-kritische Produktion, fällt ins Auge, daß sie dem literarischen Werk immer ähnlicher wird, ihm mit Logis in einem Landhaus sehr nahe kommt und in J’aurais voulu que ce lac eūt été l’Océan mit ihm unterschiedslos verschmilzt. Es gibt sicherlich die verschiedensten Wege, die von dem einem Werkteil zum anderen führen, hier soll ein kleiner Nebenpfad betreten werden in der Verfolgung zweier Personen im Erzählwerk, die eine Art Schlepperdienst leisten beim Grenzübetritt, Komparsen, an die sich mancher Sebaldleser vielleicht gar nicht erinnert. Der Dichter hat uns allerdings aufgefordert, die Komparsen nicht geringer zu achten als die Hauptdarsteller und ihnen die gleiche durch nichts geschmälerte Daseinsberechtigung zuzusprechen. Es geht um Frederick Farrar in England und um Salvatore Altamura in Verona.

Farrar hatte auf Wunsch seines Vaters in Cambridge und London Rechtswissenschaften studiert und in der Folge, wie er mit einem gewissen Entsetzen sagte, mehr als ein halbes Jahrhundert in Anwaltskanzleien und Gerichtshöfen zugebracht. Er war in den Ruhestand eingetreten, um sich der Zucht seltener Rosen und Veilchen zu widmen. Schley beobachtet Sebald bei der Ausübung des literarischen Richteramt, nicht selten ähnelt es dem des Scharfrichters. Davon hat er sich in der Gestalt des Richters Farrar abgewandt und blickt mit Entsetzen zurück auf sein Vorleben. Seine Tage füllt er, wie wir wissen, seither gewohnheitsmäßig mit Garten- und Schreibarbeiten aus.

Salvatore Altamura sitzt vor der Bar mit einer grünen Markise und liest, die Brille in die Stirn geschoben, in einem Buch, das er so nah vor sein Gesicht hielt, daß es unvorstellbar war, wie er auf diese Weise etwas zu entziffern vermochte. Seinem Bedürfnis zu lesen wisse er um diese Tageszeit einfach keinen Widerstand entgegenzusetzen, er rette sich in die Prosa wie auf eine Insel. Diesmal ist es ein Buch des sizilianischen Autors Sciascia. Weit entfernt, den vom jungen Literaturwissenschafler Sebald geforderten Schritt vom bloßen Kommentar zur vertieften und üblicherweise vernichtenden Kritik zu tun, bleibt er diesseits des Kommentars, er erzählt Selysses aus dem Buch. Salvatore Altamura ist der Leser, den ein Autor sich wünscht. Der Dichter hat den Leser auf die von ihm entdeckte und urbar gemachte Insel gelockt.

Selysses' Reise durch Oberitalien hat weithin den Charakter einer Flucht, man kann aber nicht sagen, er rette sich in die Prosa. Zweimal allerdings wird ihm ein Eisenbahnabteil durch die Anwesenheit bezaubernder Leserinnen zu einer Insel der Seligen, einmal im Zug nach Mailand das junge Mädchen und die Franziskanerin und dann, auf der Rückreise schon, entlang der Rheinstrecke die Winterkönigin, die im geheimnisvollen Buch einer nicht weniger geheimnisvollen Autorin liest. Beide Male bleibt er wie ein später Parzival dumm und stumm und verpaßt die Erlösung.

Mehr als in die Bücher rettet Selysses sich zu den Malern und ihren Bildern, die er nicht mit dem Blick des Kunstkritikers betrachtet, sondern einfach von sich erzählen läßt. Wiederholt trifft er dabei auf seinen Schutzpatron Georg und damit auf sich selbst. Als er aber im Mailänder Konsulat Giorgio Santini (GS) trifft, hat er Pisanellos Bild San Giorgio (SG) con cappello di paglia noch nicht gesehen, erkennt den Georgshut in der Hand des Artisten nicht, erkennt den Artisten nicht als die Reinkarnation des Heiligen, und sieht nicht, daß er selbst, Wie Giorgio Santini (WGS), durch die Niederschrift der Schwindel.Gefühle, mit der er beschäftigt ist, zum Artisten wird. An einer anderen Stelle des Werkes ist er fasziniert von George Wyndham Le Strange (GWS) und durchgehend besteht die Verbundenheit mit WittGenStein*.

Das Spiel mit den Initialen rechnet zum Aufwärmprogramm des Artisten, dessen er im Gewand des Sand Sebolt für sein thermisches Kunststück ganz besonders bedarf. Im Herd eines um Holz geizenden Wagners entfacht er ein Feuer aus Eiszapfen. Immer ist diese Geschichte von der Verbrennung der gefrorenen Lebenssubstanz für Selysses von besonderer Bedeutung gewesen, und er hat sich oft gefragt, ob nicht die inwendige Vereisung und Verödung am Ende die Voraussetzung ist dafür, daß man, vermittels einer Art schwindelhafter Schaustellerei die Welt glauben machen kann, das arme Herz stünde noch in Flammen. Sein eigentliches Publikum aber hat WGS als Hochseilartist. Die schöne, Satz für Satz vor uns aufgerollten Bahn erweist sich als schmaler Grat, der an den Rändern der Ewigkeit entlangführt, und immer wieder erspürt man mit Erschauern, wie abgrundtief es zu beiden Seiten hinuntergeht, wie das Taglicht manchmal schon schwindet vor den von weit draußen heranziehenden Schatten und oft beinah erlischt unter dem Anhauch des Todes.
Niemand wird sagen, Sebald habe sich zu Döblin wie auf eine Insel gerettet, das Landhaus aber, in dem er einigen seiner bevorzugten Kollegen Logis anbietet, wirkt wie eine Insel im Meer des Daseins. J’aurais voulu que ce lac eūt été l’Océan führt uns auf die Peterinsel im Bieler See, auf die sich, lange vor dem angehenden Prosaautor Sebald, sein Confrère Rousseau gerettet hatte. Rousseau wird weder kommentiert noch kritisiert, von ihm wird erzählt, so wie in der Prosa von Stendhal, Conrad oder Borges erzählt wird.

* Erhellender E-Brief Uwe Schüttes

Sonntag, 20. Januar 2013

Sebald of the twenty-first century

Open City


Bei Teju Cole ist der Verweis auf Sebald obligatorisch, gleich auf der Buchhülle heißt es: Might just be a W.G. Sebald of the twenty-first century. Im Spiegel wird Cole dem mit angemessener Ehrfurcht vorgestellten großen W.G. Sebald verglichen. Wieder an anderer Stelle ist von einem irritierenden Hang zum intellektuellen Edelkitsch die Rede, den wir auch aus dem Werk von Coles Vorbild W.G. Sebald kennen; hier hat womöglich ein Pirat einem schon lang währenden Mißfallen an Sebald stattgegeben, und Cole hat es gleich miterwischt. Mit den Ähnlichkeiten ist es kein leichtes Brot. Wer zu viele Ähnlichkeiten entdeckt, macht sich der Debilität ebenso verdächtig, wie jemand, der keine entdecken kann. Dem Geistigherausgeforderten sind alle Blonden gleich und die Dunkelhaarigen untereinander ebenso. Zu wenig Ähnlichkeit auf der anderen Seite ist nicht das Problem der Literaturkritik. Betrachten wir den ersten kurzen Abschnitt in Coles Roman.

