Sonntag, 25. November 2012

Plagiat

Blinde Passagiere

Verschiedene Personen des öffentlichen Lebens in Deutschland haben in der letzten Zeit den Hochschulgrad zurückgeben müssen, andere kämpfen noch um die angefochtene akademische Auszeichnung. Ihnen allen wird unkorrektes Zitieren und übermäßige Nutzung vorgefundener Texte zum Vorwurf gemacht. Der Sebaldleser ist angesichts dieser Vorkommnisse verunsichert, weiß er doch, daß sein Autor ständig andere Autoren nutzt und zitiert, ohne das irgend kenntlich zu machen. Einiges entdeckt der Leser selbst, anderes erfährt er von Lesegefährten und wiederum anderes räumt der Autor ohne jedes Schuldgefühl ein: Und dann steht da plötzlich in einem Ihrer Bücher ein kostbares Wort: Wenn einer angelehnt steht an den Strom der Zeit. – Ja, das ist ein geborgtes Wort, das stammt aus Woyzeck.

Literatur ist nicht Wissenschaft und umgekehrt gilt das auch, wird man gleich einwenden, die Freiheiten der Kunst können nicht die der Wissenschaft sein. Dabei läßt sich durchaus eine wissenschaftliche Arbeit denken, die, so gut wie nur aus Bekanntem montiert, erregend Neues erbringt. Ein Physiker etwa könnte neun bekannte Formeln untereinanderschreiben, einen Strich darunter ziehen und von einem bloßen ergo eingeleitet die zehnte, gänzlich neue zur Kenntnis bringen: quod erat demonstrandum. Wenn die zehnte Gleichung dann noch die ungefähre Qualität von E = mc² haben sollte, wollte niemand wegen mangelhafter Zitiertechnik die Graduierung verweigern. Luhmann hat immer betont, Bücher würden nicht von Menschen geschrieben, sondern schrieben sich selbst aus anderen Büchern. Im Nachweisapparat hat er meist auf das Personenregister verzichtet. Nach seinem Tod hat der legendäre Zettelkasten allerdings die Produktion eingestellt und damit eine letztendliche Abhängigkeit vom Autor erwiesen.

Die Literaturwissenschaft legt besonderen Wert auf den Nachweis, daß sie sich vom oft leichtfertigen Treiben ihres Forschungsgegenstandes nicht hat anstecken lassen. So wird etwa die im Zitatkontext notwendig werdende Änderung einer Flexionsform penibel mit Klammer und Schrägdruck als nicht auf den erforschten Autor, sondern auf den Forscher zurückgehend gekennzeichnet. Nicht der geringste Zweifel soll bestehen an den Eigentumsverhältnissen. Niemand hat Spaß an diesem feinsinnigen Kataster, aber um Spaß geht es auch nicht, die Idee der fröhlichen Wissenschaft hat sich nicht durchgesetzt. Der renitente Leser allerdings ist oft nicht bereit, sich Spaß und Freude an der Lektüre nehmen zu lassen.

Zur Alltagsausstattung eines Dichters gehören wie bei den meisten Menschen Meinungen, Ansichten und Standpunkte. Dem Vollendeten allerdings liegt es nach Buddhas Einschätzung fern, Ansichten zu haben. Wir würden das nicht vom Dichter selbst, wohl aber von seinem Werk fordern. Die Qualität literarischer Texte, ihre Vollendung, bemißt sich daran, wie weit ihre Kraft reicht, die Alltagsausstattung des Autors zu überwältigen und unkenntlich zu machen. Die Literaturwissenschaft ist demgegenüber in ihrer überkommenen einfachen Ausprägung darauf bedacht, den Weg in die Literatur rückgängig zu machen, und den Text auf die Alltagsausstattung des Dichters zurückzuführen, den Text als Illustration der Meinungen, Ansichten und Standpunkte des Autors zu verstehen.

Es gibt naturgemäß auch anspruchsvollere Forschungsansätze. Ein junger Forscher hat in die Sebaldbetrachtung das Rhizom à la Deleuze & Guattari eingeführt, angesichts der verzweigten unterirdischen Verflechtung der Motive beim Dichter ohne Zweifel ein erfolgversprechendes Konzept. Immer aber nimmt die Wissenschaft die Literatur aus sich heraus und versetzt sie in ein so oder so geartetes, in jedem Fall aber vom Text weit entferntes Erklärungsraster. Bei dem Rhizombeispiel hat der einfache Leser und Literaturfreund dann die Last, das Bild der ausgegrabenen und ans Licht gezerrten unförmigen und unschönen Pflanzenknollen bei der Lektüre ständig störend vor Augen zu haben. Aber Literaturwissenschaft wird um ihrer selbst willen betrieben und nicht für die Leser der Bücher, die müssen sich um ihre Belange selbst kümmern.

