Donnerstag, 23. September 2021

Eisenbahnunglücke

Phantasie und Realität


Er riß das Fenster herab. Krachend schlugen ihm die Nebelfetzen entgegen. Man befand sich auf einer halsbrecherischen Fahrt. Noch jagte der Zug vom Gebirge herab in die Ebene, noch konnte ein Bremsversagen zur Katastrophe werden. Zwar fällt das Wort halsbrecherisch, mit einem Gefühl unmittelbarer Gefährdung ist es aber nicht verbunden.

Stachuras Erzähler springt aus dem Zug, der langsam fährt und die ganze Zeit bremst, denn ziemlich steil ging es nach unten. Selbst auf sicherem Bodenangekommen, gibt der Erzähler sich einer Katastrophenfantastik hin. Würde der Zug nicht bremsen, ginge es alsbald rasend dahin, so als sei der Zug ganz ohne Bremsen, als seien sie außer Kraft, dann würde der Zug dahinjagen in die tiefliegende Ebene und erst dort zum Stehen kommen, wenn es ihn nicht zuvor aus den Gleisen geworfen hätte in einer tödlich engen Kehre, oder mit einem entgegenkommenden Zug kollidiert wäre, das wäre ein schreckliches Unheil, eine schreckliche Klage würde sich erheben in den Städten, Dörfern und Vororten. Wer hat gesehen, wie es passierte? Hat er den Knall gehört, Metall gegen Metall? Das schreckliche Kreischen, Metall gegen Metall? Hat er gesehen, wie sich alles zur Seite neigte, wie es splitterte, wie die Scheiben zerbrachen, als wären sie nichts, hast er den Knall gehört, den Absturz, den Donner. Hat er diesen Höllenanblick wahrgenommen? Und hat er dann gesehen, wie die aufgerissenen Waggons immer langsamer und langsamer wurden? Und hat er gehört, wie das vernarbte Blech noch einmal aufbegehrte, wie das klang, wie das Meeresrauschen in einer Muschel? Hast er das alles gehört und gesehen?

W.H. Davies‘ Supertramp weiß von einem realen Eisenbahnunglück wegen Bremsversagens zu berichten. Das Zugpersonal, 10 Mann, und 40 fahrscheinlos mitreisende Hobos kommen ums Leben. Es war der Zug, den er eigentlich als einundvierzigster Fahrscheinloser hatte nutzen wollen. Er hatte als einziger Fahrgast den nächsten Zug genommen.

Mittwoch, 22. September 2021

Bürgerliche Welt

Hobos

Die langen Aufenthalte auf Parkbänken, das ziellose Durchwandern der Stadt, der Schnellimbiß anstelle der Gaststätte, die Plastiktasche voller unnützer Dinge immer dabei, das sich in Fetzen auflösende Schuhwerk, das Würgen im Hals, die getrübten Augen: offenbar geht dem Erzähler das bürgerliche Format verloren. Aus heiteren Himmel kommt das nicht, hatte der Erzähler doch bereits als junger Mensch in Manchester Mühe, angesichts eines ihm unbegreiflichen Gefühls der Unverbundenheit am Leben festzuhalten. Im beiden Fällen, sowohl in Wien als auch in England, überwindet er aber die Krise, noch bevor es Aufsehen im Bekanntenkreis erregt.

Stachuras Erzähler muß den Absturz aus der bürgerlichen Existenz, gestützt nicht zuletzt auf ein regelmäßiges Einkommen, nicht befürchten, da er diese Ebene gar nicht erst erreicht. Er ist daran gewohnt, fremdes Wohneigentum, Gartenlauben, Eisenbahnwaggons, mit oder ohne Erlaubnis zu nutzen. Er finanziert sich durch Saisonarbeit, billigt sich aber, wenn es anders nicht geht, auch den sogenannten Mundraub zu, ausgeschlossen ist das Betteln. Er läßt sich auch nicht anbetteln: Pożycz dwa złote, rück mal zwei Złoty raus. Nie, nein. No, pożycz, etc., und schließlich: Spierdalaj, ins zeitgenössische Deutsch übertragen: Fuck off.

Brum, W. H. Davies‘ Lehrmeister bei der Entwicklung zum Supertramp, vertritt eine nahezu diametral entgegengesetzte Position. Arbeit ist die nach Möglichkeit zu vermeidende Methode, den Lebensunterhalt zu sicher, Stehlen ist möglich, aber auch nicht wirklich zuträglich, der Mann von Welt bettelt. Gemeint ist naturgemäß eine künstlerische Form des Bettelns, die den Geber dankbar stimmt, wenn seine Gabe großzügig angenommen wird. Eine andere, von einem anderen Hobo gepflegte Kunstform ist der das Betteln begleitende und verschleiernde Gesang, einmal als männlicher Sologesang, den abzustellen nicht wenigen eine gewisse Geldsumme wert ist, oder als Duett in Begleitung eines ausgeliehenen Kindes, das die Herzen anrührt und die Geldbörse öffnet.

Mittwoch, 15. September 2021

Il scittore in collina

Erderhebungen


Im November 1987 verbrachte er, weil er den Winter nicht mehr erwarten konnte, die Oktoberwochen in einem weit oberhalb von Bruneck, am Ende der Vegetation gelegenen Hotel. Der Aufbruch nach Bruneck geht anscheinend nicht auf eine ursprüngliche Planung zurück, daß er den Winter und den Schnee nicht hatte abwarten konnte, ist eine etwas mysteriöse Begründung. Noch weniger geplant scheint der Abstieg aus der Höhe, das auslösende Signal ist der Großvenediger, als er auf eine besonders geheimnisvolle Art aus einer grauen Schneewolke auftaucht. Die Fahrt ins Tal wird abgeschlossen durch den Abstieg von Oberjoch nach W. Wenn man von den Geschehnissen absieht – der Aufstieg und das Verweilen in der Höhe ist ohnehin kaum mit erzählten Geschehnissen verknüpft – hat man es allein mit einer Bewegung zunächst nach oben und dann nach unten zu tun. Die spätere Zugfahrt durch die Rheinebene und das Übersetzen nach England bleiben in der Ebene.