AND. Schon das erste Wort in Coles Roman ist nicht sebaldkompatibel. Keine Erzählung seines Vorläufers aus dem schon in Vergessenheit geratenden zwanzigsten Jahrhundert beginnt mit einem UND, und man kann sich auch nicht vorstellen, daß eine noch zu schreibende Erzählung mit einem UND hätte beginnen können. Man wird auch kaum einen eingebetteten Satz finden, der mit UND beginnt. Das zur linken Seite hin offene, ins Leere weisende Bindewort verspricht eine Ungebundenheit, die kaum einzuhalten ist. Dabei ist Sebalds Prosa um einiges ungebundener als Coles eher eingezwängter Vortrag.

Das Durchmessen Manhattans im ersten Absatz kann an Selysses' Gänge durch Wien oder an diejenigen Austerlitz’ durch London erinnern. Dann Absatz, Szenenwechsel: watching bird migration. Der Verzicht auf Absätze bei Sebald ist keine Äußerlichkeit, Szenenwechsel scheinen nicht stattzufinden, sie werden verdeckt, wenn wir aus dem Nocturama kommend in den Bahnhof eintreten, bleiben wir doch im Nocturama. Das Einspinnen und Verweben der Motive und Schauplätze ist ein durchgehendes und an ihren Nerv rührendes Charakteristikum der Prosa Sebalds.

American radio stations had to many commercials for my taste. Banale Bekenntnisse dieser Art fallen bei Sebald unter die landläufige Kategorie: Geschenkt und fehlen daher. Auch haben wir keine Gelegenheit, Selysses bei häuslichen Radiogenuß zu beobachten, da er uns in sein Haus nicht einlädt. In Austerlitz' Wohnung findet er ein Radio vor, das aber stumm und nur der Erinnerung dient an Stimmen, die manchmal untergehen zwischen den Wellen und dann wieder auftauchen, in der Dunkelheit die Luft durchschwärmen und, wie die Fledermäuse, ihr eigenes die Taghelle scheuendes Leben führen. Barthes’s Camera Lucída, Peter Altenberg's Telegrams of the Soul, Tahar Ben Jelloun’s The last Friend: ein derartiger literarischer Name-dropping-cluster ist bei Sebald nicht denkbar. Selysses’ Reiselektüren haben einen eher abgelegnen Charakter, Der Beredte Italiener, ein praktisches Hülfsbuch der italienischen Umgangssprache, oder die Memoiren des Maximilien, Duc de Sully, seine Reisegefährtinnen blättern im Brevier oder in einer Photonovella.

Sebald ist in der Gestalt seiner Erzählfigur Selysses ständig präsent im Prosawerk und doch kaum zu greifen, wie verweht von den Motiven der Außenwelt. Bei Cole weist alles auf die Erzählfigur zurück, die daher im Verlauf der Erzählung immer stattlicher wird. Der Erzähler baut eine Geschichte um sich auf, eine Freundin, Zwist mit der Mutter, Zwist zwischen Mutter und Großmutter, alles nicht denkbar bei der essentiell ledigen Kunstfigur Selysses. Nur so ist Selysses die bedingungslose Hinwendung zu anderen möglich. Als Coles Erzähler verspätet vom Tod seiner Wohnungsnachbarin erfährt, treten weder diese noch der hinterbliebene Witwer in den Vordergrund, sondern die Selbstvorwürfe und Selbstbeobachtungen des Erzählers. Die Geschichte Bereyters, Selwyns  und die der anderen hätte auf diese Weise nicht geschrieben werden können. Wenn Coles Erzähler ein Museum betritt, hat er kein Auge für die Empfangsdame oder Billetverkäuferin,  mir nichts dir nichts baut er sich auf vor den Bildern. Er spricht über die Bilder und über das, was er sich denkt bei ihrer Betrachtung. Er bringt die Bilder nicht zum Sprechen, so wie Sebald die Bilder Grünewalds und Pisanellos zum Sprechen sind. Alles, was Coles Erzähler begegnet, ist so ziemlich das, was es ist, nichts öffnet sich zum Horizont, geschweige denn über ihn hinaus. - Abgesehen von dem Umstand, daß Coles Erzähler in einer Stadt hin und her geht, lassen sich bei Licht gesehen wenig Bezüge zum Werk Sebalds feststellen.

Das Werk ist die Totenmaske der Konzeption, Sebald läßt den Maler Aurach diese Erfahrung durchleben, und ihm selbst ist sie, wie jedem ernsthaften Autor, vermutlich auch nicht fremd gewesen. Der Leser aber sieht ihn ständig auf der Höhe seiner Absichten, ein Eindruck, der sich bei Cole nicht ohne weiteres einstellt. Aber vielleicht sind dessen Aspirationen bescheidener, und alles ist in sich stimmig. In der Summe ist es jedenfalls nicht die gleiche Art von Edelkitsch bei Sebald und bei Cole, dem Piraten ist insofern zu widersprechen. Man wird einwenden, niemand habe behauptet, Cole würde Sebald imitieren oder plagiieren, es seien doch genug Themen und Motive angeschlagen, die sich auch bei Sebald finden, man könne sogar vermuten, Cole weise gleich zu Beginn mit der Vermessung Manhattans, den Radiostimmen, dem Auftreten Altenbergs &c. auf Sebald hin. Das ist richtig, aber nicht jeder, der sich an irgendetwas erinnert, ist Proust, und nicht jeder, der sich zum Affen macht, ist Kafka. Das richtet sich nicht gegen Cole, es richtet sich gegen die Verwalter des zügellosen Vergleichs. Auf der Buchhülle findet sich noch ein Fingerzeig in eine eher entgegengesetzte Richtung: The novel reads like Camus’s The Stranger. Vielleicht ist es aber doch die gleiche Richtung, war Sebald doch in die Schriftstellerlaufbahn mit einem Schüleraufsatz über Camus eingestiegen. Alles trifft sich, alles gleicht sich.

Mittwoch, 16. Januar 2013

Trautes Heim

Wohnungsnot

Sebald ist vorgehalten worden, er marginalisiere die Frau. Im Rahmen einer neutralen Wahrscheinlichkeitsberechnung ist das nicht anders zu erwarten, marginalisiert doch jedes Buch so gut wie alles, schiebt es nicht nur an den Rand, sondern darüber hinaus ins Literaturjenseits, was zwischen zwei Buchrücken paßt, ist, gemessen an dem, was draußen bleibt, eigentlich gar nicht der Rede wert. Die in der Prosaliteratur außerhalb des sozialistischen Realismus nur maßvolle Behandlung von Fragen der Stromversorgung und des Wasserbaus wird allerdings kaum bemängelt. Bemängelt wird das Fehlen von Elementen und Verhältnissen des sozialen Bereichs, die, wie der Genderproporz, gerade nachdrücklich eingefordert werden. Wohl dem Autor, der sich einem derartigen Druck nicht beugt oder, besser noch, ihn gar nicht erst wahrnimmt. Interessant wird es erst, wenn unbeachtete Dinge fehlen, die üblicherweise vorhanden sind. Man liest sie mit, auch wenn sie gar nicht da sind, so daß ihre Absenz lange Zeit nicht auffällt. Das sind dann Dinge, die der Autor ausgespart hat, bewußt oder unbewußt, mit welcher Absicht oder welcher Not gehorchend auch immer. Das Fortgelassene besagt nicht weniger als das Zugelassene, solange es an diesem spürbar bleibt.

