Donnerstag, 2. Februar 2017

Pfarrkirche St. Michael

Herz und Zobel


Das Bild über dem Wohnzimmersofa der nach Amerika ausgewanderten Verwandten beweist, daß es im Heimatort des Dichters, wie in einem bayerischen Dorf auch nicht anders zu erwarten, eine Kirche gegeben hat. Er selbst verrät es uns unmittelbar nicht, wenngleich er als Kind täglich den Kirchberg hinuntermußte. Daß er überhaupt jemals im Innenraum der Kirche war, erschließt sich nur aus der Schilderung des dort angebrachten Gemäldes vom Fürstbischof Ulrich und der Schlacht auf dem Lechfeld. Vertraut gibt der Dichter sich dagegen nach dem Umzug in die nächstgelegene größere Ortschaft mit der dortigen Pfarrkirche St. Michael, weniger aus religiösen Gründen als aus musikalischen. Mit dem dortigen Chorregenten Zobel ist er sogar auf einem engeren Fuß gestanden. 

Moments musicaux. Der Gesang der Gemeinde habe etwas unangenehm Verschlepptes und unter allen höre man stets die falsch Singenden heraus, beschwert der Chorregent sich beim jungen Dichter. Nun ist die geringe Spritzigkeit und Tonsicherheit des Gemeindegesangs ein auch den musikalischen und theologischen Laien mehr oder weniger vertrautes Phänomen, der Dichter hält sich daher zurecht nicht lange mit allgemeinen Betrachtungen auf, sondern wendet sich dem Adam Herz zu, einem entlaufenen Kosterbruder, der jetzt als Stallknecht sein Auskommen hatte und stets am lautesten und falschesten von allen gesungen hat. Mit der Inbrunst eines von furchtbaren Seelenschmerzen um seinen Verstand gebrachten Menschen schrie der Herz die katholischen Kirchenlieder aus sich heraus, die Kinnlade vorgeschoben, die Augen geschlossen, das Gesicht mit einem qualvollen Ausdruck aufwärts gekehrt. Sommers und winters trug er nichts unter dem immer gleichen Überzieher, unter dessen Revers seine von grauem Haar überkräuselte Brust hervorschaute, gerade wie im Schloßroman die des armen Barnabas unterm Botenkleid. Ein armer Teufel, ein Demerit, ein Jurodiwy, ein satanischer vielleicht, denn uns ist, als habe er mit seinem Schreigesang dem hellen Gotteshaus allen Kirchenschmuck und alle Farbe genommen und wir säßen jetzt in einem dunklen Gewölbe.

Das musikalische Genie des Chorregenten konnte sich während der Gottesdienste nicht ausleben, das vom Geheul der Gemeinde begleitete Abspielen der ewigselben zwei Dutzend Lieder absolvierte er mehr oder weniger im Schlaf. Erst am Ende der Messe kam er wieder zu sich, wenn er die Herde der Gläubigen mit einem vom ihm in freier Phantasie auf der Orgel entfesselten Sturm gleichsam beim Kirchentor hinausfegte. Der Dichter liebt die vom Menschen befreiten Räume, warum sollte der Innenraum der Kirchen ausgenommen sein. Und dabei bleibt es nicht, in dem leeren und also doppelt hallenden Gotteshaus entfachte der Regent einen wahren Orgelsturm bis es schließlich schien, als wollten die aus den Orgelpfeifen hervorgebrachten Schallwellen das Weltgebäude selbst zum Einsturz bringen. Zerstörung oder Apotheose, Verwandlung der bescheidenen Kirche in eine Kathedrale der Töne, denn was sind die großen Kathedralen anderes als Versuche, die Welt zu sprengen aus Gottesverlangen. Trotz der allsonntäglichen schweren Stürme hat die Pfarrkirche St. Michael auch heute noch ihre bescheidene Größe und ursprüngliche Gestalt, Kirchenschmuck und helle Farben inbegriffen.

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