Der Literaturwissenschaftler sucht die Entfernung vom und letztlich die Ruhe vor dem literarischen Text. Er sperrt ihn in ein Gittergerüst, sei es das der Alltagsausstattung des Autors, sei es das Sproßachsensystem der beiden französischen Philosophen oder in ein anderes. Am Ende ist das Areal des Dichters sauber von dem des Forschers separiert, die Arbeit ist getan, die Akte kann geschlossen werden. Der Leser geht den umgekehrten Weg, er sucht nicht den Abstand vom, sondern die Nähe zum, die dauerhafte Symbiose mit dem Text. In einer Doppelbewegung möchte er aufgehen im Text und sich den Text zueigen machen, den Text mit und bei sich tragen. Der wahre Leser ist ein Leser auch dann und vielleicht in besonderem Maße dann, wenn er gerade nicht liest. Er geht mit dem Hund durch das heimisches Gelände und reist dabei mit Selysses durch Oberitalien. Heimgekehrt vom gemeinsamen Ausflug, der gemeinsamen Reise, mag er auf die Idee kommen, sich der angenehmen Vorgänge in seinem Kopf, des Amalgams aus Worten des Dichters, eigenen Worten und Worten Dritter in der Weise eines kleinen Sebaldstücks zu versichern.
Im Umgang mit Lektüre, die ihm wenig oder gar nicht behagt, wird der Leser seinerseits zum kühlen Betrachter, und nicht auszuschließen ist der Fall des Literaturwissenschaftlers, der zugleich Leser ist, es ist sogar der übliche Fall. Sebald selbst ist ein helles Beispiel. Schreibend hat er sich immer stärker zur Seite des Lesers hin bewegt. Schon seine literaturwissenschaftlichen Arbeiten in den Bänden Unheimliche Heimat und Beschreibung des Unglücks haben essayistische und belletristische Züge. Mit Keller, Walser und anderen Alemannen wollte er, anstatt sie zu behandeln, lieber gemeinsam Logis in einem Landhaus nehmen, und schließlich hat er sich, die Wissenschaft hinter sich lassend, zusammen mit Kafka, Büchner, Browne, Wittgenstein, auch mit Gefährten aus der bildenden Kunst - niemand weiß genau zu sagen, wer sich sonst noch alles aufhält in seinem Prosawerk - auf den Weg der Dichtung begeben.

Kafka ist nicht nur ständiger Begleiter bei den Fahrten durch Oberitalien, er ist auch dabei, als Jacquot Austerlitz vom Prager Bahnhof aus auf die Reise geschickt wird, als die weißen Taschentücher flattern gleich einer auffliegenden Taubenschar, und als es schien, daß der Zug, nachdem er unendlich langsam angerückt war, nicht eigentlich weggefahren, sondern bloß, in einer Art Täuschungsmanöver, ein Stück aus der überglasten Halle herausgerollt und dort, noch nicht einmal in halber Ferne, versunken sei. Oder im nächtlichen London, als überall in den zahllosen Häusern die Bewohner jeden Alters anscheinend aufgrund einer vor langer Zeit getroffenen Vereinbarung, in ihren Betten liegen, zugedeckt und, wie sie glauben müssen unter sicherem Dach, während sie doch in Wahrheit nur niedergestreckt sind, das Gesicht vor Furcht gegen die Erde gekehrt, wie einst bei der Rast auf dem Weg durch die Wüste. Büchner steht in Wien, es wurde schon erwähnt, wie angelehnt an den Strom der Zeit, das Feuer des Onkels Evelyn, das in Andomeda Logde, Wales, von fast gar nichts brennt, ist das gleiche, das bei Keller die Mutter des grünen Heinrichs in der Schweiz unterhält, und als Selysses bei seiner Flucht aus Verona auf dem Brenner angelangt ist, geht ihm, gerade wie vormals Thomas Browne, durch den Sinn: The night of time far surpasseth the day, and who knows when was the AEquinox? Wie soll den Leser da nicht die Lust ankommen, mit von der Partie zu sein, von niemandem bemerkt, als blinder Passagier, der er ohnehin immer ist.