Auch ein mäßig aufmerksamer Leser wird bemerken, daß unter den zahlreichen Personen, die Selysses beim Ritorno in patria in der Ortschaft W. aufruft, die Eltern fehlen. Vorgeführt wird lediglich die menschenleere Wohnstube. Die Anschaffung einer standesgemäßen Wohnzimmereinrichtung, die nach einer ungeschriebenen Vorschrift akkurat den Geschmacksvorstellungen des für die damals sich formierende klassenlose Gesellschaft repräsentativen Durchschnittspaars entsprach, hatte für die Eltern nach einer in mancher Hinsicht nicht leichten Jugend wahrscheinlich den Augenblick markiert, in dem es ihnen vorkam, als gäbe es doch eine höhere Gerechtigkeit. Dieses Wohnzimmer bestand also aus einem massiven Wohnzimmerschrank, in welchem die Tischdecken, die Servietten und das silberne Besteck aufbewahrt wurden. Vermerkt werden muß außerdem noch, daß im Aufsatz des Schranks nebst dem chinesischen Teeservice eine Reihe in Leinen gebundener dramatischer Schriften ihren Platz hatten, und zwar diejenigen Shakespeares, Schillers, Hebbels und Sudermanns. Es waren dies wohlfeile Ausgaben des Volksbühnenverbands, die der Vater, der gar nie auf den Gedanken gekommen wäre, ins Theater zu gehen, und noch viel weniger auf den, ein Theaterstück zu lesen, in einer Anwandlung von Kulturbewußtsein eines Tages einem Reisevertreter abgekauft hatte. – Offenbar nicht das, was Selysses als trautes Heim hätte akzeptieren können.

Einmal sensibilisiert, findet der Leser innerhalb unter Sebalds Personal nur wenige Exemplare, denen es besser ergeht. Daß Austerlitz das Predigerhaus in Bala, in dem es ihn ständig friert, nicht als Vaterhaus annimmt und nicht als trautes Heim erlebt, bedarf keiner längeren Ausführungen. In der wiedergefundenen Prager Kindheit sieht es besser aus. Jacquot lebt aber weniger bei den Eltern als bei der die Aufgabe eines Kinderfräuleins wahrnehmenden Vera. Der Vater ist kaum zuhaus und die Mutter wegen ihres Schauspielerberufs nicht zu den üblichen Stunden. Einige glückliche Tage verleben alle vier zusammen fern vom trauten Heim auf Reisen in Marienbad, im Osborne-Balmont gleich hinter dem Palace Hotel.
Bereyter verbringt seine glückliche Kindheit weniger in der trauten Umgebung der elterlichen Wohnung als in deren Ladensgeschäft, dem Emporium. Auf seinem Dreirädchen habe er sich meistens auf der untersten Ebene fortbewegt, durch die Schluchten zwischen Ladentischen, Kästen und Budeln und durch eine Vielfalt von Gerüchen hindurch, unter denen der des Mottenkampfers sowie der der Maiglöckchenseife immer die hervorstechendsten gewesen seien. Stundenlang sei er damals vorbeigeradelt an den ihm endlos erscheinenden dunklen Reihen der Stoffballen, den glänzenden Stiefelschäften, den verzinkten Gießkannen, dem Peitschenständer und dem für ihn besonders bezaubernden Spezialschrank, in welchem hinter gläsernen Fensterchen Gütermanns Nähseiden in sämtlichen Farben des Spektrums angeordnet gewesen seien.

Aurach sieht sich in seiner Kindheit vorwiegend auf Reisen mit dem Vater. Das Wohnzimmer der Eltern betritt er vom Ausstellungspalast in Trafford Park aus durch eine trompe-l’oeil-Tür und findet dort Frohmann aus Drohobycz auf dem Kanapee sitzend. Selwyn erinnert sich an seine Kindheit erst ab dem Augenblick, als er, im Alter von sieben Jahren, zu dem litauischen Dorf hinausfährt, um es nie wiederzusehen. Er sieht sich mit dem Kinderlehrer im Cheder, er sieht die leergeräumten Zimmer, an das noch bewohnte Elternhaus erinnert er sich nicht. Cosmo Solomon hat nie Wohnungssorgen gehabt. Lange hatte er versucht, in Nobelhotels, auf Rennbahnen oder in Spielkasinos möglichst viel Geld zu verbrennen, ohne damit zum Ende zu gelangen. Als es dann mit ihm zuende geht, hat man ihn nach dreitägiger Suche in seinem seit vielen Jahren versperrten Kinderzimmer gefunden Mit bewegungslos herabhängenden Armen stand er auf einem Schemelchen und starrte hinaus auf das Meer, wo manchmal, sehr langsam, die Dampfschiffe vorbeifuhren, nach Boston und nach Halifax. Wie es ihm während seiner Kindheit in diesem oder einem anderen Zimmer ergangen ist, erfahren wir nicht.

