Sonntag, 25. November 2012

Plagiat

Blinde Passagiere

Verschiedene Personen des öffentlichen Lebens in Deutschland haben in der letzten Zeit den Hochschulgrad zurückgeben müssen, andere kämpfen noch um die angefochtene akademische Auszeichnung. Ihnen allen wird unkorrektes Zitieren und übermäßige Nutzung vorgefundener Texte zum Vorwurf gemacht. Der Sebaldleser ist angesichts dieser Vorkommnisse verunsichert, weiß er doch, daß sein Autor ständig andere Autoren nutzt und zitiert, ohne das irgend kenntlich zu machen. Einiges entdeckt der Leser selbst, anderes erfährt er von Lesegefährten und wiederum anderes räumt der Autor ohne jedes Schuldgefühl ein: Und dann steht da plötzlich in einem Ihrer Bücher ein kostbares Wort: Wenn einer angelehnt steht an den Strom der Zeit. – Ja, das ist ein geborgtes Wort, das stammt aus Woyzeck.

Literatur ist nicht Wissenschaft und umgekehrt gilt das auch, wird man gleich einwenden, die Freiheiten der Kunst können nicht die der Wissenschaft sein. Dabei läßt sich durchaus eine wissenschaftliche Arbeit denken, die, so gut wie nur aus Bekanntem montiert, erregend Neues erbringt. Ein Physiker etwa könnte neun bekannte Formeln untereinanderschreiben, einen Strich darunter ziehen und von einem bloßen ergo eingeleitet die zehnte, gänzlich neue zur Kenntnis bringen: quod erat demonstrandum. Wenn die zehnte Gleichung dann noch die ungefähre Qualität von E = mc² haben sollte, wollte niemand wegen mangelhafter Zitiertechnik die Graduierung verweigern. Luhmann hat immer betont, Bücher würden nicht von Menschen geschrieben, sondern schrieben sich selbst aus anderen Büchern. Im Nachweisapparat hat er meist auf das Personenregister verzichtet. Nach seinem Tod hat der legendäre Zettelkasten allerdings die Produktion eingestellt und damit eine letztendliche Abhängigkeit vom Autor erwiesen.

Die Literaturwissenschaft legt besonderen Wert auf den Nachweis, daß sie sich vom oft leichtfertigen Treiben ihres Forschungsgegenstandes nicht hat anstecken lassen. So wird etwa die im Zitatkontext notwendig werdende Änderung einer Flexionsform penibel mit Klammer und Schrägdruck als nicht auf den erforschten Autor, sondern auf den Forscher zurückgehend gekennzeichnet. Nicht der geringste Zweifel soll bestehen an den Eigentumsverhältnissen. Niemand hat Spaß an diesem feinsinnigen Kataster, aber um Spaß geht es auch nicht, die Idee der fröhlichen Wissenschaft hat sich nicht durchgesetzt. Der renitente Leser allerdings ist oft nicht bereit, sich Spaß und Freude an der Lektüre nehmen zu lassen.

Zur Alltagsausstattung eines Dichters gehören wie bei den meisten Menschen Meinungen, Ansichten und Standpunkte. Dem Vollendeten allerdings liegt es nach Buddhas Einschätzung fern, Ansichten zu haben. Wir würden das nicht vom Dichter selbst, wohl aber von seinem Werk fordern. Die Qualität literarischer Texte, ihre Vollendung, bemißt sich daran, wie weit ihre Kraft reicht, die Alltagsausstattung des Autors zu überwältigen und unkenntlich zu machen. Die Literaturwissenschaft ist demgegenüber in ihrer überkommenen einfachen Ausprägung darauf bedacht, den Weg in die Literatur rückgängig zu machen, und den Text auf die Alltagsausstattung des Dichters zurückzuführen, den Text als Illustration der Meinungen, Ansichten und Standpunkte des Autors zu verstehen.

Es gibt naturgemäß auch anspruchsvollere Forschungsansätze. Ein junger Forscher hat in die Sebaldbetrachtung das Rhizom à la Deleuze & Guattari eingeführt, angesichts der verzweigten unterirdischen Verflechtung der Motive beim Dichter ohne Zweifel ein erfolgversprechendes Konzept. Immer aber nimmt die Wissenschaft die Literatur aus sich heraus und versetzt sie in ein so oder so geartetes, in jedem Fall aber vom Text weit entferntes Erklärungsraster. Bei dem Rhizombeispiel hat der einfache Leser und Literaturfreund dann die Last, das Bild der ausgegrabenen und ans Licht gezerrten unförmigen und unschönen Pflanzenknollen bei der Lektüre ständig störend vor Augen zu haben. Aber Literaturwissenschaft wird um ihrer selbst willen betrieben und nicht für die Leser der Bücher, die müssen sich um ihre Belange selbst kümmern.

