Samstag, 24. Februar 2018

ain't got no cigarettes

Ausgewogenes Training

Dans les épreuves cruciales, la cigarette nous est d’une aide plus efficace que les Évangiles. Ob Cioran nun recht hat mit dieser Einschätzung oder nicht, wir kennen den Dichter in seinem wahren Leben von zahlreichen Photos als Vertrauten der Zigarette, Photos, die ihn beim Blättern im Neuen oder, ersatzweise, im Alten Testament zeigen, gibt es nicht. Unter der Tür seines Arbeitszimmers würde der Rauch hervorquellen, verrät er in einer wohl leicht hyperbolischen Wendung, in der Tat aber könnte das Schreiben den Charakter einer dauerhaften schweren Prüfung haben, er deutet das wiederholt an. Wir müssen unterstellen, daß auch der in mancher wenn nicht in jeder Hinsicht dem Dichter eng verwandte Erzähler die Wohltat der Zigarette kennt, mußte er doch schon als Kind dem Vater regelmäßig eine Schachtel Zuban aus der Gastwirtschaft unten im Haus holen. Eine Gelegenheit, den Erzähler beim Rauchen zu beobachten, ergibt sich aber nicht. Zwar wird er selbst in den Prosatexten keinen wirklich schweren Prüfungen unterzogen, einer Reihe kleinerer Prüfungen aber schon. Die schwerwiegendste Prüfung erlebt er ihn Wien, wo er die Lebensgewohnheiten eines Clochards annimmt. Als er sich in diesem Zustand in den Anlagen vor dem Rathaus des längeren mit den Dohlen und mit einer weißköpfigen Amsel unterhält, stellen wir uns ihn vor auf einem Streinmäuerchen sitzend, die Arme über den Knien gekreuzt mit einer Zigarette in der Hand, der Text aber bestätigt diese Annahme nicht ausdrücklich. Auch nach der Bewältigung der Fischschnitte in einem Hotel in Lowestoft, als der Teller nach der Operation mit Messer und Gabel einen furchtbaren Anblick bot, über allem die Sauce Tartare, die aus einem Plastiktütchen hatte herausgequetscht werden müssen, die rußigen Semmelbröseln gräulich verfärbt, und der Fisch selber, oder das, was ihn hatte vorstellen sollen, zur Hälfte zerstört unter den grasgrünen Erbsen und den Überresten der fettig glänzenden Chips: da war wohl eine Zigarette unumgänglich. Nicht anders auf der Wanderung von Oberjoch nach W., nach der Einkehr beim Hirschwirt und nach dem Verzehr einer Brotsuppe und eines halben Liter Tirolerweins - auch hier würde man das Zünden einer Zigarette erwarten, diesmal zur Abrundung des Wohlbehagens.

Genug der Beispiele und zurück zur Frage, warum die Zigarette unerwähnt bleibt. Von der politischen Korrektheit war der Glimmstengel zur Erzählzeit noch nicht in vollem Umfang erfaßt, und zudem wird jemand, der den Zigeuner und selbst den Neger nicht scheut, bei der Zigarette vollends unbesorgt sein. Die Lösung dürfte in stilistischen Erwägungen zu suchen sein. Um Ciorans Effekt zu erzielen, ist ein ausgewogenes Training unerläßlich. Greift ein Nichtraucher bei schwerer Prüfung zur Zigarette, wird er die Lage durch einen Hustenanfall und Übelkeit nur noch verschärfen, ein Kettenraucher andererseits ist zu abgestumpft, um die Notfallwirkung zu erzielen, ein vernünftiges Mittelmaß ist angesagt. Die ausdrückliche Erwähnung aller vollzogenen Trainingseinheiten würde die Prosa belasten, Erwähnung nur in der Notsituation wäre ein billiger Akzent. Gefordert ist der aktive Leser, der, wie hier in einigen exemplarischen Beispielen vorgeführt, die Zigarette von sich aus an den richtigen Textstellen ergänzt.