Sonntag, 18. November 2012

Warenparadiese

Poèmes de l’étalage

Benjamin hinterläßt den Eindruck eines von Haus aus ungebundenen, sich ohne Not marxistisch disziplinierenden Denkers, der uns nun aus den längst erloschenen Vulkanen des Marxismus mit an sich vermeidbaren Brand- und Alterspuren entgegentritt. Beim Passagenwerk habe er, so heißt es, Horkheimers und Adornos Hinweis aufgegriffen, ohne Rückgriff auf Marx sei das nicht ernsthaft zu machen. Die Passagen sind dann gar nicht gemacht worden, und die gesammelten Bruchstücke lassen die schöne Gestalt des fertigen Werkes nicht einmal erahnen. Fertiggestellt, in deutscher sowohl als in französischer Sprache, ist das kurze Exposé Paris, Capitale du XIXème siècle und naturgemäß gefällt daran alles besser als die seither durch die Verwendung an Zweimillionen anderen Stellen zugrundegerichteten Marxpartikel. Adorno hat im übrigen dem gleichen Empfinden Ausdruck verliehen, wenn er in einem späteren Brief an Benjamin schreibt, er, Benjamin, habe sich Gewalt angetan, um dem Marxismus Tribute zu zollen, die die weder diesem noch ihm selbst recht anschlagen.

Im Flaneur begibt sich die Intelligenz auf den Markt, heißt es im Passagenwerk, und etwas ausführlicher in der Arbeit über Baudelaire: Als Flaneur begibt sich der Literat auf den Markt; wie er meint, um ihn anzusehen, und in Wahrheit doch schon, um einen Käufer zu finden. Oder, wie Walser es in seiner unverkennbaren Weise ausdrückt: Der scheinbar so bummelige und behagliche Spaziergang ist voll praktischer geschäftlicher Verrichtungen. Baudelaire hatte seinerseits die städtische Menschenmenge als den Lebensraum des Flaneurs identifiziert: Le flâneur entre dans la foule comme dans un immense réservoir d'électricité -, und wir hatten gesehen, daß Selysses als städtischer Flaneur an dieser Anforderung scheitert, da die Passanten sich ihm auf die eine oder andere Weise entziehen. Noch weniger trifft er den Markt an, das Poème de l’étalage, wie Benjamin es exemplarisch in den Pariser Passagen findet und darstellt, rezitiert er nicht.
Der Aufenthalt in Terezín ist der Höhepunkt des Sebaldschen Flanierens und als solcher, wie man sich denken kann, ein Tiefpunkt. Was die Menschen anbelangt, so trifft Austerlitz eine vornübergebeugte Gestalt, die sich an einem Stock unendlich langsam voranbewegt und dann plötzlich verschwunden ist, und einen Geistesgestörten, der wild fuchtelt, ehe er, mitten im Davonspringen, vom Erdboden verschluckt wird. Sein Poème de l’étalage findet er im Antikos Bazar. Was in den Auslagen zur Schau gestellt war, machte gewiß nicht mehr als einen geringen Teil des im Inneren des Bazars angehäuften Trödels aus. Aber selbst diese vier, offenbar vollkommen willkürlich zusammengesetzten Stilleben hatten für den Dichter – ihn und nicht Austerlitz sehen wir seltsamerweise im Spiegelbild der Fensterscheibe des Bazars - eine derartige Anziehungskraft, daß er sich von ihnen lange nicht fortreißen konnte. Fruchtlos zu fragen, ob das eine oder andere der Stücke vor Zeiten die Auslagen eines feinen Geschäftes in der Metropole gesehen haben mag, die Aufmerksamkeit des Dichters erregen nur die verlorenen, und an unerwarteten Orten wieder aufgefundenen Dinge.

In der Buchkritik ist Anstoß daran genommen worden, daß Selysses die Zeit in Terezín vor dem wichtigen Besuch des Ghettomuseums buchstäblich vertrödelt. Besser hätte er wohl bei dieser Gelegenheit die demokratischen Errungenschaften des modernen tschechischen Landes bedenken sollen, wie es ihm ja auch im Hinblick auf Belgien und die Belgier ausdrücklich angeraten worden ist. Aber selbst wenn sie auf den Holocaust zulaufen, kommen Sebalds Erzählstränge von weiter her. Terezín macht in jeder Hinsicht den Eindruck einer für die in ihr begangenen schweren Sünden mit alttestamentarischer Ungerechtigkeit gestraften Stadt. Der Handel ebenso wie das Wandeln sind zum Erliegen gekommen. Am Ende des Besuches in Terezín werden die letzten Bewohner des Ortes, darunter auch Selysses selbst, in einem Leichenwagen nach Prag gekarrt. Die verrenkten Leiber lehnten und hingen in den Sitzen, dem einen war der Kopf nach vorn gesunken, dem anderen seitwärts oder in den Nacken gekippt.
Der Antikos Bazar ist geschlossen, ob er jemals geöffnet war oder sein wird, bleibt eine unbeantwortete Frage. Zeuge einer kaufmännischen Transaktion werden wir jedenfalls nicht. Generell ist in Sebalds Büchern das Marktgeschehen unauffällig. Selysses sehen wir ausschließlich Dinge kaufen, die für die Aufrechterhaltung der körperlichen und geistigen Tüchtigkeit unerläßlich sind, Lebensmittel also und Bücher. In Wien hält er schon bald seine Mahlzeiten nur noch an einem Stehimbiß oder verzehrt einfach etwas aus dem Papier. Restaurantbesuche wie in Verona oder Lowestoft verlaufen unerfreulich oder komisch-grotesk. Ob und gegebenenfalls wo er während des längeren Aufenthalts in seinem Heimatort W. etwas zu sich nimmt, bleibt im Verborgenen. Immerhin hatte er beim Abstieg auf dem Sebaldweg beim Hirschwirt in Unterjoch, um sich aufzuwärmen, eine Brotsuppe gegessen und einen halben Liter Tiroler getrunken.

