Donnerstag, 28. Oktober 2021

Nicht lebend, nicht tot

Vier Monate


Der Onkel hatte prophezeit, er werde noch bei der Eisenbahn enden, und obwohl es so nicht gemeint war, ist es grad so gekommen. Eine Woche nach seinem 74. Geburtstag hat er sich dort, wo die Bahnlinie in einem Bogen aus dem kleinen Weidengehölz herausführt und das Feld gewinnt, vor den Zug gelegt. Der Berichterstatter, Adroddwr, ist selbst ein eifriger Nutzer der Bahn, aber ohne erkennbare Neigung zu unsachgemäßer Nutzung. Stachuras Erzähler, die dem Autor immer zum Verwechseln ähneln, sind wahre Prinzen der Eisenbahn. Es gibt eine eigene Erzählung für die Nachtfahrt (Nocna jazda pociągem) und eine für die Tagfahrt (Dzienna jazda pociągem), Fahrten mit einem Ziel und solche ohne, Fahrten mit Fahrschein und Fahrten ohne, Übernachtungen in abgestellten Waggons und Übernachtungen in einem rollenden Hotel. Schließlich fährt er mit der Bahn, um seine Arbeit beim Holzfällen (Siekierezada) aufzunehmen, und in diesem Zug wird von nichts anderem gesprochen als vom Schienentod Zbigniew Cybulskis am frühen Morgen dieses Tages im Breslauer Bahnhof. Er hatte versucht, auf den schon rollenden Zug zu springen. Stachura selbst kommt dem Schienentod nahe, beendet sein Leben aber auf andere Weise.

Unlängst wurde in Polen ein neuer Sammelband mit Werken Stachuras veröffentlicht, Cała jaskrawość i inne utwory (Cała jaskrawość und andere Werke), darin auch das Sterbetagebuch des Autors mit dem ursprünglich von ihm für ein Buch vorgesehenen Titel: Pogodzić się ze światem (Sich mit der Welt abfinden). Ähnlich wie Cybulski am 8. Januar 1967 war Stachura am 3. April 1979 unter einen rollenden Zug geraten, allerdings ohne unmittelbare Todesfolge. Unter anderem hatte er die Finger der rechten Hand verloren. Ende Mai beginnt er mit der linken Hand das Tagebuch zu schreiben, der letzte Eintrag datiert auf den 20. Juli. Am 24. Juli 1979 hat er sich in seiner Warschauer Wohnung erhängt.

Daß er sich am 3. April 1979 wie Bereyter vor den Zug gelegt habe, davon kann nach Stachuras eigener Schilderung nicht die Rede sein. Er habe die Warnsignale gehört, habe den Zug kommen sehen, habe sich aber aufgrund einer inneren Verklemmung nicht rühren können, sei vielmehr wie angewurzelt stehengeblieben. Der Schlag auf Rücken und Hinterkopf war schrecklich, mit anhaltenden Folgen. Das Schreibvermögen mit der linken Hand ist der erste und wichtigste Schritt zur Wiedergewinnung des Lebens, ein anderer der Aufenthalt unter einfachen Leuten, für die alles so ist, wie es ist, jest tak jak jest. Unter Intellektuellen, das Motiv klingt mehrfach an in der Prosa, fühlte er sich nicht wohl, sicher nicht aufgrund von Minderwertigkeitsgefühlen. Sich mit der Welt abfinden, das bedeutet nicht zuletzt, die Ansprüche an das Leben zu reduzieren. Allem voran aber bei der Wiederaufnahme des Lebens war für ihn das Zusammensein mit der Mutter mit ihrem selbstverständlichen, jede Einzelheit umgreifenden Katholizismus. Wenn er selbst auch weiterhin nicht den Boden unter den Füßen spürt (nie czulem ziemi pod stopami), so ist das eher verheißungsvoll, denn es war schon immer das Geheimnis seiner Prosa, zwei Fuß über dem Boden zu schweben. Im Roman Siekierezada konnte es scheinen, als habe der dem Autor nahestehende Erzähler endlich festen Boden unter den Füßen, entsprechende Hinweise sind die Kameradschaft mit dem Kollegen beim Holzfällen, die mütterliche Betreuung durch die alte Zimmerwirtin, die baldige Rückkehr zu der vergötterten Frau Galązka Jabloni, und doch, was ist es für eine Welt, in der die Zeit nicht für einige wenige Minuten zurückgestellt werden kann, um Cybulski vor dem tödlichen Sprung auf den rollenden Zug zu retten. Die gesuchte Banalität des Lebens befreit nicht von den metaphysischen Beschwerden.

Nie żywy nie umarly, ich lebe, aber ohne Leben, ich bin gestorben, aber ohne Tod. Gerade diese radikale Selbstdiagnose läßt auf den ersten Blick Hoffnung auf Besserung aufkommen. Die Lage verschlechtert sich, als er vom Land in die Stadt zurückkehrt. Er beklagt den Verlust der Finger und des Verstandes. Es wäre schwer, allein hier in der Warschauer Wohnung zu hausen, stellt er fest. Der Besuch seiner von ihm geschiedenen Frau Zyta, einst Galązka Jabloni, scheint wenig hilfreich verlaufen zu sein, wenngleich sie bereit war, ihre Finger für ihn zu opfern, wenn sie sich nur transplantieren lassen. Das eigentliche Tagebuch endet schon am 8. Juli, es folgen noch drei kurze sachliche Hinweise, seit gestern wieder in Warschau, gestern bei der Ärztin im Krankenhaus von Drewnica. Dann nichts mehr bis zum 24. Juli 1979.

