Erderhebungen
Im November 1987 verbrachte er, weil er den Winter nicht mehr erwarten konnte, die Oktoberwochen in einem weit oberhalb von Bruneck, am Ende der Vegetation gelegenen Hotel. Der Aufbruch nach Bruneck geht anscheinend nicht auf eine ursprüngliche Planung zurück, daß er den Winter und den Schnee nicht hatte abwarten konnte, ist eine etwas mysteriöse Begründung. Noch weniger geplant scheint der Abstieg aus der Höhe, das auslösende Signal ist der Großvenediger, als er auf eine besonders geheimnisvolle Art aus einer grauen Schneewolke auftaucht. Die Fahrt ins Tal wird abgeschlossen durch den Abstieg von Oberjoch nach W. Wenn man von den Geschehnissen absieht – der Aufstieg und das Verweilen in der Höhe ist ohnehin kaum mit erzählten Geschehnissen verknüpft – hat man es allein mit einer Bewegung zunächst nach oben und dann nach unten zu tun. Die spätere Zugfahrt durch die Rheinebene und das Übersetzen nach England bleiben in der Ebene.
Auch Stachuras Erzähler macht sich bereit zum Abstieg, dabei bleiben in weiten Teilen Polens die vor dem Abstieg zu erklimmenden Höhen weit hinter der des Großvenedigers zurück, es handelt sich um Hügel. Langsam, so der Erzähler, stieg ich von dem Hügel hinab. Ich hatte dort ausgeruht. Ich hatte mich ausgestreckt und mit meinen blauen Augen gen Himmel geschaut. Ich hatte mich ganz und gar vergessen. Ich war nicht existent. Ich lag da und ruhte aus wie der Unbekannte Soldat im Grab. Ich erweise ihm Ehre und Tribut mit diesem aus meiner Sicht stolzen Vergleich. Jetzt steige ich von diesem Hügel hinab, so wie der Himmel sich zur Erde neigt: Himmel und Erde, trotz des geringen Höhenmaßes nimmt der Abstieg kosmisches Ausmaß an. Der Anlaß zum Aufbruch ist noch weit verborgener als im Fall des Dichters, er kann nicht benannt werden, auch nicht von dem Wanderer selbst. Sicher werde ich nie erfahren, warum ich heute mein Frühstück nicht beendet habe, meinen Kaffee nicht ausgetrunken habe, aufgestanden bin und dem Chef gesagt habe, er möge abrechnen und mich auszahlen, so viel, wie mir zusteht, weil ich gehen muß. Hat er den Hügel als Ziel gesucht, oder ist er zufällig dahin gelangt? Bevor ich den Hügel hinaufgegangen bin, auf dem ich ausgeruht habe, ohne Gedächtnis dagelegen bin, bevor ich auf diesen Hügel gegangen bin, um kraftlos niederzufallen, mit meinen blauen Augen zum Himmel geschaut habe, bevor ich da hingegangen bin, war ich schon lange gegangen. Noch länger. An die fünfunddreißig Kilometer bin ich gegangen bin, vielleicht vierzig oder fünfundvierzig, ich kann die Kilometerzahl nicht nennen, denn ich weiß nicht, wie viele Kilometer ich gegangen bin. Dabei war er nicht zielstrebig zu seinem Ziel, dem Hügel, unterwegs, es war nur so, als sei er den ganzen Tag geradeaus gegangen, tatsächlich aber ist er im Kreis gegangen. War der Hügel tatsächlich sein Ziel, wußte er überhaupt von dem Hügel, wußte er von dem Grab des Unbekannten Soldaten auf dem Hügel?
Und so näherte ich mich langsam dem Hügel, wischte mit dem Ärmel den nassen Hals und die nasse Stirn ab. Auf dem Hügel war ein Grab, ein Kreuz und ein Hinweisschild, daß hier ein Unbekannter Soldat ruht. Ehre und Tribut habe ich ihm erwiesen, und neben ihm habe ich mich in das trockene warme Gras fallenlassen. Lange bin ich da gelegen, regungslos, ohne einen Gedanken, die Augen zum Himmel gerichtet. Ich ruhte so, wie er ruhte, und so, wie ich es schon einmal gewollt hatte, viele Male und so, wie ich heute den ganzen Tag unterwegs gedacht hatte, vierzig Kilometer weit vielleicht. Aber jetzt schon nicht mehr. Jetzt bin ich langsam vom Hügel abgestiegen, so wie sich der Himmel zur Erde senkt. Oder wie man aus dem Grabe aufersteht. - Das Grab auf dem Hügel, der Abstieg vom Hügel, gegenläufig die Auferstehung aus dem Grab, der Erzähler betont immer wieder, daß er nichts als die Wahrheit sagt, die ganze Wahrheit aber bei weitem nicht kennt.