Dienstag, 23. Oktober 2018

Brücken

Verschlossen

Es war spätabends, als K. ankam. Das Dorf lag in tiefem Schnee. Vom Schloßberg war nichts zu sehn, Nebel und Finsternis umgaben ihn, auch nicht der schwächste Lichtschein deutete das große Schloß an. Lange stand K. auf der Holzbrücke, die von der Landstraße zum Dorf führt und blickte in die scheinbare Leere empor. – Robert Crumbs Illustration läßt Kafkas Brücke über einen Bachlauf führen. Die meisten Brücken überqueren Gewässer, aber längst nicht alle, auch wasserlose Geländevertiefung werden überbrückt, besonders oft auch Eisenbahntrassen. Unwahrscheinlich aber, daß der Landvermesser K. gerade einem Zug entstiegen ist, alles deutet auf das Ende eines längeren Fußweges hin, möglicherweise von einem entfernten Bahnhof her. Warum steht K. längere Zeit auf der Holzbrücke, zögert er weiterzugehen, spielt er mit dem Gedanken der Umkehr? Der Leser wäre es durchaus zufrieden, sich auf ewig mit dieser Frage zu beschäftigen, wenn weiteres nicht käme.

Auf der steinernen Brücke kurz vor den ersten Häusern von W. bleibt der Dichter lange stehen, horcht auf das gleichmäßige Rauschen der Ach und schaut in die nun alles umgebende Finsternis hinein. Im Fall des Dichters ist uns der Weg hin zur Brücke in allen seinen Etappen bekannt: von Bruneck nach Innsbruck im Zug, von dort mit dem Bus nach Oberjoch, von Oberjoch nach W. zu Fuß. Auch für ihn ist sein Ziel in der Finsternis verborgen, und verschwunden bleibt der Ort auch bei einem ersten Rundgang durch die in einem bleichen Licht unbekannter Herkunft daliegenden Straßen. Es ist nicht der Ort, der während der dreißigjährigen Abwesenheit in seinen Tag- und Nachtträumen ständig wiedergekehrt war und ihm vertrauter war als jemals zuvor, nicht von dem, was er vor seinem inneren Auge mit sich trägt, findet er vor. Das Haus des Forstverwalters, eine geschindelte kleine Villa, hatte einem Ferienhaus Platz gemacht, das Spritzenhaus mit dem schönen jalousierten Turm stand nicht mehr, die Bauernhöfe waren ausnahmslos umgebaut und aufgestockt, der Pfarrhof, das Kaplanhaus, die Schule, das Bürgermeisteramt, die Käsküche, das Armenhaus, die Kurz- und Kolonialwarenhandlung von Michael Meyer, alles war auf das gründlichste renoviert, wo nicht gar vollends verschwunden. Die Hallen seiner Kindheit sind noch unzugänglicher als das Schloß, das irgendwann aus Nebel und Finsternis auftauchen wird, sie sind auf immer dahin.