Mittwoch, 21. Februar 2018

Ruinen

Neuverteilung

Chaque pensée devrait rappeler la ruine d’un sourire. Spätestens seit der Romantik, eigentlich aber schon seit langen Jahren, können Ruinen nicht mehr dem Lager des Verlorenen zugerechnet werden, im Gegenteil, erst eine nicht mehr bewohnbare Villa oder eine Brücke, die nicht mehr befahren werden kann, wird zu einem Wesen voller Geist und Seele. Was aber ist unter der Ruine eines Lächelns zu verstehen? Aus Tränen entstanden die Menschen, aus einem Lächeln die Götter, heißt es seit jeher; und wenn die Götter oder Gott selbst sich verabschieden und aus unserem Gesichtskreis verschwinden? Schon können die Heiligen den Kontakt nicht mehr aufrechterhalten, der heilige Franz liegt in einem schwankenden Schilfbeet mit dem Kopf nach unten im Wasser, und Mrs. Ashbury, als Heilige der Gegenwart, bleibt beim Versuch der Himmelfahrt im Plafond stecken. Das nunmehr herrenlose und insofern ruinenhafte göttliche Lächeln wird von der Kunst bewahrt, nicht zuletzt von den verschwiegenen, mit dem Lächeln der Mona Lisa wetteifernden Sätzen des Dichters. Die Götterboten aber, Giottos Engel, beweinen, ohne daß es aufgefallen wäre, schon seit langem nicht mehr das Martyrium des Herrn, sondern, eigenverantwortlich und auftragslos, unser Leid.

Sonntag, 18. Februar 2018

Sans trottoirs

Lernerfolg

Der Dichter bekennt, er habe immer auf eine ziel- und planlose Weise geschrieben, so wie ein Hund, der über ein Feld läuft. Wenn man beobachtet, so führt er aus, wie ein Hund, allein dem Rat seiner Nase folgend, ein Feld durchquert, ergibt sich der Eindruck völliger Unberechenbarkeit, und doch findet das Tier untrüglich immer das, was er sucht. Er, so der Dichter, habe immer Hunde gehabt und von ihnen diese Fähigkeit erlernt. Ein entspanntes Verhältnis zwischen Lehrmeister und Schüler zeichnet sich ab, der Lehrer muß nicht befürchten, daß der Schüler ihn übertrifft, dazwischen liegen Meilen, der Dichter hat das Feld gar nicht betreten, sondern den Hund von einem Gehweg oder Gehsteig aus beobachtet. Ihm, dem Schüler, reicht das geringe Erlernte für die Anwendung auf anderem Gebiet, dem der Prosa. Je vadrouille à travers les jours comme une putain dans un monde sans trottoirs – das ist nun eine ganz andere Sachlage, kein Lehrer und kein Schüler, zwei ohne den rechten Boden unter den Füßen, aber keine Schicksalsgemeinschaft - der Aphoristiker ist nicht bekannt mit der ohnehin abstrakten Hure - eine Schicksalsähnlichkeit nur, ein weites, für den Hund geeignetes Feld stellen wir uns nicht vor, einen endlosen Hohlweg eher mit unbestimmtem Untergrund und verdecktem Himmel, einen Weg, den man einsam geht, die undeutlich nur erkennbare Silhouette der Frau weit voraus, als literarischer Niederschlag der Wanderung über eine endlose Reihe von Tagen nichts als eine endlose Reihe präzis notierter Klagelaute.

Samstag, 17. Februar 2018

Gesichtsfeld

Kosmische Heimat

Der das Gemüt erfüllende bestirnte Himmel über uns - die Fachleute, ein Maler und zwei Astrophysiker, sehen ihn anders als wir. Tiepolos Bild zeigt die von der Pest heimgesuchte Stadt Este, wie sie, äußerlich unversehrt, in der Ebene liegt. Zur Linken, knieend, die heilige Thekla, in ihrer Fürbitte für die Bewohner der Stadt, das Gesicht aufwärts gekehrt, wo die himmlischen Heerscharen durch die Luft fahren und uns, wenn wir hinsehen wollen, einen Begriff geben von dem, was sich über unseren Köpfen vollzieht. - Wenn wir hinsehen wollen: wer ist das Wir, und was heißt Wollen. Tiepolos Zeitgenossen können, für sich genommen, heute nicht mehr unter ein Wir gefaßt werden, wir Heutigen andererseits würden, konfrontiert mit der Pest, nach einem Antibiotikum fragen und nicht nach dem, was sich über unseren Köpfen vollzieht. Notgedrungen ist von einem zeitübergreifenden Wir auszugehen und von einer themenübergreifenden Thematik, für die die Pest nur ein antiquiertes Beispiel ist. Aber wie sollte das entsprechende Gemälde beschaffen sein, und welcher Gegenwartsmaler sollte es auf die Leinwand bringen. Oder kann man Tiepolos Bild, wenn man von der Pest abstrahiert, so lesen?