Aber nicht nur bei den Wohnungen der Kindheit besteht Not. Was Selysses anbelangt, so können wir nur aus einigen kargen Indizien erschließen, daß er behaust und nicht ständig nur unterwegs ist. Zugang zu seiner Wohnung erhalten wir ebenso wenig, wie er als Kind, oder irgend jemand sonst, die Wohnung der Mathild Seelos betreten durfte. Austerlitz’ Wohnung in der Alderney Street ist auf die Bedürfnisse aus dem Leben gegangener Motten kaum weniger eingestellt als auf die lebender Menschen. Bereyter, so schein es, hat bei Mme Landau in der Schweiz ein Heim gefunden, er gibt aber seine Wohnung in der deutschen Ortschaft S. nicht auf und kehrt dorthin zurück um Zwecke der Selbsttötung. Selwyn hat sein Haus weitgehend zugunsten der in einer entfernten Ecke des Gartens gelegenen kleinen Einsiedelei aufgegeben. Alec Garrad lebt fast nur noch in dem Stadel, in dem sein Tempelmodell der Vollendung entgegenwächst. Die gediegene Frage, ob er noch wohne oder schon lebe, prallt an Aurach ab, er haust in seinem Atelier, der bei der Malarbeit anfallende Staub ist ihm der liebste Gefährte. Als seine Mittel es erlauben, nimmt er Wohnung in einem verfallenden Luxushotels vom Ende des 19. Jahrhunderts. Die legendäre Dampfheizung funktioniert bestenfalls noch stotternd, aus den Wasserhähnen rieselt der Kalk, die Fensterscheiben sind mit einer dichten, vom Regen marmorierten Staubschicht überzogen. Das Haus der Ashburys in Irland hat gewisse Züge eines trauten Heims, mehr aber noch die einer verwunschenen Burg. Wie von einem bösen Bannspruch getroffene Riesenkinder saßen die drei ledigen, beinahe gleichaltrigen Töchter auf dem Fußboden zwischen den Bergen ihres Materiallagers und arbeiteten, selten nur ein Wort miteinander wechselnd, in einem fort.
Das einzige uneingeschränkt traute Heim schildert Aurachs Mutter Luisa, und hier greift Sebald auf einen vorgefundenen Text zurück, den er nur leicht verschiebt. Als Kandidat zu nennen ist sicher Andromeda Lodge, aber für Austerlitz ist es ein Ferienparadies, und wie es in der Abwesenheit von Gerald und Austerlitz dort aussieht, wissen wir nicht. Erwähnt werden muß schließlich Romanas Elternhäuschen, das mit seinem geschindelten, vielfach geflickten Walmdach einem auf der Hügelkuppe gestrandeten Schiffchen gleichsah. Immer schaute grad der Vater der Romana, der ein verschmitzter Mensch gewesen ist, wie der Noah aus der Arche zu einem der winzigen Fensterchen heraus und rauchte einen Stumpen auf seinem Waldhörnchen. Es ist eine mit Liebe und Scherz gezeichnete Idylle, die einer realistischen Betrachtung wohl nicht standhalten könnte.

Sebald hat sich immer wieder zu den Prosaautoren des neunzehnten Jahrhunderts im süddeutschen Sprachraum bezogen. Der Nachsommer ist wenig mehr als eine Zelebration der rechten Unterkunft des Menschen. Im Grünen Heinrich unterhält die Mutter ein Feuerchen, das von fast nichts brennt, und die Wohnung ist dem angepaßt. Es ist nicht schwer zu erkennen, welcher der beiden Dichter Sebald näher stand. Wollte man man sich nach dem kurzen Ausflug in die Komparatistik auch noch der biographischen Methode zuwenden, wären aus dem Mißfallen am elterlichen Wohnzimmer weitreichende literarische Folgen abzuleiten.

Freitag, 11. Januar 2013

George Orlando Le Strange

Miles Dei per saecula saeculorum

Von links tritt er uns entgegen. Zuvorderst steht er am Bildrand eine Handbreit über der Welt und wird gleich über die Schwelle des Rahmens treten. Georgius Miles, Mann mit eisernem Rumpf, erzen geründeter Brust, rotgoldenem Haupthaar und silbernen weiblichen Zügen. Er geht in die Welt hinaus und zwar nach Regensburg, wo er ein Schiff besteigt, um, wie anderthalb Jahrtausend nach ihm Jakob Philipp Fallmerayer, die Donau hinabzufahren, in die Ägäis, durch die Dardanellen, das Marmarameer und den Bosporus in das Schwarze Meer, die kleinasiatische Küste entlang bis nach Trapezunt, von wo ihn der Hilferuf der Prinzessin erreicht hat.

Schon sieht er das Untier mit zwei noch flügellosen Jungen aus seiner Brut. Einiges an Knochen und Gebein, Überreste der zur Befriedigung des Drachen geopferten Tiere und Menschen, liegen verstreut herum. Die eher nördlich anmutende Gegend erhebt sich in den blauen Himmel, auf einem Meeresarm zieht ein Schiff mit geschwellten Segeln dahin. Alles ist Gegenwart und diesseitig. Das wellige Land, die gepflügten Felder, die Hecken und Hügel, die Stadt mit ihren Dächern, Türmen und Zinnen und der Galgen, dessen baumelnde Gehenkte der Szenerie eine eigene Lebendigkeit verleihen. Gebüsch, Gesträuch und Blattwerk sind wie mit Liebe gemalt und auch die Tiere, der landeinwärts fliegende Storch, die Hunde, der Schafbock und die Pferde der sieben Berittenen, seiner Begleiter, unter denen sich ein kalmückischer Bogenschütze befindet mit einem schmerzhaften Ausdruck der Intensität im Gesicht. Er selbst, von dessen Rüstung das Silber abgeblättert ist, den aber der Glanz des rotgoldenen Haupthaars noch umgibt, nimmt Abschied von der Principessa in ihrem Federkleid. Schon schweift sein männlicher Blick ab auf die schwere blutige Arbeit, während ihr Blick verharrt in der Beschlossenheit des weiblichen Auges.

Nun ist sie bereits getan, die blutige Arbeit. Aus dem Himmelsblau strahlt es wie eine goldene Scheibe hervor, darin die Jungfrau mit dem Erlöserkind. Darunter zieht sich von einem Bildrand zum andern ein Saum dunkelgrüner Baumwipfel. Zur Linken steht der Patron der Herden, Hirten und Aussätzigen, der heilige Antonius. Er trägt ein tiefrotes Kapuzenkleid und einen weiten erdbraunen Umhang. In der Hand hält er eine Schelle. Ein zahmer, zum Zeichen der Ergebenheit ganz an den Boden geduckter Eber liegt ihm zu Füßen. Mit strengem Blick sieht der Eremit auf die glorreiche Erscheinung des Ritters, der ihm gerade gegenübergetreten ist und von dem etwas herzbewegend Weltliches ausgeht. Der Drache, ein geringeltes, geflügeltes Tier, hat sein Leben längst ausgehaucht. Die aus weißem Metall geschmiedete, kunstreiche Rüstung versammelt auf sich allen Abendschein. Nicht der geringste Schatten der Schuldhaftigkeit fällt auf das jugendliche Gesicht des Drachentöters. Schutzlos sind Nacken und Hals dem Betrachter preisgegeben. Das ganz Besondere aber ist der außergewöhnlich schön gearbeitete, weitkrempige und mit einer großen Feder geschmückte Strohhut, den der Ritter auf dem Kopf hat. Con cappello di paglia - sehr verwunderlich, wie vielleicht auch die beiden guten Pferde sich denken, die dem Ritter über die Schulter blicken. Das labile Gleichgewicht dieser Szene, oder besser vielleicht: die Unentschiedenheit zwischen Vergangenheit und Zukunft wird den Ritter fortan nicht mehr verlassen.

