Donnerstag, 5. Mai 2016

A cau d'orella

Tanzschritte

Als Selysses - den wir in diesem Augenblick von Sebald nicht unterscheiden müssen - Abschied nimmt von Ernst Herbeck, schreibt dieser ihm auf seine Bitte hin zur Erinnerung ein Prosagedicht ins Notizbuch: England. England ist bekanntlich / eine Insel für sich. Wenn / man nach England reisen / will braucht man einen ganzen / Tag.

Sebald spielt gern mit dem jüdischen Gedanken, die erlöste Welt werde sich kaum, nur in winzigen Einzelheiten von der unsrigen unterscheiden und habe doch nichts gemein mit ihr; von der Erzählkunst erwartet er ähnliche unmerkliche Verrückungen und ähnliche Wunder, eine Vorahnung des Heils. Bei Herbeck ist nicht das geringste Verrücken zu spüren, der Text liegt reglos und deckungsgleich auf der Realität und sich selbst. Völlige Bewegungslosigkeit, so starr, daß wir es nicht aushalten und uns unsererseits bewegen müssen, das ist der künstlerische Effekt. Schließlich ist es ein Gruß von jemandem, der bleiben, an einen, der reisen wird.

Wenn wir Schiller darin folgen, daß in der Kunst die Form den Inhalt vertilgen muß, verwundert es nicht, wenn sie, die Kunst, in der Hoffnung leichteres Spiel zu haben, sich zunächst selbst zum Inhalt nimmt. Poemes / son poemes, Gedichte sind Gedichte, beginnt eine junge, kaum erst ins Schulalter eingetretene katalanische Lyrikerin ihr neues Werk. Für einen Augenblick mag man die gleiche Starre vermuten wie bei Herbeck, aber nein, da ist Bewegung, ein Tanzschritt, eine Pirouette gar. Das wird vollends deutlich, als ein zweites son die Drehung aufnimmt und sie im weiteren Verlauf des Satzes zugleich beruhigt: son molt bons a dir, sie lassen sich gut sagen und es tut gut, sie zu sagen - wenn man denn den rechten Ton findet: si ho dius a cau d'orella, wenn Du sie, leise, in eine Ohrmuschel sprichst. Wer ist das Du, wer spricht, wer öffnet das Ohr? Ist es die junge Dichterin, die unser Ohr beglückt, oder hört sie, als das Kind, das sie ist, die Stimme der Großmutter? Wir müssen uns nicht entscheiden. Poemes / son poemes / son molt / bons a dir / si ho dius / a cau / d'orella.

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