In Venedig liest er in den Reisetagebüchern Grillparzers, die er noch in Wien gekauft hatte, eher beim Bouquinisten als in einem regulären Buchgeschäft, möchte man glauben. Von den Memoiren des Duc de Sully, die seither zu seinen liebsten Lektüren zählen, heißt es ausdrücklich, daß er sie für ein paar Schillinge bei einer Auktion erstanden hatte. Noch wohler ist ihm, wenn das Marktgeschehen ganz entfällt, wie beim von einem Großonkel mütterlicherseits ererbten Beredten Italiener, einem Hilfsbuch der italienischen Sprache, oder bei der ihm ebenfalls zugefallenen Bibliothek der Tante Mathild, die neben Literarischem aus dem letzten Jahrhundert, neben Reiseberichten aus den hohen Norden, neben Lehrbüchern der Geometrie und der Baustatik und einem türkischen Lexikon samt kleinem Briefsteller zahlreiche religiöse Werke spekulativen Inhalts umfaßte sowie Gebetsbücher aus dem 17. und frühen 18. Jahrhundert mit zum Teil drastischen Abschilderungen der uns alle erwartenden Pein.

Was die ebenfalls zu den unumgänglichen Notwendigkeiten zu zählende textile Ausstattung anbelangt, so wird das Wort an Michael Parkinson, einen wahren Stachanow der Konsumverweigerung, abgetreten. Er besitzt nicht mehr zwei Jacken, und wenn die Ärmel abgestoßen oder die Ärmel durchgewetzt sind, greift er selber zu Nadel und Faden und näht einen Lederbesatz auf. Sogar die Kragen an seinen Hemden soll er gewendet haben.

Schwer zu sagen, ob Parkinson und Leute seines Schlages den Niedergang der Textilmetropole Manchester verursacht haben, oder ob sie nach dem Erlöschen Manchesters kein geeignetes Angebot für Neuanschaffungen mehr vorfinden. Die erste Bedingung des Aufkommens der Pariser Passagen und der Auslagenkultur war laut Benjamin die Hochkultur des Textilhandels, für den die Schlote der Spinnereien und Webereien rauchen mußten. Diese Schlote sind heute nahezu ausnahmslos niedergelegt, damals aber rauchten sie zu Tausenden, einer neben dem andern, bei Tag sowohl als in der Nacht. In den aufgelassenen Lagerhäusern, die die Vorräte für Etalagen stapelten, drehen sich noch die Ventilatoren. Vor der Silhouette des erstorbenen Textiljerusalems spinnt der Dichter von Hand seine Fäden, verwebt sie und vernäht die bunten Flicken der Motive.

Die zweite Bedingung des Entstehens der Passagen, so Benjamin, bilden die Anfänge des Eisenbaus. Er enthält den entscheidenden Anstoß, als sich herausstellt, daß die Lokomotive nur auf eisernen Schienen verwendbar ist. Die neuen Elemente des Eisenbaus, Trägerformen, beschäftigen wiederum den Jugendstil. Im Ornament bemüht er sich, diese Formen der Kunst zurückzugewinnen.

Sous le pont Mirabeau coule la Seine et nos amours: die Brücke, die Appoliniare lyrisch inspirierte, sieht Austerlitz als unförmige Betonmasse immer wieder in seinen Angstträumen. Tatsächlich sind wohl nur die Brückenfüße betoniert und die eigentliche Brückenkonstruktion ist eine um Rückgewinnung durch die Kunst bemühte Eisenkonstruktion, für manchen Betrachter nicht ohne Charme. Dabei spricht der Dichter dem Jugendstil weder Redlichkeit noch Erfolg ab, der letztere aber konnte nicht von Dauer sein, wie etwa am Prager Bahnhof zu sehen ist. Das einst weit über Prag hinaus berühmte Jugendstilbauwerk war 1919 zum Andenken an den freiheitsliebenden amerikanischen Präsidenten Wilson eingeweiht worden. Wie ausnahmslos alles Schöne wurde er dann aber in der Folge zielstrebig ruiniert und in den sechziger Jahren umgeben mit häßlichen Glasfassaden und Vorwerken aus Beton. Das kunstvolle Gitterwerk aus Glas und Eisen der Nordfassade der Pariser Gare d’Austerlitz wird gewürdigt, es berührt aber unangenehm, daß zwei winzige, wahrscheinlich mit Reparaturen beschäftigte Figuren sich ich der Konstruktion an Seilen bewegen gleich schwarze Spinnen in ihrem Netz.