Für lange Jahrhunderte verliert sich dann seine Spur. Unmittelbar vor dem ersten Weltkrieg ist sie (das weibliche Element in seinem Wesen hatte für eine gewisse Zeit die Oberhand gewonnen) in das Regensburger Kloster der Englischen Fräulein eingetreten, hat das Kloster aber noch vor Kriegsende unter eigenartigen Umständen wieder verlassen und einige Monate lang, in der roten Zeit, in München sich aufgehalten, von wo sie in einem arg derangierten und fast sprachlosen Zustand zurückgekehrt ist. Die Dorfbewohner haben sich über sie dahingehend ausgelassen, daß sie aus dem Kloster und aus dem kommunistischen München völlig hinterfür heimgekommen sei, und sie hinter ihrem Rüchen eine rote Betschwester geheißen. Sie ihrerseits hat sich, nachdem sie einigermaßen ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte, durch solche Bemerkungen in keiner Weise aus dem Konzept bringen lassen. Ganz im Gegenteil hat sie sich in ihrer Eingezogenheit offensichtlich in zunehmendem Maße wohlgefühlt, ja die Art wie sie Jahr um Jahr unter den von ihr verachteten Dorfbewohnern herumgegangen ist, unfehlbar in einem schwarzen Kleid oder einem schwarzen Mantel und stets unter der Bedeckung eines Hutes und nie, auch beim schönsten Wetter nicht, ohne Regenschirm, hat etwas durchaus Heiteres an sich gehabt. In ihrer Bibliothek standen neben Literarischem aus dem letzten Jahrhundert und einem türkischen Lexikon samt kleinem Briefsteller zahlreiche religiöse Werke spekulativen Charakters, Gebetsbücher aus dem 17. und frühen 18. Jahrhundert mit zum Teil drastischen Abbildungen der uns alle erwartenden Pein. Zum anderen fanden sich mit den geistigen Schriften vermischt mehrere Traktate von Bakunin, Fourier, Bebel, Eisner, Landauer sowie der biographische Roman von Lily von Braun. Die Unentschiedenheit zwischen den Zeiten hält an.

Im zweiten Krieg hat er zum männlichen Wesen zurückgefunden und nimmt teil an der Befreiung von Bergen Belsen, dringt wieder ein in den finstren Wald, um das Untier zu töten. Gleich nach der blutigen Arbeit aber kehrt er auf seine Güter zurück. Nach und nach entläßt er das Hauspersonal ebenso wie die Landarbeiter, Gärtner und Verwalter. Als Haushälterin verschreibt er sich eine einfache junge Frau namens Florence Barnes unter der ausdrücklichen Bedingung, daß sie die von ihr zubereiteten Mahlzeiten mit ihm gemeinsam, aber unter Wahrung absoluten Stillschweigens einnimmt. Er sei in späteren Jahren, so heißt es, weil er seine Garderobe völlig abgetragen hatte und neue Stücke sich nicht mehr zulegen wollte, in Kleidern aus früheren Zeiten herumgegangen, die er bei Bedarf aus den Kästen auf dem Dachboden seines Hauses hervorholte. Es gab Leute, die behaupteten, ihn gelegentlich gesehen zu haben in einem kanarienfarbenen Gehrock oder einer Art Trauermantel aus verschossenem veilchenfarbenen Taft mit vielen Knöpfen und Ösen. Auch hieß es, er, der immer schon einen zahmen Hahn auf seinem Zimmer gehalten hatte, sei nachmals ständig umschwärmt gewesen von allem möglichen Federvieh, von Perlhühnern, Fasanen Tauben und Wachteln und den verschiedenen Garten- und Singvögeln, die teils am Boden um ihn herumliefen, teils in der Luft ihn umflogen. Einmal im Sommer habe er in seinem Garten eine Höhle ausgehoben, in der er tage- und nächtelang gesessen sei gleich dem heiligen Hieronymus in der Wüste.

Er muß dann sein Eremitendasein doch wieder aufgegeben haben, denn 1987 treffen wir ihn im deutschen Konsulat zu Mailand. Sein Äußeres zeigt, daß er die Helle des Daseins in gewisser Weise wiedergefunden hat. Er trägt einen weißen Sommeranzug und überaus elegante steifleinene Schuhe mit Lederbesatz. In der Hand dreht er, einmal links herum, einmal rechts herum den schon bekannten formvollendeten weitkrempigen Strohhut, den Cappello di paglia. Er ist jetzt Haupt einer Artistentruppe bestehend aus seiner Frau, drei Töchtern und der Nonna, lauter Santini, kleine Heilige. Seinen wenigen Bewegungen sieht man an, daß das Kochen einer Eierspeise auf einem Hochseil, wie Blondin es bei seinen Auftritten sensationellerweise vollführt hatte, für ihn ein Kinderspiel gewesen wäre. An freien Tagen aber steht er gern am Ende der hohen Friedhofsmauer in der Ortschaft W. und durchbohrt ohne Unterlaß mit einem Spieß der zu seinen Füßen liegenden Nachbildung eines greifartigen Vogeltiers den Rachen.

Mittwoch, 9. Januar 2013

Uisce Beatha

Wasserscheu

Selysses’ Vorfahren sind mit dem Schiff nach Amerika ausgewandert, er selbst benutzt über den Ozeanen das Flugzeug. Generell schaut er lieber vom Land aus aufs Meer - am liebsten durch die Fenster des Sailor’s Reading Room in Southwold -, als daß er sich auf das Wasser begibt. Von dem, was sich über unseren Köpfen tut, konnte Tiepolo ein in seiner Zeit überzeugendes Bild verschaffen, über das Wasser ist Jesus hinweggegangen, ohne herabzuschauen, die Jünger haben die Fische herausgezogen, genaueres von der Unterwasserwelt wollten sie nicht wissen. Alles dort drunten spielt sich ab in wüster Finsternis und bietet, so scheint es, das erschreckende Bild einer an ihrem eigenen Überfluß erstickenden Natur. Nach einer Berechnung Buffons würde die Menge der Heringe, könnten sie sich nur ungestört vermehren, bald das zwanzigfache Volumen der Erde ausmachen, da kann Fischerei nicht anders denn als Weltenpflege verstanden werden. Zur Schonung etwaiger zartfühlender Gemüter wurde zudem die Lehrmeinung entwickelt, die physiologische Organisation der Fische schütze sie vor der Empfindung der Angst und der Schmerzen. In Wahrheit aber wissen wir nichts von den Gefühlen der Herings, und noch weniger wissen wir von den Makrelen. Wo sie überall herumziehen, das war lange und ist auch heute noch ein Rätsel. Wahrscheinlich sind die Zusammenhänge zwischen dem Leben und Sterben der Menschen und der Makrelen weitaus komplizierter, als wir erahnen, und keiner von uns weiß letztlich, wie er dem anderen auf den Teller kommt.

Die Makrelen sehen wir vom Boot aus nur knapp unter der Wasseroberfläche. In die Tiefe der See schaut Thomas Browne in seinem Kompendium der unterseeischen Botanik, in welchem alles, was auf den Felsengebirgen und in den Tälern des Meeresgrundes wächst, sämtliche Algen, Korallen und Wasserfarne, von niemandem bisher in Augenschein genommene, von den warmen Strömungen durchwogte Stauden und mit den Passatwinden von Kontinent zu Kontinent treibende Pflanzeninseln beschrieben und dargestellt sind. Ähnlich beschreibt Alphonso die submarinen Gärten klaftertief unter der Oberfläche des Meers, wo aus den Stein durch die Brandung Höhlungen und Becken gebrochen und geschliffen worden sind seit Jahrmillionen, die unendliche Vielfalt des zwischen dem Pflanzlichen, Tierischen und Mineralischen oszillierenden Wachstums, die Zooiden und Korralinen, Seeanemonen, Seefächer und Seefedern, die Blumentierchen und Krustazeen. Browne allerdings beschreibt etwas, was noch niemand jemand in Augenschein genommen hat, ähnlich wie Tiepolo den Himmel nicht wirklich kannte, und Alphonso verläßt nicht den unmittelbaren Küstenbereich. Die Tiefen der Ozeane bleiben verborgen.