Verloren in dem überall ausgestreuten flimmernden Staub der Myriaden namenloser Sterne, riesige Regionen interstellaren Gases, die sich zu gewitterwolkenartigen, mehrere Lichtjahre in den Weltraum hinausragenden Gebilden zusammenballen und in denen in einem unter dem Einfluß der Schwerkraft ständig sich intensivierenden Verdichtungsprozeß neue Sterne entstehen, wahre Kinderstuben von Sternen gibt es dort draußen. Seine Gedanken kamen, gleich den Sternen selber, allmählich aus den sich drehenden Nebeln seiner physikalischen Phantasie hervor. – Gerald Fitzpatrick kommt in seiner fachlich gestützten Begeisterung für das Himmelszelt Kant nahe, auch wenn er von ganz anderen Voraussetzungen ausgeht und über fortschrittliche Geräte zur Erforschung des Alls verfügt. Die feindliche Leere des Alls scheint ihn nicht zu stören, und doch führt er mit der Vorstellung der Kinderstube ein Element aus dem engsten menschlichen Bereich ein. Sollte er, mit den Worten Sloterdijks, sich dem unvordenklichen Auftrag verpflichtet fühlen, das Seiende als größten aller möglichen häuslichen Räume auszulegen, die Gleichung von Weltall und Heimat durchzuführen, wollte er darlegen, daß sich letztlich nichts Beunruhigendes über unseren Köpfen vollzieht, auch schon, weil der Gegensatz von oben und unten, von über den Köpfen und unter den Füßen, längst seinen kosmischen Sinn verloren hat?

Der Venezianer Malachio, der, wie Gerald Fitzpatrick, in Cambridge Astrophysik studiert hatte, sah alles, wie sich bald herausstellte, aus der größten Entfernung, nicht nur die Sterne. In letzter Zeit habe er viel nachgedacht über die Auferstehung und zumal über den Satz, demzufolge unsere Gebeine und Leiber von den Engeln dereinst übertragen werden in das Gesichtsfeld Ezechiels. Antworten habe er nicht gefunden, aber es genügten ihm eigentlich auch schon die Fragen. – Leider erhalten wir keinen repräsentativen Überblick über die aus größter Ferne betrachteten Dinge und Elemente, Angelegenheiten etwa aus dem Bereich der Politik oder der Ökonomie. Aber diese Themenbereiche mögen für den tiefschürfenden Fernblick des Venezianers noch zu nah am Alltäglichen sein. Sein Fernblick überbrückt nicht nur die Themen, sondern auch die Denkstile, den modernen wissenschaftlichen und den alten religiösen, fusioniert den neuen Himmel mit dem alten, den von der Dreifaltigkeit und, noch weiter zurück, den von dem Einen Gott bewohnten. Würden sich bei diesem großen Wurf und Flug durch Zeit und Raum scheinbar klare Antworten ergeben, wir könnten ihnen nicht trauen.

Das göttliche Walten, das wir bei Tiepolo in seiner Fülle erleben, ist versiegt, aber nicht spurlos verschwunden. Keiner der drei Gewährsleute kann uns verläßlich ins Bild setzen, aber es genügen uns eigentlich auch schon ihre Worte, so wie vom Erzähler dargebracht.

Sonntag, 11. Februar 2018

Bülbül

Klangquellen

Dans un monde sans mélancholie, les rossignols se mettraient à roter. Nirgends, hatte es in Jerusalem geheißen, nirgends ein lebendiges Wesen, ein huschendes Tier oder auch nur der kleinste Vogel im Flug, und hier nun, im Jordantal, bei dem nahen Ufergebüsch, in dem Schnepfen herumstiegen, sang der braunblau gefiederte rotschnablige Vogel Bülbül. Bülbül, le rossignol persan. Wann hat man je noch eine Nachtigall gehört? Wo vor kurzer Zeit noch bei Anbruch des Tages die Vögel so zahlreich und lauthals gesungen hatten, daß man manchmal das Schlafzimmerfenster zumachen mußte, wo die Lerchen am Vormittag über die Felder gestiegen waren und wo man in den Abendstunden bisweilen sogar eine Nachtigall aus dem Dickicht hörte, da vernahm man jetzt kaum noch einen lebendigen Laut. Das Schweigen der Vögel ist das eindrücklichste Merkmal der Verwahrlosung der Welt. Andere Klangquellen dominieren seit langem, die Hände unterm Kopf verschränkt horchen wir, nicht auf die Stille, sondern mit wachem Entsetzen auf die Brandung des Verkehrs, die zuvor schon stundenlang über uns hinweggegangen war. Das also ist, denkt man, der neue Ozean. Unaufhörlich, in großen Schüben, über die gesamte Breite der Städte kommen die Wellen daher, werden lauter und lauter, richten sich weiter und weiter auf, überschlagen sich in einer Art von Phrenesie auf der Höhe des Lärmpegels und laufen als Brecher aus über den Asphalt und die Steine. Zeit und Lärm stürmen voran, nur in melancholischen Oasen, fernab von den Fehlzündungen des Verbrennungsmotors (moteur rotant), ist mit viel Glück in der Abendstunde der Gesang einer Nachtigall noch zu hören.