Der Umstand, daß sich die meisten großen Bahnhöfe real längst in Warenparadiese mit begleitendem Gleisverkehr verwandelt haben, wird nicht honoriert. Das Geschehen um die Getränkeausgabe im Stehbuffet der Ferrovia Venedig hat den Charakter eines grotesken Mysterienspiels und in Prag ist es keineswegs das Paradies, sondern die Hölle in der neuzeitlichen Form der Spielhölle: Auf einer etwas erhöhten, gut zehn mal zwanzig Meter messenden Plattform standen in mehreren Batterien gewiß an die hundert in debilem Leerlauf vor sich hindudelnde Spielautomaten.

Im Bahnhof von Antwerpen sind in hierarchischer Anordnung die Gottheiten des 19. Jahrhunderts vorgeführt, zuoberst Handel und Kapital. Das heraldische Motiv des Bienenkorbs versinnbildlicht nicht etwa den Fleiß als eine gemeinschaftliche Tugend, sondern das Prinzip der Kapitalakkumulation. Aus dem Bienenkorb wird aber keine marxgestützte oder anderweitige Verlaufsgeschichte des Kapitals abgeleitet. Selysses läßt den Kapitalismus, wenn man so sagen darf, links liegen, so als habe er sein zerstörerisches Werk endgültig verrichtet und sei mit ihm verschwunden. Selysses lebt in einer postmodernen, postkapitalistischen, postapokalyptischen Welt. Die große Stadt Manchester ist so menschen- und warenleer wie das kleine Terezín. Brüssel, die europäische Hauptstadt, Europa schlechthin, wird am alles überragenden Bau des Justizpalastes erfaßt, und der erweist sich als menschenleer. Viele Stunden ist Selysses durch dieses steinerne Gebirge geirrt, durch Säulenwälder, an kolossalen Statuen vorbei, treppauf und treppab, ohne daß ihn je ein Mensch nach seinem Begehren gefragt hätte. Eine Umgestaltung des, wie es den Anschein hat, aufgelassenen Palastes der Rechtssprechung in ein Warenhaus hat nicht stattgefunden, wie im Antikos Bazar türmt sich das Gerümpel. Man gerät in dunkle Sackgassen, an deren Ende Rolladenschränke, Stehpulte, Schreibtische, Bürosessel und sonstige Einrichtungsgegenstände übereinander gestapelt sind, als habe hinter ihnen jemand in einer Art Belagerungszustand ausharren müssen. Die Barrikade, ein weiteres Kapitel des geplanten Passagenwerkes, taucht für einen kurzen Moment auf vor unseren Augen.

In dem Brüsseler Monumentalbau breitet sich, wie zur Wiederbelebung einer untergegangenen Welt, das Kleingewerbe aus, immer wieder entstehen in irgendwelchen leerstehenden Kammern und abgelegenen Korridoren kleine Geschäfte, etwa ein Tabakhandel, ein Wettbüro oder ein Getränkeausschank, und einmal soll sogar eine Herrentoilette im Souterrain eingerichtet worden sein von einem Menschen namens Achterbos, der sich eines Tages mit einem Tischchen und einem Zahlteller in ihrem Vorraum installierte, um die Anlage dann in eine öffentliche Bedürfnisanstalt mit Laufkundschaft von der Straße und, in der weiteren Folge, durch Einstellung eines Assistenten, der das Hantieren mit Kamm und Schere verstand, zeitweilig in einen Friseurladen umzuwandeln.

In seinem Heimatort ist der Dichter unter Kleingewerbetreibenden großgeworden, dem Bader Köpf, dem Uhrmacher Ebentheuer, dem Bäcker Mayr und vielen anderen. Das Großstadtkind Austerlitz hat mit dem Blick auf die Werkstatt des Schneiders Moravec und den Besuchen im Handschuhgeschäft der Tante Otýlie ganz ähnliche Erinnerungen. Der Dichter, selbst ein Einmannbetrieb, ist Mitglied der Gilde.

Wenn Benjamin schreibt, als Flaneur begibt sich der Literat auf den Markt, um einen Käufer zu finden, meint er naturgemäß nicht, der Literat wolle die Figur des Käufers beobachten, oder er selbst wolle eine Ware veräußern. Es geht um die Ablösung des Mäzenatentums durch den Markt. Sebald hatte den Vorteil eines gesicherten Einkommens, der ihm ein freies Dichtertum ermöglichte, erst der Erfolg zerrte ihn auf den Markt. Einige vermuten, daß sein angegriffenes Herz dem nicht gewachsen war, aussetzte und den tödlichen Unfall verursachte.

