Kinderszenen
In seinem Buch Kinderszenen schreibt Rymkiewicz: Die Schönheit des Warschauer Aufstands, seine symbolische Schönheit, das sind Dinge, die erst viele Jahre später in Erscheinung traten. So ist es immer bei großen historischen Ereignissen, ihr wahrer, dauerhafter, symbolischer Gehalt, der zunächst nur schwach sichtbar oder auch unsichtbar ist, erweist sich als ein Element der Ewigkeit. - An das Gegenteil gewohnt horcht man auf: um die Wahrheit sichtbar zu machen, so heißt es, müsse der mythologische Schleier heruntergerissen werden. Rymkiewicz ist auf diesen Einwand gefaßt und antwortet: Erstens müsse der symbolische Gehalt die konkreten historischen Einzelheiten, das Leid, das massenhafte grausame Sterben nicht verdrängen, und zweitens po prostu nie ma na to rady, man kann gar nichts machen, wenn in der Geschichte etwas wirklich Wichtiges geschieht, ist es unumgänglich, daß es in unseren Köpfen früher oder später eine symbolische Gestalt annimmt.
André Hilary hat Napoleons Aufstieg und Fall in allen Einzelheiten studiert, sein Glanzstück ist zweifellos die Schlacht von Austerlitz gewesen. Wenn wir aber versuchen, die Wirklichkeit eines Schlachtgeschehens wiederzugeben, so drängt sich uns nach den Worten Hilarys das auf, was auf dem historischen Theater von jeher zu sehen war, der gefallene Trommler, der Infanterist, der gerade einen anderen niedersticht, das brechende Auge eines Pferdes. Unsere Beschäftigung mit der Geschichte sei eine Beschäftigung mit immer schon vorgefertigten, in das Innere unserer Köpfe gravierten Bildern, während die Wahrheit irgendwoanders, in einem von keinem Menschen noch entdeckten Abseits liege. Rymkiewicz zerbröselt die historischen Fakten mit poetischer Obstinanz, hinter jeder Gewißheit erscheinen tausend Ungewißheiten, Nährboden der entstehenden symbolischen Gestalt. Zählt sie zu den vorgefertigten Bildern, oder ragt sie hinein in das noch Unentdeckte?
Für den ersten Blick erscheint Geschichte als politische Geschichte und damit vor allem auch als Geschichte blutiger Kriege und Auseinandersetzungen. Daneben eröffnet sich die Diszipilinenvielfalt von Wirtschafts- und Wissenschaftsgeschichte, Sozialgeschichte, Geschichte der Stadtentwicklung &c. Einen separaten Platz beansprucht seit jeher die Geschichte der Kunst als der bevorzugte Ort der Entwicklung symbolischer Gestalten. Selysses sieht Tiepolo zuoberst auf dem Gerüst einen halben Meter unter der Decke des Treppenhauses der Würzburger Residenz liegen mit kalk- und farbverspritztem Gesicht und trotz der Schmerzen in seinem rechten Arm mit sicherer Hand die Farblasur eintragen, und er sieht die Kreuzwegstationen in der Krummenbacher Kapelle, deren Schöpfer sich vielleicht nicht weniger gemüht hat. Für den Betrachter der Bilder und Fresken Tiepolos aber ist alle Müh und Plage entfallen. Aurach erinnert sich an eine Kinderszene, wie er an der Seite des Onkels mit verrenktem Hals in die für ihn zu jener Zeit bedeutungslose Pracht des Deckengemäldes emporschaut. Erst viel später dann, beim Durchblättern eines neuerschienenen Bildbandes, habe er sich lange nicht losreißen können von den Reproduktionen der monumentalen Würzburger Freskomalerei. Einen ganzen Abend sei er über diesen Bildern gesessen und habe versucht, mit einem Vergrößerungsglas tiefer und tiefer in sie einzudringen.
Rymkiewicz hat seine Jugend in der Kriegszeit verbracht, alles in allem wenig beeindruckt von dem Geschehen. Seine, wie er weiß auf Gegenseitigkeit beruhende Freundschaft zu den Tieren, den Katzen, Pferden, Schildkröten und Krebsen, ist nicht beeinträchtigt. Nimmt die Belästigung an anderer Stelle überhand, wünscht er seine polnischen Vater durch einen türkischen ersetzt, mit dem er frei von allem Ungemach in Istanbul lebt. Dann wiederum, rasend vor Ärger und Zorn darüber, daß die ältere Schwester Schlittschuhlaufen kann, Schlittschuhe besitzt und sie auf der Eisfläche der Dolina Szwajcarska zu Einsatz bringt, während er, der kleine Jaroslaw Marek, nicht Schlittschuhlaufen kann, keine Schlittschuhe hat und zum Zuschauer degradiert ist, erträumt er einen Einsatz der Gestapo, die alle Besucher des Vergnügungsparkes festnimmt und abtransportiert oder, besser noch, gleich durch Maschinengewehrgarben erledigt, so daß er bald darauf als der letzte Schlittschuhläufer der Dolina Szwajcarska das Eis betritt und Pirouetten Sprünge von ungeahnter Eleganz und Schönheit darbietet, die zu bewundern allerdings niemand mehr da ist. Kinderszenen, den deutschen Titel des polnischen Buches hat Robert Schumann vorgegeben.