Auch Stachuras Erzähler macht sich bereit zum Abstieg, dabei bleiben in weiten Teilen Polens die vor dem Abstieg zu erklimmenden Höhen weit hinter der des Großvenedigers zurück, es handelt sich um Hügel. Langsam, so der Erzähler, stieg ich von dem Hügel hinab. Ich hatte dort ausgeruht. Ich hatte mich ausgestreckt und mit meinen blauen Augen gen Himmel geschaut. Ich hatte mich ganz und gar vergessen. Ich war nicht existent. Ich lag da und ruhte aus wie der Unbekannte Soldat im Grab. Ich erweise ihm Ehre und Tribut mit diesem aus meiner Sicht stolzen Vergleich. Jetzt steige ich von diesem Hügel hinab, so wie der Himmel sich zur Erde neigt: Himmel und Erde, trotz des geringen Höhenmaßes nimmt der Abstieg kosmisches Ausmaß an. Der Anlaß zum Aufbruch ist noch weit verborgener als im Fall des Dichters, er kann nicht benannt werden, auch nicht von dem Wanderer selbst. Sicher werde ich nie erfahren, warum ich heute mein Frühstück nicht beendet habe, meinen Kaffee nicht ausgetrunken habe, aufgestanden bin und dem Chef gesagt habe, er möge abrechnen und mich auszahlen, so viel, wie mir zusteht, weil ich gehen muß. Hat er den Hügel als Ziel gesucht, oder ist er zufällig dahin gelangt? Bevor ich den Hügel hinaufgegangen bin, auf dem ich ausgeruht habe, ohne Gedächtnis dagelegen bin, bevor ich auf diesen Hügel gegangen bin, um kraftlos niederzufallen, mit meinen blauen Augen zum Himmel geschaut habe, bevor ich da hingegangen bin, war ich schon lange gegangen. Noch länger. An die fünfunddreißig Kilometer bin ich gegangen bin, vielleicht vierzig oder fünfundvierzig, ich kann die Kilometerzahl nicht nennen, denn ich weiß nicht, wie viele Kilometer ich gegangen bin. Dabei war er nicht zielstrebig zu seinem Ziel, dem Hügel, unterwegs, es war nur so, als sei er den ganzen Tag geradeaus gegangen, tatsächlich aber ist er im Kreis gegangen. War der Hügel tatsächlich sein Ziel, wußte er überhaupt von dem Hügel, wußte er von dem Grab des Unbekannten Soldaten auf dem Hügel?

Und so näherte ich mich langsam dem Hügel, wischte mit dem Ärmel den nassen Hals und die nasse Stirn ab. Auf dem Hügel war ein Grab, ein Kreuz und ein Hinweisschild, daß hier ein Unbekannter Soldat ruht. Ehre und Tribut habe ich ihm erwiesen, und neben ihm habe ich mich in das trockene warme Gras fallenlassen. Lange bin ich da gelegen, regungslos, ohne einen Gedanken, die Augen zum Himmel gerichtet. Ich ruhte so, wie er ruhte, und so, wie ich es schon einmal gewollt hatte, viele Male und so, wie ich heute den ganzen Tag unterwegs gedacht hatte, vierzig Kilometer weit vielleicht. Aber jetzt schon nicht mehr. Jetzt bin ich langsam vom Hügel abgestiegen, so wie sich der Himmel zur Erde senkt. Oder wie man aus dem Grabe aufersteht. - Das Grab auf dem Hügel, der Abstieg vom Hügel, gegenläufig die Auferstehung aus dem Grab, der Erzähler betont immer wieder, daß er nichts als die Wahrheit sagt, die ganze Wahrheit aber bei weitem nicht kennt.

Montag, 13. September 2021

Opera

Synchronisation

Nicht alle in den Moments musicaux ausgebreiteten Formen der Musik begeistern den Dichter ohne Vorbehalt. Bei der Oper sind es vor allem Handlung und Inszenierung, die ihn zögern lassen. Das gilt besonders, wenn die Libretti aus dem neunzehnten Jahrhundert ein neues Gewand bekommen. Eine durch und durch bewährte Maßnahme besteht darin, wenn möglich ein Zeichen zu setzen in Form eines Hinweises auf den Holokaust, und so werden im Rahmen der überarbeiteten Neufassung der Oper Nabucco aus anonymen, längst vergessenen Sklaven der Vorzeit richtige Juden in Zebraanzügen gemacht. Der Dichter allerdings will den Chor der verkleideten KZ-Häftlinge nicht sehen und läßt seine Freikarte verfallen. Daneben treten immer wieder Schwierigkeiten bei der Synchronisierung von Text und Musik aus. Hernani stößt sich den Dolch in die Brust, fällt tödlich getroffen zu Boden, singt aber desungeachtet in den höchsten und reinsten Tönen weiter. Das leitet über zu Tolstoi, der sich über eine schier endlose Arie mokiert, in der der Sänger immer wieder betont, seine einzige Chance, dem Tod zu entkommen sei die sofortige Flucht. Dem Radikalrealisten Tolstoi waren derartige Girlanden nicht zumutbar.