Kein Buch
In Thomas Bernhards
Erzählungen finden sich wiederholt Menschen, die immer nur ein und dasselbe Buch
lesen und kein anderes. Angesichts des inzwischen überbordenden Angebots
immer neuer Bücher mag man sich durchaus auf ein einzelnes Buch zurückziehen wie
in eine erholsame Unterkunft. Nur ein Buch ist griffbereit, die Lesefreude mag aber besonders tiefgründig sein. Das alles betrifft nur die Neuzeit, in der das Buch überhaupt
erst das Licht der Welt erblickte. Der Buchdruck wurde im 15. Jahrhundert erfunden, bis dahin war
die große Mehrheit kaum lesefähig oder auch nur am Lesen interessiert. Zur ungefähr
gleichen Zeit hatte Luther seine Bibelübersetzung abgeschlossen, für lange Zeit ein dominanter Lesestoff. Indigene Völker tauchten für die Europäer erst im
fünfzehnten Jahrhundert auf, Bücher kannten sie nicht. Joseph M. Marshal, ein englisch
schreibender Lakota unserer Tage, läßt
in einem im neunzehnten Jahrhundert spielenden Roman den Senat seines Volkes
sorgfältig die Frage diskutieren, ob es sich bei den eingewanderten Europäern eventuell
um Menschen handeln könne. Eher nicht, ist das nicht besonders überraschende Urteil,
Lesen und Schreiben schafft nicht in jedem Fall bessere Menschen. Was Bernhards
Leute anbelangt, muß man nicht unbedingt davon ausgehen, daß das eine Buch für
sie immer das erste und endgültig letzte ist, ein Wechsel dann und wann in größeren Abständen ist nicht ausgeschlossen. Der Dichter, um uns ihm zuzuwenden,
von Berufs wegen ein Buchleser, meint bei seinen Italienreisen offenbar ohne
Buch auszukommen. Er ist professionell
ans Buch gebunden, ein Anlaß, auf Erholungsreisen nicht immer ein Buch bei sich
zu tragen. In bestimmten Situationen aber mag das ein Fehler sein. Als er in
Wien und Venedig keinen Menschen trifft, mit dem er sprechen konnte, hätte ein
Buch vielleicht aushelfen können. Auch bei seiner zweiten Italienreise liest er
kein Buch, beginnt aber, darüber hinausgehend, ein Buch zu schreiben mit dem Titel All‘ estero. Das Buch stellt die erste Reise da und zugleich auch schon die zweite, noch nicht abgeschlossene, aber laufend verfolgte
und kommentierte. Überarbeitet
und abgeschlossen wurde das Buch dann vermutlich während des Aufenthalts in einem
Hotel oberhalb von Bruneck am Ende der Vegetation. Danach entwirft der Reisende während
des Aufenthalts in der Ortschaft W. ein weiteres Buch, diesmal mit dem Titel Il ritorni in patria, uns ebenfalls nicht unbekannt.