In seinem Buch Kinderszenen schreibt Rymkiewicz: Die Schönheit des Warschauer Aufstands, seine symbolische Schönheit, das sind Dinge, die erst viele Jahre später in Erscheinung traten. So ist es immer bei großen historischen Ereignissen, ihr wahrer, dauerhafter, symbolischer Gehalt, der zunächst nur schwach sichtbar oder auch unsichtbar ist, erweist sich als ein Element der Ewigkeit. - An das Gegenteil gewohnt horcht man auf: um die Wahrheit sichtbar zu machen, so heißt es, müsse der mythologische Schleier heruntergerissen werden. Rymkiewicz ist auf diesen Einwand gefaßt und antwortet: Erstens müsse der symbolische Gehalt die konkreten historischen Einzelheiten, das Leid, das massenhafte grausame Sterben nicht verdrängen, und zweitens po prostu nie ma na to rady, man kann gar nichts machen, wenn in der Geschichte etwas wirklich Wichtiges geschieht, ist es unumgänglich, daß es in unseren Köpfen früher oder später eine symbolische Gestalt annimmt.
André Hilary hat Napoleons Aufstieg und Fall in allen Einzelheiten studiert, sein Glanzstück ist zweifellos die Schlacht von Austerlitz gewesen. Wenn wir aber versuchen, die Wirklichkeit eines Schlachtgeschehens wiederzugeben, so drängt sich uns nach den Worten Hilarys das auf, was auf dem historischen Theater von jeher zu sehen war, der gefallene Trommler, der Infanterist, der gerade einen anderen niedersticht, das brechende Auge eines Pferdes. Unsere Beschäftigung mit der Geschichte sei eine Beschäftigung mit immer schon vorgefertigten, in das Innere unserer Köpfe gravierten Bildern, während die Wahrheit irgendwoanders, in einem von keinem Menschen noch entdeckten Abseits liege. Rymkiewicz zerbröselt die historischen Fakten mit poetischer Obstinanz, hinter jeder Gewißheit erscheinen tausend Ungewißheiten, Nährboden der entstehenden symbolischen Gestalt. Zählt sie zu den vorgefertigten Bildern, oder ragt sie hinein in das noch Unentdeckte?
Für den ersten Blick erscheint Geschichte als politische Geschichte und damit vor allem auch als Geschichte blutiger Kriege und Auseinandersetzungen. Daneben eröffnet sich die Diszipilinenvielfalt von Wirtschafts- und Wissenschaftsgeschichte, Sozialgeschichte, Geschichte der Stadtentwicklung &c. Einen separaten Platz beansprucht seit jeher die Geschichte der Kunst als der bevorzugte Ort der Entwicklung symbolischer Gestalten. Selysses sieht Tiepolo zuoberst auf dem Gerüst einen halben Meter unter der Decke des Treppenhauses der Würzburger Residenz liegen mit kalk- und farbverspritztem Gesicht und trotz der Schmerzen in seinem rechten Arm mit sicherer Hand die Farblasur eintragen, und er sieht die Kreuzwegstationen in der Krummenbacher Kapelle, deren Schöpfer sich vielleicht nicht weniger gemüht hat. Für den Betrachter der Bilder und Fresken Tiepolos aber ist alle Müh und Plage entfallen. Aurach erinnert sich an eine Kinderszene, wie er an der Seite des Onkels mit verrenktem Hals in die für ihn zu jener Zeit bedeutungslose Pracht des Deckengemäldes emporschaut. Erst viel später dann, beim Durchblättern eines neuerschienenen Bildbandes, habe er sich lange nicht losreißen können von den Reproduktionen der monumentalen Würzburger Freskomalerei. Einen ganzen Abend sei er über diesen Bildern gesessen und habe versucht, mit einem Vergrößerungsglas tiefer und tiefer in sie einzudringen.
Rymkiewicz hat seine Jugend in der Kriegszeit verbracht, alles in allem wenig beeindruckt von dem Geschehen. Seine, wie er weiß auf Gegenseitigkeit beruhende Freundschaft zu den Tieren, den Katzen, Pferden, Schildkröten und Krebsen, ist nicht beeinträchtigt. Nimmt die Belästigung an anderer Stelle überhand, wünscht er seine polnischen Vater durch einen türkischen ersetzt, mit dem er frei von allem Ungemach in Istanbul lebt. Dann wiederum, rasend vor Ärger und Zorn darüber, daß die ältere Schwester Schlittschuhlaufen kann, Schlittschuhe besitzt und sie auf der Eisfläche der Dolina Szwajcarska zu Einsatz bringt, während er, der kleine Jaroslaw Marek, nicht Schlittschuhlaufen kann, keine Schlittschuhe hat und zum Zuschauer degradiert ist, erträumt er einen Einsatz der Gestapo, die alle Besucher des Vergnügungsparkes festnimmt und abtransportiert oder, besser noch, gleich durch Maschinengewehrgarben erledigt, so daß er bald darauf als der letzte Schlittschuhläufer der Dolina Szwajcarska das Eis betritt und Pirouetten Sprünge von ungeahnter Eleganz und Schönheit darbietet, die zu bewundern allerdings niemand mehr da ist. Kinderszenen, den deutschen Titel des polnischen Buches hat Robert Schumann vorgegeben.