Dienstag, 16. Oktober 2018

Warten

Furcht und Freude

Wenn Großstädte wie Manchester menschenleer sind oder, wie Prag, kurz vor der Entvölkerung stehen - sämtlich chronische Raucher, krank und grau, nicht mehr weit von ihrem Ende entfernt -, dann ist es nicht weiter verwunderlich, wenn der Dichter sich in Hotels, Pensionen oder auch Museen nie in eine Warteschlange einreihen muß. Die Empfangsdamen wenden sich ihm gleich zu, so als hätten sie ihn schon erwartet, in Furcht oder in Freude. Luciana Michelotti gehört sicher zu denen, die ihn mit Freude erwarten, versucht das aber zu kaschieren. Mit auffälliger Langsamkeit nahm sie das Registrationsgeschäft vor, blätterte in Verwunderung vielleicht über seine Gleichaltrigkeit mit ihr, in seinem Paß, verglich mehrmals sein Gesicht mit der Photographie, wobei ihm mir einmal lang in die Augen schaute, verschloß das Dokument zuletzt bedachtsam in seiner Lade und händigte ihm den Zimmerschlüssel aus. Später aber gelingt es ihr dann, die Feriengäste auf die Terrasse zu verbannen, um den Innenraum allein mit dem Dichter zu teilen. Bei der Engelwirtin sieht es auf den ersten Blick eher nach Furcht und Abscheu aus. Mit unverhohlener Mißbilligung musterte sie ihn, sei es wegen seiner von der langen Wanderschaft in Mitleidenschaft gezogenen äußeren Erscheinung, sei es wegen seiner ihr unerklärlichen Geistesabwesenheit. Obzwar ein zur Straße hinaus gelegenes Zimmer im ersten Stock ohne jeden Zweifel verfügbar war, blätterte sie vorwärts und rückwärts in ihrem Register herum, ehe sie ihm die Schlüssel aushändigte. Dabei hielt sie, als sei es ihr kalt, mit der Linken die Strickjacke zusammen und erledigte umständlich und ungeschickt alles nur mit der anderen Hand, wodurch sie, wir ihm schien, sich Bedenkzeit gewinnen wollte diesem eigenartigen Novembergast gegenüber. Was die Langsamkeit des Vorgehens anbelangt, unterscheiden sich die Registrierungsprozeduren in Limone und W. nicht sonderlich, vielleicht verbirgt die Engelwirtin ihre Freude nur um einiges sorgfältiger noch. Hinweise, die diese Deutungsmöglichkeit stützen würden, ergeben sich im weiteren Verlauf allerdings nicht. 

So häufig die Begegnungen mit Empfangsdamen in Übernachtungsstätten und Museen sind - nur zwei wurden hier erneut vorgestellt -, so selten geht der Dichter die Gefahr von Wartezeiten in Ladengeschäften ein, Wartezeiten unter den modernen Bedingungen der Selbstbedienung vornehmlich an der Kasse. Middleton ist nicht der geeignete Ort, die Probe aus Exempel zu machen. Das Mädchen hinter der Theke des ansonsten menschenleeren Dorfladens mißt ihn stumm mit einem mißbilligenden Blick, auf seinen Gruß hin starrt sie ihm nur völlig fassungslos ins Gesicht. Eine Deutung dieses Verhaltens als kaschierter Freude ist nicht möglich, es ist überdies die denkbar blasseste Begegnung überhaupt, wortlos bis zum Ende. Wieviel lebhafter geht es doch an den Kassen der Supermärkte zu, jedenfalls in Ländern, in denen man den Menschen mit offenem Herzen begegnet, da wird die Wartezeit nicht lang. Sie habe ein fabelhaftes Gedächtnis, läßt die Kassiererin wissen, zum Beispiel die Dame, die als nächste an der Reihe ist, sie wisse noch genau, wie sie vor dreißig Jahren ausgesehen habe, ein Fräuleinchen, ein Mädchen, ein Mädchen mit zwei blonden Zöpfen, in einer weißen Bluse, mit einem Jabot, und einem granatfarbenen Plisseerock. Davon sei nun nicht mehr viel übrig. Auch an Pola Negri könne sie sich erinnern, als sie aber von Wincenty Rozański zu Paderewski befragt wird, muß sie passen, nein, von Paderewski weiß sie nichts zu sagen.

Montag, 15. Oktober 2018

Norditaliener

Rudimentäre Typologie

In einer Bar an der Riva kommt der Dichter mit einem Venezianer namens Malachio, Astrophysiker seines Zeichens, ins Gespräch. Malachio sieht alles aus größter Entfernung, nicht nur die Sterne. Astrophysikalischer Erkenntnisgewinn und altmetaphysische Überlegungen zur Auferstehung des Fleisches sind ihm gleich nah und fern. Der Leser, genauer gesagt der Sebaldleser, ist davon angetan, auch wenn er sich keinen rechten Reim darauf machen kann. Salvatore Altamura, den der Dichter vor einer Bar auf der Piazza in Verona trifft, sieht alles aus größter Nähe, zumindest, wenn er seine Lesebrille nicht dabei hat. Er las, die Fernbrille in die Stirn geschoben, in einem Buch, das er so nah vor sein Gesicht hielt, daß es unvorstellbar war, wie er auf diese Weise etwa zu entziffern vermochte. Am Feierabend, so Salvatore, rette er sich unter allen Umständen in die Prosa wie auf eine Insel. Den ganzen Tag säße er in der Lärmflut der Redaktion, am Abend aber setze er über auf eine Insel, und wenn er die ersten Sätze anfange zu lesen, so käme es ihm jedesmal vor, als rudere er weit auf das Wasser hinaus. Naturgemäß ist der Sebaldleser auch von Altamura angetan. Eine Vorstellung vom Aussehen der beiden wird nicht vermittelt, Malachio scheint heller zu sein, Altamura dunkler.