Mittwoch, 7. November 2012

Passanten

Flâneur à vide

Durch die Erhebung zur literarischen Figur haben Baudelaire, Benjamin und andere den Flaneur gestärkt und zugleich gefährdet. Le flâneur entre dans la foule comme dans un immense réservoir d'électricité. Il s'agit, pour lui, de tirer l'éternel du transitoire. Wer das liest, möchte seinerseits der gemeinen städtischen Menge entkommen, und zum einsamen Flaneur werden, der die Menge philosophisch betrachtet. Was aber ist ein einsamer Flaneur noch wert, wenn an jeder Straßenecke ein von ihm selbst erweckter und nunmehr gleich gestimmter, philosophisch flanierender Konkurrent auf ihn wartet.
Diese Überlegung bereitet nicht auf den Flaneur bei Sebald vor, sondern auf seine auffällige Absenz. Dabei weist Selysses, Sebalds Bruder im Text, eine Reihe notwendiger Eigenschaften des Flaneurs auf. Er ist allein und für sich, er ist gebildet und hat offenbar hinreichend Zeit. Ungeachtet seiner ländlich-dörflichen Herkunft wird man ihm ein urbanes Wesen nicht absprechen wollen. Sein Liebe gilt neben Benjamin dem eigenwilligen Flaneur Robert Walser. Er ist ein Mann, auch das sei erwähnt, denn die Gestalt der Flaneuse ist kaum bekannt; neueren Berichten zufolge orientiert sie sich inzwischen weitgehend in Richtung der, wie schon bei Benjamin erkennbar, verwandten und ökonomisch ungleich sinnvolleren Tätigkeit des Schoppens. Selysses aber fehlt, seiner persönlichen Eignung zum Trotz, nahezu komplett das eigentliche Medium des Flaneurs, die Menschenmenge. Die Passanten bleiben aus, oder es sind nicht die richtigen oder aber er selbst ist nicht in der richtigen Position oder Stimmung. Fehlgeleitet war freilich die Sorge um ein Verschwinden der Passanten durch massenhaftes Überwechseln in das Lager der Flaneure. Eine Verphilosophierung der Welt hat nicht stattgefunden. So berechtigt unsere Ängste sind, so falsch liegen wir oft mit unseren Befürchtungen. Das Unheil zeigt sein Gesicht erst, wenn es zu spät ist für Flucht oder Gegenwehr.

In Mailand gibt es eine hinreichende Zahl von Passanten, Selysses aber hat den Mailänder Dom aufgesucht und ist hinauf bis in die oberste Galerie gestiegen. Weit unten sieht er über das Pflaster hastenden Gestalten, die sich vor einem Unwetter in Sicherheit bringen wollen. Das ist nicht die Welt des Flaneurs, der die Begegnung auf gleicher Ebene sucht und nicht, selbst auf der Galerie in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt, auf zwergenhafte Figuren am Boden steil nur herabschauen will.

Auch in dem kleinen Ort Limone am Gardasee fehlt es nicht an Einhergehenden. Als Selysses gegen Mitternacht zum Hotel zurückgeht, ist auch das ganze Ferienvolk paar- und familienweise unterwegs. Eine einzige buntfarbene Menschenmasse schiebt sich wie eine Art Zug oder Prozession durch die engen Gassen des zwischen den See und die Felswand eingezwängten Orts. Lauter Lemurengesichter waren es, die verbrannt und bemalt, unkenntlich wie hinter einer Maske, über den ineinander verschlungenen Leibern schwankten. Bei den Feriengästen handelt es sich nicht um in ihre üblichen Geschäfte eingebundene Passanten, über die nachzusinnen sich lohnt, sondern um Pseudoflaneure auf einem unbekannten, von Dante noch nicht erahnten  Höllenkreis.

In Verona flaniert Selysses nach den Regeln der Kunst unter den Bäumen der Uferpromenade den Adige entlang bis zum Castelvecchio. Seine Aufmerksamkeit ist aber ganz gefangen von einem hellfarbiger Hund, der einen schwarzen Fleck wie eine Klappe über dem linken Auge hatte und der wie alle herrenlosen Hunde schräg zu der Richtung zu laufen schien, in der er sich fortbewegte, hatte sich auf dem Domplatz ihm angeschlossen und war immer ein Stück voraus. Blieb Selysses stehen, so hielt auch der Hund ein und schaute versonnen auf das fließende Wasser der Etsch. Ging er weiter, so machte auch der Hund sich wieder auf den Weg. Als er aber am Castelvecchio den Corso Cavour überquerte, blieb der Hund an der Bordsteinkante zurück, und Selysses wäre, weil er mitten auf dem Corso sich umwandte nach ihm, um ein Haar überfahren worden. – Vom frei schweifenden Blick des Flaneurs kann nicht die Rede sein.