Aber hier soll es gar nicht um die großen Ozeane, sondern um kleinere Gewässer gehen. Das Wasser, das durch Venedigs Kanäle fließt, ist Meereswasser, aber es ist erheblich kontingentiert im Vergleich zur offenen See. Schwerbeladen, bis zur Bordkante im Wasser, zogen die Kähne vorbei, rauschend tauchten sie aus dem Nebel auf, durchpflügten die aspikfarbene Flut und verschwanden wieder in den weißen Schwaden der Luft. Aufrecht und reglos standen die Steuermänner im Heck. Die Hand am Ruder, schauten sie unverwandt voraus, jeder einzelne ein Sinnbild der Wahrheitsbereitschaft. Wie sie zu dieser Sinnbildhaftigkeit kommen, bleibt unklar, sicher ist, sie schauen nicht herab ins Wasser. Als Selysses eine große Ratte bemerkt, die an der Bordkante eines mit Müll beladenen Kahns entlang läuft und sich kopfüber ins Wasser stürzt, reist er ohne Verzug ab aus der Stadt der Kanäle.
Gewässer können noch bei weitem kleiner sein als die Kanäle von Venedig. Im Schutz der niederhängenden Zweige einer Trauerweide sah ich, in Amsterdam, vom Fenster des Hotels aus, ein Entenpaar, reglos auf der von grasgrüner Grütze ganz und gar überzogenen Fläche des Wassers. Mit solch vollkommener Klarheit ist dieses Bild auf einen Sekundenbruchteil aufgetaucht aus der Dunkelheit, daß ich jetzt noch jedes einzelne Weidenblatt, die feinsten Schattierungen im Gefieder der beiden Vögel, ja sogar Punkte der Poren der über ihre Augen gesenkten Lidhaut zu sehen vermeine. - Die Enten schwimmen auf dem Wasser, der Grund ist durch die Pflanzendecke verborgen. Ein melancholisches Detail, ein metaphysischer Augenblick, ein mystisches Erlebnis äußerster Heftigkeit und Helle, ein Erlebnis, das sich an späterer Stelle noch einmal wiederholt: Auf dem Grabenbrückchen erzählte Garrad von seiner Vorliebe für die Enten, von denen einige still auf dem Wasser herumruderten. Schon als Kind sei ihm immer die Farbgebung ihres Federkleids, insbesondere das Dunkelgrüne und das Schneeweiße, als die einzige mögliche Antwort erscheinen auf die Fragen, die ihn von jeher bewegten.

Von der Staumauer von Vyrnwy schaut man herab in ein anderes, tieferes Wasser. Man muß wissen, daß vielleicht hundert Fuß unter dem dunklem Wasser noch mindestens vierzig Häuser und Höfe stehen, ferner die Kirche zum heiligen Johann und drei Kapellen und drei Bierschenken, und man stellt sich vor, daß die Dorfbewohner drunten in der Tiefe weiterhin in ihren Häusern sitzen und auf der Gasse herumgehen, aber ohne sprechen zu können und mit viel zu weit offenen Augen. Nachts vor dem Einschlafen ist es uns, als seien auch wir untergegangen in dem dunklen Wasser, nicht anders als die armen Seelen von Vyrnwy, die Augen weit offen, um hoch über uns einen schwachen Lichtschein zu sehen und das von den Wellen gebrochene Spiegelbild des steinernen Turms, der so furchterregend für sich allein an dem bewaldeten Ufer steht. – Versöhnungsansätze scheinen erkennbar, das Wasser ist vielleicht ein wenig trockener als üblich, die Menschen ein wenig aufgeschlossener gegenüber dem Naß, aber man kann dem nicht trauen, es ist die Versöhnung des Todes.
Zurück in Venedig treffen wir den heiligen Franz in einem schwankenden Schilfbeet mit dem Gesicht nach unten im Wasser treibend, und über die Sümpfe schreitet die heilige Katharina, ein kleines Modell des Rads, auf dem man sie gebrochen hatte, in der Hand. O daß wir unsere Ururahnen wären, ein Klümpchen Schleim in einem warmen Moor: haben die Heiligen verzagt, hat diese Sehnsucht auch sie erfaßt? Eher müssen wir sie wohl als in der Neuzeit Gescheiterte, als Abgestürzte sehen. Auch bei Benn ist die zur Schau gestellte Sehnsucht sicher zur Hälfte als Sehnsucht getarntes Entsetzen.

Auch wenn im Wasser der Ursprung des Lebens zu suchen ist, bietet es doch das erschreckende Bild eines am eigenen Überfluß erstickenden Daseins in wüster Finsternis, dem der Mensch sich nicht zugehörig sieht. Bis in die neuere Zeit haben die Seeleute darauf verzichtet, die Schwimmkunst zu erlernen, an der näheren Bekanntschaft mit dem Naß war ihnen nicht gelegen. Das Lebenswasser sieht der Mensch seit alter her im flüchtigeren, helleren Stoff der Spirituosen: Aquavit, Eau de vie, Uisce Beatha oder auch Dŵr bywyd, wie Austerlitz es in seiner Jugendzeit beim Schuster Evan in Bala gelernt hatte

Den Sebaldweg von Oberjoch nach W. herabwandernd kehrt Selysses in Unterjoch beim Hirschwirt ein und trinkt, wie es ausdrücklich heißt: zur Stärkung, einen halben Liter Tirolerwein, kein geringes Maß für einen Fußwanderer, der noch ein gutes Stück Wegstrecke vor sich hat, manch anderer hätte sich mit einem Viertele oder weniger begnügt. An anderer Stelle erfahren wir von einer Alkoholallergie, die ihn hinderte, diesen Weg in die Spiritualität fortzusetzen. Entschieden weiter gegangen sind ihn die Sandler im Innsbrucker Bahnhof, bei denen ein Zug ins Philosophische klar zu erkennen ist, ohne daß sie aber eine Vorbildwirkung auf jedermann ausüben könnten. Die Bauern, die bis in die Nacht hinein im Engelwirt hocken und oft bis zur Besinnungslosigkeit trinken, gehen zu weit in den Augen des Autors, versinken im vermeintlichen Aqua vitae wie im zunächst warmen, dann kalten Moor.