Norditalien ist nicht ausschließlich von Intelligenzlern bewohnt, die volkstümlichen Schichten legen größeren Wert auf die äußere Erscheinung. Am linken Handgelenk trägt der Brigadiere im Polizeiposten eine riesige Rolexuhr, am rechten Handgelenk ein schweres Goldarmband. Beeindruckend ist der demonstrative Schwung, mit dem er das fertiggestellte Dokument aus der Walze reist. Sein Name wird nicht mitgeteilt, auf dem abgelichteten Blatt ist er kaum zu entziffern. Der Gesprächsertrag ist gering, auf die Frage, ob man mit dem Dokument auch ausreisen könne, ist die lapidare Antwort nur: No siamo in Russia, signore. Vollends sparsam mit den Worten ist der Taxifahrer in Mailand. Die Einordnung Mailands als gefährliches Pflaster beantwortet er nur mit einer Geste der Hilflosigkeit. Das Schmuckbedürfnis ist nach außen verlagert in Gestalt eines bunten Medaillons Unserer Lieben Frau zwischen den Armaturen. Mit einiger Sicherheit kann man zusätzlich eine unterm Hemd verborgene Kette mit dem christlichen Kreuz vermuten.

Zwei Augenpaare sind immer wieder auf den Dichter gerichtet, in Venedig und dann in Verona, er glaubt, es sind immer dieselben. Die Augen sind so groß wie die der Lemuren, die Gesichter bleiben dahinter verborgen. Sind es oberitalienische Augen und Gesichter? Falls es, beängstigend aber sehr unwahrscheinlich, die Augen der GRUPPE LUDWIG gewesen sein sollten, so war Furlan der Sohn eines italienischen Primarius an der Abteilung für plastische Chirurgie, Abel dagegen der Sohn eines deutschen Juristen, er zumindest kein waschechter Oberitaliener.

Freitag, 12. Oktober 2018

Ludwig

Gazzetino

Wenn man absieht von den zwei drei Seiten des ausklingenden Endes, schließen beide Italienreisen, die im Jahre 1980 und die im Jahre 1987, mit Erkenntnissen über die Gruppe Ludwig. Verstört und bedrängt von der Atmosphäre in der Pizzeria Verona, holt der Dichter den am Nachmittag gekauften Gazzetino aus der Jackentasche hervor und stößt auf den Bericht zu einem Schreiben der Gruppe Ludwig, in dem sie sich zu einer Reihe von Mordtaten in den Jahren 1977 bis 1980 bekennt. Opfer sind ein Zigeuner in Verona, ein Kellner in Padua und ein Heroinsüchtiger in Venedig. Verständlicherweise führt die Lektüre des Artikels nicht zu einer seelischen Beruhigung. Besser, er hätte den Gazzetino nicht erstanden.

Bis zum Jahr 1980 wisse er ja gut Bescheid, leitet Salvatore Altamura seinen Bericht ein und fährt fort, in einem zweiten Bekennerschreiben habe die Gruppe den Tod derjenigen, die Gott verraten hätten, als Grund und Ziel ihres Tuns genannt. Ihre Attentate hatten sich seither beschleunigt und waren nicht auf Einzelpersonen beschränkt geblieben. Sechs Männer waren in einem von ihnen gelegten Brand in einem Mailänder Pornokino auf einen Schlag zu Tode gekommen. Festgenommen wurden die Gruppe, die, wie sich zeigte, nur aus zwei jungen Männern bestand, wenig später, als sie in Castiglione delle Stiviere versuchten, Feuer in einer an dem Abend von vierhundert jungen Leuten besuchten Diskothek zu legen. Er glaube, so schließt Altamura seinen Bericht, sie waren zueinander wie Brüder und wußten nicht, wie sie herauskommen sollten aus ihrer Unschuld - undurchsichtige Bemerkungen sind nicht Kafkas alleiniges Privileg. Das Team Ludwig stammt aus gutem Hause, Furlan der Sohn eines Chirurgen, Abel der Sohn eines deutschen Juristen, Abel studiert Mathematik, Furlan Chemie. Naturwissenschaft und Rächer im Namen Gottes, die Struktur ähnelt der des venezianischen Astrophysikers Malachio, der in Ergänzung der Sternenforschung auch das Geheimnis der Auferstehung des Fleisches zu ergründen versucht. Verfehlungen sind im Fall Malachios aber nicht bekannt geworden.