Venedig scheint ausschließlich von Einzelgängern bewohnt, die einander übel wollen. Wer hineingeht in das Innere der Stadt, weiß nie, was man als nächstes sieht oder von wem man im nächsten Augenblick gesehen wird. Kaum tritt einer auf, hat er die Bühne durch einen anderen Ausgang schon wieder verlassen. Geht man in einer sonst leeren Gasse hinter jemandem her, so bedarf es nur einer geringen Beschleunigung der Schritte, um jemanden, den man verfolgt, die Angst in den Nacken zu setzen. Umgekehrt wird man leicht selbst zum Verfolgten. Verwirrung und eisiger Schrecken wechseln einander ab, kein Gedanke an entspannt aufmerksames Flanieren.
Austerlitz trifft in Prag an einem nach seiner eigenen Einschätzung viel zu hellen Tag ein. Der Tag ist wie überbelichtet, und die Menschen sehen so krank und grau aus, als wären sie sämtlich chronische, nicht mehr weit von ihrem Ende entfernte Raucher. Kein Flaneur könnte hoffen, unter diesen Moribunden auf ein immense réservoir d'électricité zu stoßen, für Austerlitz, dem der Sinn ohnehin nicht nach Flanieren steht, eher eine Erleichterung.
Wien ist nach allgemeiner Überzeugung eine wie zum Flanieren geschaffene Stadt. Die einzige Beschäftigung in Wien besteht für Selysses aber aus ebenso endlosen wie leeren Gängen, die aber über ein eher enges Areal nicht hinausführen, einen genau umrissenen, sichel- bis halbmondförmigen Bereich, dessen Rand zugleich die Grenze seiner Vernunft, Vorstellungs- und Willenskraft ist. Wien ist für ihn leer, menschenleer, Selysses kommt mit niemandem ins Gespräch. Er hat es nur mit Schemen zu tun, Menschen, die mit Sicherheit nicht mehr am Leben sind, wie die Mathild Seelos, der einarmige Dorfschreiber Fürgut oder, in der Gonzagagasse der aus seiner Heimatstadt verbannte Dichter Dante. Bloß mit den Dohlen redet der Dichter einiges und mit einer weißköpfigen Amsel
In Terezín fehlen Bewohner und damit Passanten so gut wie vollständig. Eine vornübergebeugte Gestalt bewegt sich an einem Stock unendlich langsam voran und ist dann plötzlich verschwunden. Ein Geistesgestörter fuchtelt wild, ehe er, mitten im Davonspringen, vom Erdboden verschluckt wird. Am unheimlichsten aber waren die Türen und Tore von Terezín, die sämtlich den Zugang versperrten zu einem nie noch durchdrungenen Dunkel.
In Fall Terezíns mag man die Entvölkerung der besonderen Vergangenheit der Stadt zuschreiben, aber Manchester ist kaum dichter besiedelt. An einem späten Novembernachmittag stößt Selysses an einer Straßenkreuzung inmitten der Ödnis von Angel Fields auf einen kleinen Knaben, der in einem Wägelchen eine aus alten Sachen gemachte Gestalt bei sich hatte und der ihn, also wohl den einzigen Menschen, der damals in dieser Umgegend unterwegs gewesen ist, um einen Penny bat für seinen stummen Gesellen.

In Den Haag trifft Selysses in der Rezeptionsnische des Hotels auf zwei nicht mehr ganz junge, offenbar seit langem vermählte Herren, mit ihrem an Kindesstatt angenommenen aprikosenfarbenen Pudel, - eine dem Flaneur würdige Beobachtung. Er kann das Niveau allerdings nicht halten. Wahrscheinlich gehe er, so gibt er selbst zu bedenken, in fremden Städten oft auf den falschen Wegen. Vor den Eingängen der diversen Unterhaltungs- und Eßlokale versammeln sich kleine Gruppen morgenländischer Männer, von denen die meisten stillschweigend rauchen, während der eine oder andere ein Geschäft abwickelt mit einem Klienten. Als dann aber ein dunkelhäutiger Mensch auf Selysses zustürzt, das blanke Entsetzen im Antlitz, verfolgt von einem seiner Landsleute, dessen Augen geradezu glänzten vor Mordlust und Wut, ein langes, blitzendes Messer in der Hand, ergreift der Flaneur die Flucht und liegt, verstört von den Nachwirkungen des Erlebnisses, lange schlaflos auf dem Bett in seinem Hotelzimmer.