Freitag, 9. Februar 2018

Schleierlegende

Obere Bildhälfte

Das kleine, vielleicht 30 mal 50 Zentimeter messende Bild ist in der oberen Hälfte fast ganz ausgefüllt von einer aus dem Himmelsblau hervorstrahlenden goldenen Scheibe, die als Hintergrund dient für eine Darstellung der Jungfrau mit dem Erlöserkind, so beginnt Sebald seine Betrachtung des San Giorgio con capello di paglia in der Darstellung Pisanellos. Die Madonna hat den Himmel für sich, unten am Boden regeln der heilige Antonius und der heilige Georg ihre Angelegenheiten. Ganz anders, was die Position der Madonna anbelangt, Rueland Frueaufs d.J. Bild von der Auffindung des Schleiers. Im oberen Teil ist der blaue Himmel völlig frei und unbewohnt, der Scheitel der Gottesmutter erreicht nicht ganz die Höhe des aufmüpfigen Baumwipfels weiter links, die heiligen Lichteffekte über dem Scheitel überragen die Spitze des Baums um eine Winzigkeit. Der Helmbusch des zweiten Reiters reicht höher als das Niveau der göttlichen Füße, ein Unding, offensichtlich hat die Madonna ihre endgültige Position noch nicht erreicht. Sie wird noch höher auffahren und zugleich weiter in den Vordergrund schweben, den Himmel ausfüllen, wie sie es schon bei Pisanello getan hat, und dabei auch den ärgerlichen Baum verdecken. Die beiden Reiter werden noch ein Stück weiterreiten, vom Pferd steigen und andächtig Position beziehen hinter dem bereits anbetend danieder knieenden König. Rueland hat den flüchtigsten Augenblick vor dem eigentlichen Bild gemalt, das Bild hinter dem gemalten Bild zu vollenden fällt dem Betrachter als Aufgabe zu. Der Bildanlaß, die Geschichte mit dem wieder aufgefundenen Schleier, den zuvor ein übler Wind der Fürstin vom Kopf gerissen hatte, ist unbedeutend, geradezu läppisch, ein Wunder und unser Glück, daß die Himmelskönigin ungeachtet ihres sicher sehr engen Terminkalenders eigens für diese Petitesse von weit her angereist ist.

Mittwoch, 7. Februar 2018

Sobretaula

Vers deux heures

Cette espèce de malaise lorsqu’on essaie d’imaginer la vie qoutidienne des grands esprits. Vers deux heures de l’après-midi, que pouvait bien faire Socrate? Als Antwort auf die Frage taucht vor uns das Bild des Sokrates auf, nach Tisch, sobretaula, im trauten Gespräch mit Xanthippe seinem Weibe. Bevor wir uns damit zufriedengeben, müßten im Grunde aus wissenschaftlicher Redlichkeit die einschlägigen Forschungsergebnisse zu den Essenszeiten in der Antike studiert werden. Das soll an dieser Stelle unterbleiben.