Der Dichter war nur durch Zufall in die Pizzeria Verona geraten, zum Gazzetino hatte er nur in der Not seines inneren Aufruhrs gegriffen, was hatte ihn so beeindruckt an der Geschichte der Gruppe Ludwig, daß er eigens einen Gewährsmann um Unterrichtung gebeten hatte? Vermutlich hatte er die Geschichte in Zusammenhang gebracht mit den Augenpaaren zweier junger Leute, die er immer wieder auf sich gerichtet fühlte. Von ihm, dem Dichter, erfolgt aber kein Kommentar auf Altamuras Bericht, keine Erkenntnis, kein einziges Wort. Nichts gewonnen und doch zerronnen, ein Zeichen gelingenden Erzählens.

Donnerstag, 11. Oktober 2018

Augenpaare

Im Blickpunkt

Beyle, der imgrunde immer gesehen werden möchte, hält irrtümlich einen gelben Rock, dunkelblaue Beinkleider, schwarz lackiertes Schuhwerk, einen extrahohen Velourshut und ein paar grüne Brillen für das geeignete Outfit, um seiner Geliebten heimlich und inkognito nach Volterra zu folgen. Obwohl er einerseits niemanden für weniger sehenswert hält als sich selbst, fühlt Dr. K. ständig fremde Augen auf sich gerichtet, am liebsten wäre er unsichtbar. In Triest, so kommt es ihm vor, bleiben die Leute auf der Straße stehen und blicken ihm nach, als wollten sie sagen, da ist er ja endlich. Haben sie einen großen Verbrecher erwartet oder den Messias oder aber, aufgrund eines rätselhaften Mißverständnisses einfach den in jeder Hinsicht unmöglichen Dr. K.? In Desenzano hat sich die Mehrheit der Einwohner des Ortes zu seinem Empfang auf dem Marktplatz versammelt, er aber liegt drunten am See in Gras, und als einziger Trost bleibt ihm, daß niemand weiß, wo er ist. Von den Einwohnern von Desenzano ist nicht bekannt, wie lange sie an diesem Nachmittag nach ihm Ausschau gehalten haben und wann sie enttäuscht wieder auseinandergegangen sind. Anstelle des absenten Dr. K. rückt auf der einschlägigen Illustration der Leser in den Blickpunkt der Versammelten und kann sich eines Gefühls der Bedrohlichkeit nicht erwehren. Kaum jemand, so führt Dr. K. aus, habe den rechten Blick, zumal nicht in der Liebe, es gäbe fast nur solche, die die Augen geschlossen hielten, und, was dasselbe sei, solche, die sie weit aufrissen vor Gier. Da ist es nicht verwunderlich, wenn die russische Dame ihm von unten in die Augen schaut und festhält, er sei wohl der seltsamste Gast in Riva seit langem. Der Dichter steht zu den ihm Vorausreisenden in einem Verhältnis der eingeschränkten Wiederholung und Nachahmung. Auf dem Feld der Liebe führt das zum für die Dauer eines flüchtigen Augenblicks bemessenen Eheverhältnis mit Luciana Michelotti. Was die Beobachtung durch fremde Augen anbelangt, so findet er im Bahnhof Venedig zwei Augenpaare auf sich gerichtet. Es kommt ihm vor, als seien ihm die beiden jungen Männer, die, wie er sich nicht nur einbildete, zu ihm herüberschauten, seit seiner Ankunft in Venedig schon mehrfach begegnet. In Verona nimmt er im tiefen Schatten der jenseitigen Hälfte der Arena zwei Gestalten wahr, bei denen es sich bei genauerem Hinsehen zweifellos um die beiden jungen Männer aus der Ferrovia handelte. Sie erhoben sich, und es dünkte ihn, als verbeugten sie sich gegeneinander, ehe sie im Dunkel des Ausgangs verschwanden. Am Abend dann, als er in der Pizzeria im Gazzettino von der mörderischen ORANIZZAZONE LUDWIG liest, vermischen sich die Eindrücke, und er verläßt Italien in panischer Eile. Als Salvatore Altamura ihn sieben Jahre später detailliert über die Organisation unterrichtet und auch darüber, daß sie nur aus zwei jungen Männern, Furlan und Abel, bestanden habe, fühlt er sich in einem gewissen Umfang bestätigt, obwohl die Wahrscheinlichkeit, alles sei, wie schon bei Dr. K., nur eine Projektion seiner von Schwindelgefühlen geplagten Einbildungskraft gewesen, nach wie vor überwältigend ist. Ad acta. Die ausgehenden Sommerwochen verbringt der Dichter mit verschiedenen Arbeiten in Verona, die Oktoberwochen in einem Hotel oberhalb von Bruneck, ohne in den Fokus bedrohlicher Augenpaare zu geraten.