Freitag, 4. Januar 2013

High Windows

Unaufgeklärte Verbrechen

Hätte Chandler nicht nur The High Window, sondern alle seine Bücher mit einem Architekturdetail betitelt, würde man darin keine Verkennung des eigenen Werkes sehen. In Austerlitz kann den Leser auf den ersten Seiten der Wunsch erfassen, die Geschichte möchte sich von Bahnhof zu Bahnhof bewegen, und alles andere unterbliebe. Auf das Verständnis des Autors, der gern Perspektiven wählt, in denen die Menschen in ihren immobilen und mobilen Artefakten verschwinden, kann er sich dabei verlassen. Ähnlich möchte der Leser mit Marlowe Häuser und Gebäude verschiedener Kategorie betreten, die Unterkünfte der reichen Auftraggeber, Bürogebäude florierender Companies und solche, in denen Winkeladvokaten, eingestaubte Numismatiker, windige Dentallabore und Ärzte ohne Zulassung Unterkunft gefunden haben, Altenheime, Entziehungsspitale, Hotels und Absteigen verschiedener Stufen des Glanzes und der Depravation und Schäbigkeit, er möchte mit Marlowe hinausfahren in die Vorstädte, in die San Gabriel Mountains, die Küste hinab Richtung Mexiko, und weiter müßte nichts geschehen. Auf den ersten Blick mögen die Gebäudeannäherungen wie Bestandsaufnahmen erscheinen, es sind aber, wie auch bei Sebald, Weltdeutungen. Eine gebäudeorientierte Kurzfassung der ersten Kapitel von The High Window liest sich wie folgt.
The House was an Dresden Avenue in the Oak Knoll section of Pasadena, a big solid cool-looking house with burgundy brick walls, a terra-cotta tile roof, an a white stone trim. The front windows were leaded downstairs. Upstair windows were of the cottage type and had a lot of rococo imitation stonework trimming around them. From the front wall and its attendant flowering bushes a half-acre or so of fine green lawn drifted in a gentle slope down to the street. There was a heavy scent of summer on the morning and everything that grew was perfectly still in the breathless air on what they call a nice cool day. Marlowe had an office in the Chahuenga Building, sixth floor, two small rooms at the back. Three hard chairs and a swivel chair, flat desk with a glass top, five green filling-cases, three of them full of nothing, a calendar and a framed licence bond on the wall, a phone, a washbowl in a stained wood cupboard, a hat-rack, a carpet that was just something on the floor, and two open windows with net curtains that puckered in and out like the lips of a toothless old man sleeping. Stillwood Crescent Drive curved leisurely north from Sunset Boulevard, well beyond the Bel-Air Country Club golf courses. The road was lined with with walled and fenced estates. Some had high walls, some had low walls, some had ornamental iron fences, some were a bit old-fashioned and got along with tall hedges. The street had no sidewalk. Nobody walked in that neighbourhood, not even the postman. The Belfont Building was eight stories of nothing in particular that had got itself pinched off between a large green and chromium cut-rate suit emporium and a three-storey and basement garage that made a noise like lion cages at feeding time. The small dark narrow lobby was as dirty as a chicken yard. The building directory had a lot of vacant space on it. Opposite the directory a large sign tilted against a fake marble wall said: Space for Rentimg Suitable for Cigar Stand. Apply Room 316. Bunker Hill is old town, lost town, shabby town, crook town. Once, very long ago, it was a choice resedential district of the city, and there were still standing a few of the jigsaw Gothic mansions with wide porches and walls covered with round-end shingles and full corner bay windows with spindle turrets. They are all rooming houses now, their parquetry floors are scratched and worn through the once glossy finish and the wide sweeping staircases are dark with time and with cheap varnish laid on over generations of dirt. On the wide cool front porches, reaching their cracked shoes into the sun and staring at nothing, sit the old men with faces like lost battles.
Irgendwann wird die Wahrnehmung des Gebäudes noch sorgfältiger, das Betreten noch überlegter, ein langer Gang, kein Mensch, die Wohnungstür gibt nach, the door to the left led into a small kichenette with a brown woodstone sink and and a three burner stove, weiter, ein anderes Zimmer, on the dresser was a comb and a black brush with a few blond hairs in ist black bristles. Also a can of talcum, a small flashlight with a cracked lens, cigarettes and matches and a small ashtray that contained half a dozen stubs. The bathroom door opened about a foot and then stuck. Marlowe weiß es und der Leser weiß es ebenso gut, der Weg führt zur Leiche, und sogleich entsteht der Wunsch, alles möge sich wiederholen, nicht die selben Gebäude, aber ähnliche, vielleicht eine Fahrt in die San Gabriel Berge, vielleicht eine Fahrt nach Tijuana, eine Tür gibt nach, eine andere läßt sich nur einen Spalt weit öffnen. The Lady in the Lake beginnt: The Treloar Building was, and is, on Olive Street, near Sixth, on the west side. The Gillerain Company was on the seventh floor, in front, behind swinging double plate-glass doors bound in platinum. The reception room had had Chinese rugs, dull silver walls … Und weiter: It was a white shallow House with rose stucco walls faded out to a pleasant pastel shade and trimmed with dull green tiles, round rough ones. There was a deeply inset front door framed in a mosaic of multi-coloured pieces of tiling and a small flower garden in front behind a low stucco wall topped by an iron railing which the beach moisture had begun to corrode. – Die Tote wird dann allerdings, wie der Titel verlangt, nicht im Badezimmer, sondern in einem See aufgefunden.
In Austerlitz findet sich Balzacs wie immer wuchtiger Roman vom Colonel Chabert gemäß Sebalds Prosavorstellungen gekürzt auf den Unfang einer zweiseitigen eleganten Erzählung wieder, bei der Nacherzählung eines Chandlerromans könnten die Streichungen weitaus sparsamer ausfallen. Nicht nur die Häuser können so bleiben, wie sie sind, auch das zugehörige Empfangs- und Dienstpersonal müßte nicht ausgewechselt werden, die Hauswarte, Conciergen, Fahrstuhlführer, Türwächter, Barmänner, Kellner und Zimmermädchen, auch wenn sich Marlowe berufsbedingt mit ihnen ausführlicher befassen muß, als Selysses es tut. Die Mitreisenden sind bei Chandler, dessen Marlowe immer allein im Oldsmobile unterwegs ist, naturgemäß unterrepräsentiert. Selysses allerdings, der in Europa nur mit dem Zug und allenfalls mit dem Flugzeug unterwegs ist, paßt sich in Amerika den dortigen Reisesitten an, und doch gelingt es ihm, auf dem Highway eine in der Nebenspur in ihrem Fahrzeug dahinrollende Negerfamilie als Reisegefährten zu gewinnen. Chandlers Chessmen können verharren auf ihrem Brett, lined up ready to go with that sharp, competent and complicated look they always have at the beginning of the game. Wer auf das risikoreiches Spiel sich einläßt, muß wissen, daß mit einem falschen Zug alles vertan ist. Beautiful, cold, remorseless chess, almost creepy in its silent implacability. Fifty-nine moves, die Beschreibung des perfekten Kriminalromans mit dem Mord als dem neunundfünfzigsten und letztem Zug.