Wollten wir den Erzähler, Selysses, mit dem Autor gleichsetzen, wäre er ohne weiteres als Grand Esprit anzusehen und entsprechend zu behandeln, wir treffen ihn aber so gut wie nie daheim an, so daß die Übertragung des sokratischen Idylls auf ihn entfällt. Ohnehin wird Cioran kaum an große Geister der Gegenwart gedacht haben, würde doch ein fester Zeitplan und ein voller Terminkalender der heute üblichen Art seiner Frage nach der flachen Stunde des frühen Nachmittags die besondere Aura nehmen. So gesehen geben die Reisen des Selysses, die Unterbrechung des häuslichen Gleichmaßes, der Frage erst ihren Sinn zurück, eine Antwort aber zeichnet sich nicht ab. In Wien ist der Reisende ganztägig unterwegs, so daß sich ein spezifischer Blick auf den frühen Nachmittag nicht ergibt. Etwas günstiger sieht es aus bei den wallfahrenden englischen Wanderungen. Zwei Stunden zirka nach seiner wunderbaren Befreiung aus dem Heidelabyrinth erreichte er endlich die Ortschaft Middleton. Es war gegen vier Uhr. Vers deux heures befand er sich also in dem genannten Labyrinth, ein völlig singuläres, keiner Verallgemeinerung zugängliches Erlebnis aber, das die allgemein ausgerichtete Frage insofern nicht beantworten kann. Der schönen sokratischen Gemeinschaft am nächsten kommen die Gespräche in Limone, das traute, wenn auch vorerst noch distanzierte Zusammensein mit Luciana Michelotti, die der Erzähler wenig später zur Zweitfrau nimmt. Die Uhrzeit aber stimmt nicht, schon um die Mittagszeit verschwanden die Gäste von der Terrasse, und auch Luciana verließ ihren Posten.

Sonntag, 4. Februar 2018

Puzzle

Letzte Menschen

Wäre das Wohnzimmer der Eltern nicht so detailliert beschrieben, könnte man meinen, der Erzähler wäre als Vollwaise in der Obhut des Großvaters aufgewachsen. Direkte Erwähnungen der Eltern sind selten und unauffällig, leicht zu überlesen, der Vater läßt sich eine Schachtel Zuban aus der Gastwirtschaft holen, die Mutter hat auf dem Herdschiffchen den Milchkaffee warmgehalten für den Großvater, der das verabscheute Getränk aber heimlich in den Ausguß entleert. Der Großvater verdeckt die Mutter geradezu. Mit Sicherheit hat der Erzähler keine Geschwister und anscheinend hatte er auch keine Spiel- oder Schulkameraden. Nachweislich besucht er die Schule des grauenhaften Hauptlehrers König, recht bei sich ist er aber erst, als er wegen einer Diphterieerkrankung für längere Zeit vom Unterricht ausgeschlossen ist. Er erhält Privatstunden vom Fräulein Rauch, die er auch gleich heiraten will, wegen ihrer Anmut und Sanftmütigkeit aber auch, um der Schule und der Kindheit dauerhaft zu entkommen. – Das ist in groben Umrissen die Situation, wollte man sich allein auf Ritorno in patria verlassen.

In der Erzählung Adelwarth zeigt sich, daß aus dem Heiratsplan nichts geworden ist und die Schullaufbahn mit der gewohnten Lustlosigkeit fortgesetzt wurde. Aufgrund einer momentanen Amerikabegeisterung malte er sich in den endlosen Schulstunden seine eigene amerikanische Zukunft in allen Einzelheiten und Farben aus, streckenweise zu Pferd, streckenweise in einem dunkelbraunen Oldsmobile durchquerte er die Vereinigten Staaten in allen Himmelsrichtungen. Greifbare Folgen haben diese Phantasien so wenig wie zuvor die Liaison mit dem Lehrerfräulein. Wir lernen, einigermaßen überrascht, in der gleichen Erzählung den Erzähler als Mitglied einer stattlichen Sippe kennen, an die sechzig Personen sind zu einem Familientreffen versammelt, er offenbar das einzige Kind. Die Mutter hört auf den Namen Rosa, erfahren wir bei der Gelegenheit. Vom Vater hören wir näheres in den Moments Musicaux, am Sonntag stellt er im Radio schon früh die Rottachtaler an mit ihren Hackbrettern und Zupfgeigen. Dieses Merkmal regt den Erzähler nicht zu einer weitergehenden, detaillierten Zeichnung des Vaters an. Als der Erzähler im zweiundzwanzigsten Lebensjahr in Manchester eintrifft, um fürs erste dort zu bleiben, hat er die Familie sowohl als auch mögliche Jugendfreunde abgeschüttelt. Auf seinen Gängen durch die so gut wie ausgestorbene große Stadt traf er, wenn die Nacht sich herabsenkte, an verschiedenen Stellen auf Feuerchen, um die als unstete Schattenfiguren Kinder herumstanden und -sprangen, letzte Menschen. Im September 1970 begibt er sich, inzwischen verheiratet, auf Wohnungssuche in der Umgebung der ostenglischen Stadt Norwich. Seine Frau Clara begegnet uns noch einige Male, das Ehepaar beibt kinderlos.