Mittwoch, 10. Oktober 2018

Pizza Cadavero

Silberknöpfe

Ich weiß nicht, wie ich mir in den fremden Städten die Lokale aussuche, in die ich einkehre. Einerseits bin ich zu wählerisch und gehe stundenlang durch die Straßen und Gassen, ehe ich mich entscheiden kann; andererseits gerate ich zuletzt meistens wahllos einfach irgendwo hinein und verzehre dort in trostloser Umgebung und unter Unbehagen ein mir in keiner Weise zusagendes Gericht – auf diese, von ihm selbst beschriebene Weise, imgrunde also gegen seinen Willen, gelangt der Dichter in die Pizzeria Verona. Schon das Ambiente ist nicht jedermanns Sache. Der Bodenbelag und die Wände waren in einem gräßlichen maritimen Blau gehalten gehalten, das jede Hoffnung je wieder festes Land sehen zu dürfen, zunichte machte. Man sollte in diesem Zusammenhang allerdings nicht aus den Augen verlieren, daß das stilistisch ähnlich einzuordnende Wadi Halfa Aurach vorzüglich paßt, und mit ihm auch Austerlitz und dem Dichter. Die des weiteren erwähnte nur halb verzehrte Pizza ist kein sicheres Indiz ihrer mangelnden Qualität. Der Umstand, mit dem Wirt namens Carlo Cadavero allein in dem Gastraum zu sein, mag nicht ermuntern und vielmehr klaustrophobische Impulse auslösen, die vernehmbaren Gesprächsfetzen aus dem andauernden Telefonat, das Signor Cadavero mit einem Unbekannten führt, sind an sich aber nicht beunruhigend. Wenig erheiternd, für einen Menschen im Gleichgewicht aber auch nicht verstörend sind allerdings die Nachrichten über die mörderische ORGANIZZAZIONE LUDWIG, die im Gazzetino zu lesen sind. Die Panik, die den Dichter ergreift und flüchten läßt, ist alles in allem offenbar endogener Art.

Als der Dichter sieben Jahre später in Verona durch dieselbe Straße geht, findet er die Pizzeria verschlossen, die Eingangstür mit einer Spanplatte vernagelt. Die Erkundigung beim Photographen gegenüber bleibt erfolglos, der Mann schweigt hartnäckig, und bricht dann, als der Dichter geht, in wüste Verwünschungen aus, die offenbar den einstigen Betreibern der Restauration gelten. Womöglich war die Beängstigung sieben Jahre zuvor doch nicht unbegründet. Zwei Hochzeitsreisende bittet er um ein Photo der Fassade. Was er damit beabsichtigt, bleibt unklar, aufklärerische Absichten hinsichtlich dessen, was sich in der Pizzeria abgespielt hat, können kaum im Spiel sein. Es wäre ein Leichtes gewesen, Salvatore Altamura nicht nur zur Gruppe Ludwig, sondern auch zu den Vorgängen in der Taverne Cadavero zu befragen, scusi, un'altra domanda per favore, die Frage unterbleibt. Mit zumindest einem Fuß folgt der Dichter immer auch dem Weg des mythischen Duos. Wichtiger als Aufklärung ist ihm die Vision, die ihn im Angesicht des aufgelassenen Hauses überkommt. Zwei Männer, schwarze Röcke, silberne Knöpfe, eine Bahre, unter einem blumengemusterten Tuch ein Mensch, es ist aufs Haar genau, bis hin zu den Silberknöpfen die gleiche Anordnung, in der der Jäger Gracchus an Land getragen wurde, als Kafka nicht weit entfernt von Verona in Riva wohnte.

