Mittwoch, 6. September 2017

Egomanie

Ebenbürtig

Zu Raymond Chandlers hundertstem Geburtstag wurde eine Art Festschrift herausgegeben, zu der an die dreißig im Kriminalfach tätige Autoren je eine Marlowe-Kurzgeschichte beisteuerten. Chandler hatte sich in seinen frühen Erzählungen nicht ausnahmslos an die Form des Icherzählers gebunden, zu recht aber ist niemand von den dreißig Erzählern auf die Idee gekommen, seine Geschichte anders als in der Ichform vorzutragen. Marlowe kann als der archetypische Icherzähler der neueren Literatur angesehen werden, archetypisch in jedem Fall für all die Gumshoes, die seinen Spuren, oft leicht hinkend, gefolgt sind. Der Leser sitzt hinter Marlowes Augen, er sieht nur das, was der sieht, Marlowes Worte hört er, als seien es die seinen, die Worte der anderen hört er mit Marlowes Ohren, er hört auch das leise Raunen seiner Gedanken. Immer ist Marlowe und der Leser mit ihm im aktuellen Zeitlauf, wie jeder hat Marlowe Erinnerungsvermögen und Zukunftserwartung, Erinnerung setzt er aber nur instrumentell ein, die Fälle haben immer eine Vergangenheitsdimension, Marlowe hat keine Vergangenheit, keine Kindheit, keine Jugend, kein Elternhaus, keinen Schulbesuch.

Ist Marlowe archetypisch auch für Sebalds Erzähler, der nach eigenem Bekunden an einem Kriminalroman, den Schwindel.Gefühlen arbeitet? – es gehe, so führt er aus, um eine Reihe unaufgeklärter Verbrechen und um das Wiederauftauchen einer seit langem verschollenen Person. Die feste Burg des Icherzählers ist die Autobiographie, in der er, so die Idealvorstellung, möglichst umfänglich und wahrheitsgetreu von sich berichtet. Sebalds Prosa könnte man als Fragmente einer Autobiographie lesen, in der der Autor über sich möglichst wenig erzählt und auch die Wahrheit nicht sonderlich hochschätzt. Kann man sich Gedanken machen, ob Chandler zu seinem fiktionalen Helden gleichwohl biographische Bezüge unterhält - neben dem Alkohol wäre das Pfeiferauchen zu nennen - so muß man sich bei Sebald ständig fragen, wo der autobiographische Bericht in Fiktion übergeht. Sollen wir glauben, daß Manchester eine menschenleere Großstadt ist, daß im deutschen Konsulat zu Mailand ein Artist mit Namen Giorgio Santini den Strohhut trägt, mit dem Pisanello San Giorgio ausgestattet hatte, daß man in Brüssel in einer Woche mehr Bucklige und Irre trifft als sonst in einem ganzen Jahr: an allen Ecken und Enden geht die Wahrheit lautlos in Dichtung über. Auch ist man nicht gehalten, ständig mit den Augen des Icherzählers zu sehen, mit seinen Ohren zu hören, in den Schwindel.Gefühlen sind wir zunächst mit Stendhal allein, später dann mit Kafka, und selbst auf dem Weg von Oberjoch nach W. ist es eher, als gingen wir in der Gesellschaft des Erzählers, die Leser können, so der Eindruck, an der Person des Icherzählers mit den eigenen Augen vorbeischauen. Die Ringe des Saturn führen uns nach China und in den Kongo, ohne daß der Icherzähler mitreist. In den Ausgewanderten läßt sich der ermüdete Erzähler von den Tagebüchern entlasten, die seine Protagonisten zur Verfügung stellen. In Austerlitz betritt mit dem Titelhelden ein zweiter Icherzähler die Bühne, schlägt man das Buch an einer beliebigen Stelle auf, weiß man nicht immer gleich, wer gerade der Icherzähler vom Dienst ist. Oft kann man den Eindruck haben, als bahne sich eine Fusion der beiden Erzähler an.

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In der Verständnis des Icherzählers und der Verbrechensaufklärung gehen Chandlers und Sebalds Wege eher auseinander, Ähnlichkeiten bestehen bei den archétypes involontaires, où les mots prennent leur sens et leur vie, etwa beim Empfangspersonal in Hotels und ähnlichen Etablissements: A man was sitting at a small desk which had dust on it, a very large ash-tray and very little else. He was short and thick-set. He had something dark and bristly under his nose about an inch long. I sat down across from him and put a card on the desk. He reached fort he card without exitement, read it, turned it over and read the back with as much care as the front. There was nothing on the back to read. - The clerk on duty was an egg-headed man with no interest in me or in anything else. He wore parts of a white linen suit and he yawned as he handed me the desk pen and looked off into the distance as if remembering his childhood. Der Blick, der sich in eine unbestimmte Ferne verliert, vom Autor arglistig als Erinnerung an die Kindheit gedeutet, die sorgfältige Untersuchung des leeren Blattes, kurze Einblicke in ein anderes, rätselhaftes Leben, bei denen es sein Bewenden haben muß, der Detektiv kann nicht verweilen, er muß anderen Spuren folgen. Beim Umgang mit dem Empfangspersonal ist Marlowe dem von Schwindelgefühlen geplagte Erzähler ebenbürtig. Ebenbürtig auch der Umgang mit den Wasservögeln: There was a short wooden pier down there with a rowboat tied to it by a white painter. Towards the far shore, which wasn’t very far, a black waterhen was doing lazy curves, like a skater. They didn’t seem to cause as much as a shallow ripple.

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Assez de cette putain de première personne, verkündet Becketts Namenloser und zwanzig Seiten später dann, Je mettrai à la place la troisième personne, si j'y pense. Er wird es vergessen, denkt man, aber nur wenige Seiten später macht er seine Drohung wahr, wenn auch nur für eine kurze Weile.

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