Der Literaturwissenschaftler sucht die Entfernung vom und letztlich die Ruhe vor dem literarischen Text. Er sperrt ihn in ein Gittergerüst, sei es das der Alltagsausstattung des Autors, sei es das Sproßachsensystem der beiden französischen Philosophen oder in ein anderes. Am Ende ist das Areal des Dichters sauber von dem des Forschers separiert, die Arbeit ist getan, die Akte kann geschlossen werden. Der Leser geht den umgekehrten Weg, er sucht nicht den Abstand vom, sondern die Nähe zum, die dauerhafte Symbiose mit dem Text. In einer Doppelbewegung möchte er aufgehen im Text und sich den Text zueigen machen, den Text mit und bei sich tragen. Der wahre Leser ist ein Leser auch dann und vielleicht in besonderem Maße dann, wenn er gerade nicht liest. Er geht mit dem Hund durch das heimisches Gelände und reist dabei mit Selysses durch Oberitalien. Heimgekehrt vom gemeinsamen Ausflug, der gemeinsamen Reise, mag er auf die Idee kommen, sich der angenehmen Vorgänge in seinem Kopf, des Amalgams aus Worten des Dichters, eigenen Worten und Worten Dritter in der Weise eines kleinen Sebaldstücks zu versichern.
Im Umgang mit Lektüre, die ihm wenig oder gar nicht behagt, wird der Leser seinerseits zum kühlen Betrachter, und nicht auszuschließen ist der Fall des Literaturwissenschaftlers, der zugleich Leser ist, es ist sogar der übliche Fall. Sebald selbst ist ein helles Beispiel. Schreibend hat er sich immer stärker zur Seite des Lesers hin bewegt. Schon seine literaturwissenschaftlichen Arbeiten in den Bänden Unheimliche Heimat und Beschreibung des Unglücks haben essayistische und belletristische Züge. Mit Keller, Walser und anderen Alemannen wollte er, anstatt sie zu behandeln, lieber gemeinsam Logis in einem Landhaus nehmen, und schließlich hat er sich, die Wissenschaft hinter sich lassend, zusammen mit Kafka, Büchner, Browne, Wittgenstein, auch mit Gefährten aus der bildenden Kunst - niemand weiß genau zu sagen, wer sich sonst noch alles aufhält in seinem Prosawerk - auf den Weg der Dichtung begeben.

Kafka ist nicht nur ständiger Begleiter bei den Fahrten durch Oberitalien, er ist auch dabei, als Jacquot Austerlitz vom Prager Bahnhof aus auf die Reise geschickt wird, als die weißen Taschentücher flattern gleich einer auffliegenden Taubenschar, und als es schien, daß der Zug, nachdem er unendlich langsam angerückt war, nicht eigentlich weggefahren, sondern bloß, in einer Art Täuschungsmanöver, ein Stück aus der überglasten Halle herausgerollt und dort, noch nicht einmal in halber Ferne, versunken sei. Oder im nächtlichen London, als überall in den zahllosen Häusern die Bewohner jeden Alters anscheinend aufgrund einer vor langer Zeit getroffenen Vereinbarung, in ihren Betten liegen, zugedeckt und, wie sie glauben müssen unter sicherem Dach, während sie doch in Wahrheit nur niedergestreckt sind, das Gesicht vor Furcht gegen die Erde gekehrt, wie einst bei der Rast auf dem Weg durch die Wüste. Büchner steht in Wien, es wurde schon erwähnt, wie angelehnt an den Strom der Zeit, das Feuer des Onkels Evelyn, das in Andomeda Logde, Wales, von fast gar nichts brennt, ist das gleiche, das bei Keller die Mutter des grünen Heinrichs in der Schweiz unterhält, und als Selysses bei seiner Flucht aus Verona auf dem Brenner angelangt ist, geht ihm, gerade wie vormals Thomas Browne, durch den Sinn: The night of time far surpasseth the day, and who knows when was the AEquinox? Wie soll den Leser da nicht die Lust ankommen, mit von der Partie zu sein, von niemandem bemerkt, als blinder Passagier, der er ohnehin immer ist.

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