In Antwerpen sucht Selysses, kaum angekommen, die Tierwelt im Dunkel des Nocturamas auf, ein Besuch der prägend wird für das Erleben dieser Stadt. Auch Austerlitz flaniert in London vorwiegend nachts, wenn die potentiellen Passanten schlafen. Man kann ja tatsächlich zu Fuß in einer einzigen Nacht fast von einem Ende der riesigen Stadt ans andere gelangen, und wenn man einmal gewöhnt ist an das einsame Gehen und auf diesen Wegen nur einzelnen Nachtgespenstern begegnet, dann wundert man sich bald darüber, daß überall in den zahllosen Häusern die Bewohner jeden Alters anscheinend aufgrund einer vor langer Zeit getroffenen Vereinbarung, in ihren Betten liegen, zugedeckt und, wie sie glauben müssen unter sicherem Dach, während sie doch in Wahrheit nur niedergestreckt sind, das Gesicht vor Furcht gegen die Erde gekehrt, wie einst bei der Rast auf dem Weg durch die Wüste.

Paris, Capitale du XIXème siècle, ist das Eldorado der Flaneure. Austerlitz macht hier lange Spaziergänge in der Begleitung von Marie de Verneuil, ebenso in Marienbad. Nun findet der Flaneur unter den beobachteten Passanten, wie Botho Strauß hervorgehoben hat, durchaus Paare, er selbst aber kann nicht paarweise auftreten, da ihm in dieser Konstellation sein Charakteristikum, die entspannte und unbehinderte Aufmerksamkeit, verlorengeht.

Der Flaneur ist eine Erscheinung der Belle Epoque, deren Trümmer in Sebalds Werk zu besichtigen sind, so das Midland Hotel in Manchester, drei Kellergeschosse, sechs Stockwerke über der Erde, nicht weniger als sechshundert Zimmer. Derart enorm waren die Brausen, daß man unter ihnen wie in einem Monsunregen stand. Jetzt funktioniert die legendäre Dampfheizung bestenfalls noch stotternd, aus den Wasserhähnen rieselt der Kalk, die Fensterläden sind mit einer dichten, vom Regen marmorierten Staubschicht überzogen, ganze Teile des Hauses sind abgesperrt. Merkmal des klassischen Flaneurs war sein Hang zum Dandytum und zur ostentativen Langsamkeit, man führte Schildkröten bei seinem Spaziergang mit sich. Einen späten Abkömmling von vollendeter Dekadenz treffen wir in Deauville. Auf das geschmackloseste zusammengerichtet und auf das entsetzlichste geschminkt kam die Gräfin daher, mit einem hoppelnden Angorakaninchen an der Leine. Sie hatte ein giftgrün livrierten Clubman dabei, der immer, wenn das Kaninchen nicht mehr weiterwollte, sich hinunterbeugte zu ihm, um es ein wenig zu füttern von dem riesigen Blumenkohl, den er in der linken Armbeuge hielt.

Der Flaneur betritt, sozusagen als seine essayistische Variante, mehr oder weniger zeitgleich mit dem Soziologen die geschichtliche Bühne, beide suchen eine Beobachterperspektive auf die rätselhaft gewordene Gesellschaft der Menschen von außerhalb der Gesellschaft. Die Soziologie hat sich inzwischen längst als gesellschaftliche Aktivität innerhalb der Gesellschaft erkannt, dem Flaneur jedoch, dem ungebundenen Intellektuellen fällt es nach wie vor schwer, den Anspruch auf eine archimedischen Position aufzugeben. Ce fut le regard d'un flâneur, dont le genre de vie dissimula derrière un mirage bienfaisant la détresse des habtitants futurs de nos métropoles. Selysses ist auf der Höhe unserer Zeit, indem er als Stadtgänger scheitert am schieren Unmaß der Neuzeit. Austerlitz spricht im Einverständnis mit dem Autor anhand der von ihm einzig akzeptierten Architekturformen unter dem Normalmaß der domestischen Architektur - der Feldhütte, der Eremitage, dem Häuschen des Schrankenwärters, dem Aussichtspavillon, der Kindervilla im Garten – der Stadt praktisch das Existenzrecht ab. Nicht umsonst zieht durch die verschiedensten Städte unversehens und an den überraschensten Orten immer wieder die Karawane der Wüstenbewohner. Nicht fern ist Ciorans Urteil, die Menschheit hätte nie über den Stand der Hirtenvölker hinauswachsen dürfen.

Die Schwindel.Gefühle sind, neben vielem anderen, das Buch des scheiternden Flaneurs, die Ausgewanderten und Austerlitz wenden sich einzelnen Lebensschicksalen zu, der Blick auf die Stadt bleibt dabei der gleiche. In den Ringen des Saturn tritt an die Stelle des urbanen Flanierens die ländliche Wanderung. Daß dabei das Weltgeschehen nicht aus dem Blick gerät, muß man niemandem sagen.