Mittwoch, 3. Oktober 2018

École de vertige

In der Fremde

L’exile est une école de vertige: All’estero unter Schwindelgefühlen, das klingt wie ein Echo auf die Einlassung des aus Rumänien ausgewanderten Philosophen. Wir werden Zeuge einer experimentellen Selbstexilierung, die schon auf der ersten Station, Wien, aus der Bahn zu gleiten droht. Deutliche Spuren der Verwahrlosung waren schon bald nicht zu übersehen, er begann in einer aus England mitgebrachten Plastiktüte allerlei unnütze Dinge mit sich herumzuführen, die ihm immer unentbehrlicher wurden. Der Anblick des inwendig schon gänzlich in Fetzen aufgelösten Schuhwerks entsetzt ihn, es würgt ihm im Hals und die Augen trüben sich. Der Übergang in die Lebensform des Stadt- und Landstreichers kann noch abgewendet werden, Verwirrung aber bleibt, Bedrohlichkeit, eingebildet oder tatsächlich. Sind wirklich zwei Augenpaare auf ihn gerichtet in Venedig wie auch in Verona, oder bildet er es sich ein, sind es harmlose Augenpaare oder sind es die Augen der GRUPPE LUDWIG, die Augen Furlans und Abels, die ihn ins Visier nehmen. In der Pizzeria VERONA bricht er den Selbstversuch wegen übergroßer Schwindelgefühle ab und fährt nach Haus, zurück in ein Land, von dem wir nichts wissen, und von dem wir nichts erfahren, ein Zwischenreich offenbar, kein Estero, keine Fremde, aber auch keine Heimat, Patria. Sieben Jahre später macht er sich wieder auf in die Fremde. 

Die zweite Reise ist weniger eine Wiederholung und Fortsetzung als der Versuch einer Auswertung der ersten, Schwindelgefühle stellen sich gleichwohl ein, spätestens bei der Begegnung mit den Kafkazwillingen und ihren Eltern im Bus nach Riva. Im Ergebnis fährt er nur bis Limone und findet Frieden unter den Augen Lucianas, die hinter ihrer Theke wirtschaftet und immer wieder aus den Augenwinkeln zu ihm herüberblickt, so als wollte sie sich vergewissern, daß ihm bei seinen Aufzeichnungen der Faden nicht abgerissen sei. Wichtiger Teil und Endpunkt der Auswertung ist der Report Salvatore Almaturas. Den unwahrscheinlichen Verdacht, vor sieben Jahren habe die GRUPPE LUDWIG ihre Augen auf den Exilanten gerichtet, kann er naturgemäß nicht bestätigen, aber auch nicht widerlegen. Gleichwohl ist mit dem Bericht Altamuras die Mission erfüllt, das nomadenhafte Weiterziehen kommt zu seinem Ende, die ausgehenden Sommermonate verbringt der Reisende mit verschiedenen Arbeiten in Verona, die Oktoberwochen in einem Hotel oberhalb von Bruneck.

Der Aufenthalt all’estero geht über in den ritorno in patria, nach Bekundung des Reisenden ein Ort weiter in der Fremde als jeder andere denkbare Ort. Patria ist denn auch nicht die aktuelle Ortschaft W., die er kaum wahrnimmt, sondern das W. seiner Kindheit, in das er sich zurückversetzt, vor allem die Zeit in der Obhut des Großvaters, die gemeinsamen Besuche beim Uhrmacher, die regelmäßigen Besuche bei der Mathild, die gemeinsamen Wanderungen durch das Land der Kapellen, die Betreuung während der Diphterie. Das Verlassen der Kindheit ist die eigentliche Exilierung, der Aufenthalt all’estero nurmehr eine Verdeutlichung, niemand hat intensiver darauf bestanden als Cioran: der Segen der Kindheit und der Fluch des Lebens.