Bei der Verfilmung von The Big Sleep hatte Howard Hawks bei der Rasanz der Inszenierung aus dem Auge verloren, wer eigentlich der Übeltäter ist. Ein Anruf bei Chandler führte zu nichts, der wußte es auch nicht mehr. Die Täterentlarvung, Höhepunkt und Sinn des klassischen Whodunit, wird zur Crux des literarischen Krimis. Bei der endgültigen und oft umständlichen Verbrechensauf- und -erklärung ist auch Chandlers Chessman längst nicht mehr so beautiful, cold and remorseless wie beim ersten Eintritt in die Villa des Auftragsgebers. Die Darlegung der verzwickten Verhältnisse veranlaßt Marlowe zu einer unerwünschten Umständlichkeit, die der Autor bei allem Bemühen um Lakonie und Rhythmus nicht unterbinden kann. Nimmt man nach längerer Zeit einen Chandlerroman wieder zur Hand, erinnert man sich an vieles aber nicht mehr an den Mörder, man ist auch nicht darauf bedacht, diese Erinnerung aufzufrischen.

In den Schwindel.Gefühlen erläutert Selysses der Wirtin Luciana Michelotti, er schreibe an einem in Oberitalien spielenden Kriminalroman und gibt sich damit als Private Eye zu erkennen, der in einem zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgeschlossenen Buch agiert. Es gehe um eine Reihe unaufgeklärter Verbrechen und um das Wiederauftauchen einer seit langem verschollenen Person. Bei seiner ersten Italienreise hatte Selysses befürchtet, selbst Opfer zweier ihn quer durch Oberitalien verfolgender Augenpaare zu werden. Kaum aus Limone abgereist, wird er am Mailänder Bahnhof tatsächlich Opfer eines räuberischen Angriffs, schreibt also realiter fort an seinem Kriminalroman. In Verona beschäftigen ihn die Untaten der Gruppe Ludwig. Bei der seit langem verschollenen Person handelt es sich wohl um den Jäger Gracchus, und hier hat Selysses einen gewissen Fahndungserfolg, der allerdings nicht aktuell ist, sondern in seine Kindheit in W. zurückführt. Als der ebenfalls bei Kafka entliehene Jäger Schlag in der Umgebung von W. ums Leben kommt, kann er ihn im besten Detektivstil anhand der eintätowierten Barke als den mutmaßlichen Gracchus identifizieren. Zielsichere Ermittlungen sind das nicht, aber auch schon Marlowe mußte eingestehen: I stood there wondering and not having the faintest glimmer of an idea. Dem klassischen Detektiv sind solche Augenblicke der Verlorenheit fremd. Holmes entdeckt sofort irgendein Indiz und schließt eine lange Kette unfehlbarer Schlußfolgerungen an, Poirot setzt ohne Verzug die immer tatbereiten grauen Zellen in Gang.

Es ist keine leere Koinzidenz der Art, wie Sebald sie liebt, wenn der Detektiv in dem Augenblick die geschichtliche Bühne betritt, als Europa beginnt, seine sakrale Abteilung zu verlieren. Die große, alles umfassende Erklärung aus dem Jenseits ist dahin, zahllose Detailaufklärungen müssen sie ersetzen. Therapeuten treten auf in Scharen und erläutern jedem einzelnen von uns sein Leben. Detektive begeben sich auf Spurensuche und die Autoren lassen uns daran teilhaben. Kirchen gehören nicht zu den Gebäuden, die Marlowe üblicherweise betritt, und Selysses sucht sie nur auf, um Zwiesprache mit den großen Bildwerken der Vergangenheit zu halten. It was a very nice jail, my part of it was as peaceful as a church - das ist in etwa schon der Umfang und die Grenze für Marlowes religiöse Erlebnisfähigkeit. Für Selysses sind die Bahnhöfe die neuen Kathedralen, Manchester das neue Jerusalem, aber das galt für das neunzehnte Jahrhundert und ist schon wieder Vergangenheit. Wenn in Schiphol offenbar körperlose Wesen, Engel mithin, die Ansagen intonieren, so ist der Nachfolger des Bahnhofs gefunden, der Nachfolger für Manchester bleibt unbenannt.

Gern arbeiten Kriminalromane mit einer Zeitstufenstruktur der Art, daß ein gegenwärtiges Verbrechen nur die Folge eines längst vergangenen und vermeintlich vergessenen anderen Verbrechens ist. Wenn Austerlitz in der jüngeren Vergangenheit spielt, die noch unsere Gegenwart ist, so findet die Spurensuche doch fast ausschließlich in Gebäuden des neunzehnten Jahrhunderts statt. Verirrt der Detektiv sich in einen Neubau wie die Pariser Nationalbibliothek, so ist der Eindruck noch um einiges niederschmetternder. Selysses reist und wandert durch die Gegenwart, die gefundenen Spuren helfen aber bestenfalls bei der Entschlüsselung des Vergangenen und auch das mit der nötigen Unschärfe. Die Verbrechen sind nicht klar, geschweige denn, daß sie aufgeklärt würden. Wie soll sich das mythische Vergehen des Jägers Gracchus im Allgäu klären oder im Tirol.

Priester und Pfarrer mußten die Erhellung der Welt, ihre Erlösung, nicht fürchten, sie selbst waren sozusagen inbegriffen. Anders sieht es bei ihren Nachfolgern im Rahmen der säkularen Aufklärung aus. Die Therapeuten wären bei einer umfassenden Heilung brotlos, und bei den Detektiven geht die Sorge über das Materielle hinaus und gewinnt diabolischen Charakter. Sherlock Holmes verfällt bei ausbleibendem Kriminalfall sogleich in Depressionen, und Hercule Poirot ergeht es kaum besser. Sie haben Glück, trotz rastloser und, unter der Ägide der klassischen Detektive wie Holmes und Poirot unfehlbarer Aufklärung will es nicht aufklaren. Die Erhellung ist der fortschreitenden Verdunklung nicht gewachsen. Das Licht in Sebalds Werk ist weder das der Gnade Gottes noch das der gesellschaftlichen Aufklärung, es ist allein die Innenbeleuchtung der Prosakunst.
Manche nehmen dieses Licht nicht wahr, für andere ist es eine Einladung, angesichts einer bis in ihre Fasern verbrecherischen Welt, bei deren Einrichtung unserem Herrn ganz offensichtlich schwere Kunstfehler unterlaufen sind, sich mit diesem Licht zu begnügen und im Inneren dieser Prosa zu verweilen oder sich doch, wie Salvatore Altamura, an jedem Abend in sie zu flüchten, wie auf eine Insel. Die kleinen Sebaldstücke sind das Ergebnis einer Annahme dieser Einladung. Die herkömmlichen Kriminalromane sprechen eine ähnliche Einladung durch ihre Serialität aus, durch den immer neuen Fall. Chandlers Serie ist nicht sehr lang geworden, und seine Prosa wirbt mit dem hellen Schein einer eigenen leistungsstarken Lichtmaschine, der es fast gelingt, die konkreten Untaten zu verwischen in ein tiefes dauerhaft zu beleuchtendes Unheil.