Mittwoch, 15. Juli 2015

Was die Zukunft bringt

Panmorbosina

Llorenç Villalonga, außerhalb Kataloniens und Spaniens allenfalls für den in der jüngeren mallorquinischen Vergangenheit spielenden Roman Bearn bekannt, veranlaßt gegen Ende seiner in den frühen fünfziger Jahren verfaßten Erzählung La novel·la de Palmira einen Zeitsprung in die achtziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts und garniert ihn mit diversen utopischen Details. So verdanken die Protagonisten ihr Fortleben einem zwischenzeitlich entwickelten Allheilmittel mit dem sprechenden Namen Panmorbosina. Das daraufhin sprunghaft einsetzende Anwachsen des Lebensalters wird durch eine Rechenmaßnahme kaschiert, die Hundertjährigen gelten fortan als Achtzigjährige, die Achtzigjährigen als Sechzigjährige. So nett und harmlos es sich anhört, naturgemäß ist nichts davon eingetreten. Die Sexualität, so eine weitere Vorhersage, würde erheblich an Wertschätzung verlieren, als überlebende Zeitzeugen können wir auch das nicht bestätigen. Der Erzähler selbst kümmert sich dann aber auch wenig um seine Prophezeiungen, und die Geschichte nimmt ihren Fortgang und findet ihr Ende, als habe das zwanzigste Jahrhundert noch gar nicht recht begonnen, geschweige denn das einundzwanzigste sei frühzeitig eingeläutet. Die Pariser Theaterbühnen spielen Racine und Molière wie eh und je, Maupassants Erzählungen sind noch gegenwärtig in den Köpfen.

Eine Unordnung der Zeiten ist bei Sebald in dieser Art naturgemäß nicht anzutreffen. Aus der Erzählgegenwart ist der Blick oft in die Vergangenheit gerichtet, kaum je in die Zukunft. Als die Schwindel.Gefühle ausklingen aber wird ein ähnlich weiter Zeitsprung nach vorn vollzogen, allerdings äußerst wortkarg und ohne pittoreske Einzelheiten: -2013- Ende. Welches Ende ist gemeint? Wer sich auf das Weltenende verlassen hatte, muß einräumen, daß der Termin auch bei Zubilligung einer gewissen Unschärfe nun bereits verstrichen ist, wie so viele vor ihm. Durchgehend ist in den Schwindel.Gefühlen von zwei Zeitenwenden, zwei verspäteten Jahrhundertwenden die Rede, der von 1813, als Napoleons Stern zu sinken begann, und der von 1913, als die Zeit sich wendete und wie eine Natter durchs Gras der Funken die Zündschnur entlang lief. Woran wäre das verspätete Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, die Zeitenwende von 2013 festzumachen? Sicher haben Menschen der Generation Sebalds zunehmend das Gefühl, daß die Welt die letzten der ihnen vertrauten Züge verliert, aber was konkret wäre zu nennen. Vieles wäre zu nennen, die nicht endende Finanz- und Schuldenkrise, der aufflammende Terrorismus, der neue kalte Krieg. Das alles konnte der Dichter nicht in dieser Schärfe voraussehen, wohl aber eine Lage, in der die metaphorisch Buckligen und Irren in Brüssel zunehmend ratlos sind.

Auch Villalongas fast in der Weise der naiven Malerei fröhliche Einfügung utopischer Details in den Fortgang des gewohnten Lebens bringt eine Wahrheit an den Tag: die Ungleichzeitigkeit der Zeitenwenden, die einen hören das Gras der neuen Zeit wachsen, die anderen bewundern die Eiche, die schon hundert Jahre steht. Mehr als hundert Jahre zurück liegt die Blüte der Erzählliteratur des süddeutschen Sprachraums, an die Sebald eingestandenermaßen anschließt. Das Gras unserer Tage hat er nicht weniger im Blick, es scheint weniger zu wachsen als zu welken, was er hört, ist ein trockenes Rascheln. Ein sparsamer und wenig froh stimmender Blick in die Zeit nach 2013 ist uns erst jetzt möglich.

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