Samstag, 17. Februar 2018

Gesichtsfeld

Kosmische Heimat

Der das Gemüt erfüllende bestirnte Himmel über uns - die Fachleute, ein Maler und zwei Astrophysiker, sehen ihn anders als wir. Tiepolos Bild zeigt die von der Pest heimgesuchte Stadt Este, wie sie, äußerlich unversehrt, in der Ebene liegt. Zur Linken, knieend, die heilige Thekla, in ihrer Fürbitte für die Bewohner der Stadt, das Gesicht aufwärts gekehrt, wo die himmlischen Heerscharen durch die Luft fahren und uns, wenn wir hinsehen wollen, einen Begriff geben von dem, was sich über unseren Köpfen vollzieht. - Wenn wir hinsehen wollen: wer ist das Wir, und was heißt Wollen. Tiepolos Zeitgenossen können, für sich genommen, heute nicht mehr unter ein Wir gefaßt werden, wir Heutigen andererseits würden, konfrontiert mit der Pest, nach einem Antibiotikum fragen und nicht nach dem, was sich über unseren Köpfen vollzieht. Notgedrungen ist von einem zeitübergreifenden Wir auszugehen und von einer themenübergreifenden Thematik, für die die Pest nur ein antiquiertes Beispiel ist. Aber wie sollte das entsprechende Gemälde beschaffen sein, und welcher Gegenwartsmaler sollte es auf die Leinwand bringen. Oder kann man Tiepolos Bild, wenn man von der Pest abstrahiert, so lesen?

Verloren in dem überall ausgestreuten flimmernden Staub der Myriaden namenloser Sterne, riesige Regionen interstellaren Gases, die sich zu gewitterwolkenartigen, mehrere Lichtjahre in den Weltraum hinausragenden Gebilden zusammenballen und in denen in einem unter dem Einfluß der Schwerkraft ständig sich intensivierenden Verdichtungsprozeß neue Sterne entstehen, wahre Kinderstuben von Sternen gibt es dort draußen. Seine Gedanken kamen, gleich den Sternen selber, allmählich aus den sich drehenden Nebeln seiner physikalischen Phantasie hervor. – Gerald Fitzpatrick kommt in seiner fachlich gestützten Begeisterung für das Himmelszelt Kant nahe, auch wenn er von ganz anderen Voraussetzungen ausgeht und über fortschrittliche Geräte zur Erforschung des Alls verfügt. Die feindliche Leere des Alls scheint ihn nicht zu stören, und doch führt er mit der Vorstellung der Kinderstube ein Element aus dem engsten menschlichen Bereich ein. Sollte er, mit den Worten Sloterdijks, sich dem unvordenklichen Auftrag verpflichtet fühlen, das Seiende als größten aller möglichen häuslichen Räume auszulegen, die Gleichung von Weltall und Heimat durchzuführen, wollte er darlegen, daß sich letztlich nichts Beunruhigendes über unseren Köpfen vollzieht, auch schon, weil der Gegensatz von oben und unten, von über den Köpfen und unter den Füßen, längst seinen kosmischen Sinn verloren hat?

Der Venezianer Malachio, der, wie Gerald Fitzpatrick, in Cambridge Astrophysik studiert hatte, sah alles, wie sich bald herausstellte, aus der größten Entfernung, nicht nur die Sterne. In letzter Zeit habe er viel nachgedacht über die Auferstehung und zumal über den Satz, demzufolge unsere Gebeine und Leiber von den Engeln dereinst übertragen werden in das Gesichtsfeld Ezechiels. Antworten habe er nicht gefunden, aber es genügten ihm eigentlich auch schon die Fragen. – Leider erhalten wir keinen repräsentativen Überblick über die aus größter Ferne betrachteten Dinge und Elemente, Angelegenheiten etwa aus dem Bereich der Politik oder der Ökonomie. Aber diese Themenbereiche mögen für den tiefschürfenden Fernblick des Venezianers noch zu nah am Alltäglichen sein. Sein Fernblick überbrückt nicht nur die Themen, sondern auch die Denkstile, den modernen wissenschaftlichen und den alten religiösen, fusioniert den neuen Himmel mit dem alten, den von der Dreifaltigkeit und, noch weiter zurück, den von dem Einen Gott bewohnten. Würden sich bei diesem großen Wurf und Flug durch Zeit und Raum scheinbar klare Antworten ergeben, wir könnten ihnen nicht trauen.

Das göttliche Walten, das wir bei Tiepolo in seiner Fülle erleben, ist versiegt, aber nicht spurlos verschwunden. Keiner der drei Gewährsleute kann uns verläßlich ins Bild setzen, aber es genügen uns eigentlich auch schon ihre Worte, so wie vom Erzähler dargebracht.

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