Menschen ohne Kinder erinnern sich vielleicht gern an ihre Kindheit, weniger gern an ihre damaligen Altersgenossen. Es gibt Ausnahmen, so hält Austerlitz die Freundschaft mit Gerald Fitzpatrick aufrecht bis zu dessen Tod, der Erzähler erinnert sich gern an den lernträgen Schüler und späteren Meisterkoch Fritz, mit dem er in der Klasse des Lehrers Bereyter die Bank geteilt hat. Austerlitz entdeckt erst spät seine Kindheit in Prag, die der Kindheit in Wales vorausgegangen war. Hinweise, es habe in Prag und der Tschechei außer ihm noch ein weiteres Kind gegeben, sucht man vergebens.

Samstag, 3. Februar 2018

Tous ceux qui tombent

Danse macabre

Les dernières feuilles tombent en dansant, erreichen sie jemals den Boden? Auch die Sätze des Dichters tanzen und schweben, nicht nur die letzten Sätze, aber die noch vor all den anderen, die ihnen voraustanzen, sie tanzen aus großer Höhe auf die Erde hinab von einem dieser Türme, die sich im Himmel verlieren, tanzen über uns hinweg wie der Schatten eines Vogels im Flug, zu Hunderten dann die gefallenen Tauben auf dem Pflaster, das Federkleid versengt, und am anderen Tag ein stiller Ascheregen, westwärts über den Park hinaus.

Freitag, 2. Februar 2018

Gilde der Detektive

Monetäre Fragen

Wenn der Erzähler in Wien auf das Lebenshaltungsniveau eines Clochards absinkt, liegt das nicht an fehlenden Devisen. Geld umgibt ihn wie ein keiner Sinneswahrnehmung zugängliches Fluidum, immer genug für die momentanen Ansprüche, nie zu viel und nie zu wenig. Das macht es schwer, ihm in der Gilde der Kriminalhelden den richtigen Platz zuzuweisen, eine Gilde, der er, wie er Luciana Michelotti gesteht, beizutreten gedenkt. In der Frühzeit der Gattung waren die Detektive oft von Haus aus heavily loaded, man denke an Lord Peter Death Bredon Wimsey, auch Sherlock Holmes konnte, auf bescheidenerem Niveau zwar, ein von finanziellen Sorgen unbedrängtes Dasein führen. Nero Wolfes Lebensstil ist in gewisser Hinsicht dem des Major Le Strange nicht unähnlich und dennoch finanziell um ein Vielfaches aufwendiger. Wolfe hilft sich mit exorbitanten Honoraren, die seine Kunden auch anstandslos zahlen. Wir übergehen die beamteten Detektive mit gesichertem Monatseinkommen, Inspektoren, Kommissare wie Maigret. Besondere Aufmerksamkeit verdienen die sogenannten hard-boiled Detectives. Der unbestrittene Star dieser Gruppe, Marlowe, ist extrem ehrpusselig, was die Annahme von Geld anbelangt, der Leser hat ständig Angst, es gehe nicht weiter, Marlowe müsse sein Geschäftsmodell aufgeben. Tatsächlich hat er es nur auf sieben Romane gebracht (eine lächerliche Zahl im Vergleich etwa zu Nero Wolfe), zehn Romane, rechnet man die Sequels aus späteren Jahren hinzu. Danach war er aufgrund einer reichen Heirat endgültig in der detektivischen Sackgasse. Toby Peters ist ein besonderer Fall, fast alle Hollywood- und sonstigen Größen der dreißiger und vierziger Jahre - Clark Gable, Betty Davies, Cary Grand, Einstein, Eleanor Roosevelt u.v.a.m. -  zählen zu seinen Kunden, und doch kommt er auf keinen grünen Zweig. Am großzügigsten ist Joe Louis, er zahlt unaufgefordert einen Vorschuß von 700 Dollar, nach heutigem Geld immerhin ungefähr das zwanzigfache, am Ende will der Braune Bomber noch mal ordentlich drauflegen, aber da zeigt Peters, daß ein Marlowe in ihm steckt. Mehrfach dürfen wir den Anrufbeantworter von Jim Rockford abhören, es melden sich fast ausschließlich Kreditoren. Ohne definiertes finanzielles Merkmal kann Selysses seinen Platz in der Gilde der Detektive nicht finden, die Schwindel.Gefühle scheitern als Kriminalroman, weitere Versuche hat es nicht gegeben.