Montag, 18. Oktober 2021

Neue Zeit

Umgestaltung

All die Seelos, Ebentheuer der Uhrmacher, Hengge der Maler, Köpf der Bader, Mayr der Bäcker, alle haben sie einen Namen, nur die Landwirte nicht. Die angetrunkenen Bauern und Holzknechte sitzen unterschieds- und gesichtslos in der fürchterlichen, von dichten Schwaden durchzogenen Wirtsstube mit stierer Haltung auf den Bänken, als seien sie aus der Zeit gefallen.

Edward Redliński hat in den frühen siebziger Jahren zwei humoristisch-groteske Bücher über Rückständigkeit und das Wunder der Erneuerung geschrieben, Awans (Aufschwung) und Konopielka (Hanfmädchen), der Ort des Geschehens ist jeweils die ländliche Umgebung von Bialystok. Die Menschen leben hier, als seien allenfalls zwei Generation seit dem Zeitalter der Sammler und Jäger hin zu Landbau und Viehzucht vergangen, dies wiederum erachtet als Endstation der menschlichen Entwicklung. Sie könnten sich auf Cioran berufen, der bedauert, daß die Menschheit über den Status von Hirtenvölkern hinaus geraten sei, Cioran ist ihnen als Analphabeten naturgemäß aber unbekannt. In Awans bemüht sich ein Lehrer um die sogenannte Aufklärung, in Konopielka ist es eine Lehrerin. Die Lehrerin erreicht unter dem Landvolk nur eine gelinde, dafür aber möglicherweise nachhaltige fortschrittliche Orientierung, der Lehrer löst mit dem bis dahin unbekannten Fernsehen einen ihn selbst überraschenden und so nicht gewünschten Sprung in die Neuzeit aus. Das Fernsehen ist reichhaltiger als der Kirchgang, Urlauber einträglicher als Kartoffeln und Kühe, das Dorf wird umgestaltet in ein Ferienparadies. Dann aber zeigt sich, daß die Touristen das, wie sie meine, wahre und paradiesische Landleben einschließlich Übernachtung im Heuschober erleben möchten. In einer Rolle rückwärts finden die Dörfler zurück vom gerade erst erlernten städtischen Polnisch zum masurischen, für Fremde kaum verständlichen Dialekt als Teil einer Wildostschau der Urwüchsigkeit.

Der Dichter blickt oft weit zurück in die Vergangenheit, aber nicht in die Vergangenheit der Bauernschaft. Was die Gegenwart anbelangt, hat er, ganz wie Redliński, das von ihm so genannte Ferienvolk im Auge als eines der Symptome einer Moderne, die die an sie gerichteten Erwartungen nicht erfüllt. Im frühen neunzehnten Jahrhundert, da war war man noch voller Hoffnung, daß alles ganz anders kommen würde, als wie es dann tatsächlich kam.

Montag, 11. Oktober 2021

Verborgene Namen

Gründe


Der Icherzähler gibt seinen Namen nicht preis. Der in Mailand ausgestellte Ersatzpaß könnte auf den Namen Sebald hinweisen, aber Bilder sind nicht zuverlässig. Das im Fenster des Antikos Bazar gespiegelte Bild läßt ein Gesicht erkennen, das dem des Autors Sebald täuschend ähnlich sieht, der Erzählung zufolge aber handelt es sich um Austerlitz. Man kann sich einigen: mal ist der Erzähler zugleich der Autor und dann wieder nicht, also bleibt der Name besser ungenannt. Ähnliches gilt auch für die Ortschaft W., mal ist es Wertach und dann wieder nicht. Zahlreich Namen der früheren und aktuellen Bewohner des Ortes werden genannt, hat es alle diese Bewohner gegeben, und treffen, wenn das zutrifft, auch die Namen zu? Der endgültige Wohnsitz des Erzählers in England wird nicht genannt, die Annahme, er entspreche dem Wohnsitz des Autors hat eine große Wahrscheinlichkeit. Die Namen der Gesprächspartner des Erzählers, sei es in Italien, England, Irland oder Amerika werden immer genannt.

Der Icherzähler in Stifters Spätsommer hat keine vergleichbar enge Nähe zum Autor, ein Anlaß, den Namen zur Verschleierung des Verhältnisses zwischen Erzähler und Autor zu verschweigen, ist in insoweit nicht gegeben. Gleichwohl tritt nicht nur der Erzähler, sondern insgesamt das Personal des Romans vorwiegend namenlos unter Funktionsbezeichnungen auf: der Vater, die Mutter, der Sohn, die Schwester, der Gastfreund, die Fürstin, der Gärtner, der Zitherspieler. Dazwischen sind Vornamen eingestreut, Eustach, Roland, Simon, Clara, Mathilde, Natalie. Beim Gastfreund deutet schon früh einiges darauf hin, daß es sich um den Freiherrn von Risach handelt, er selbst bestätigt es dem Erzähler aber erst auf Seite 606 bei insgesamt 731 Seiten. Man könnte erwarten, daß sich bei dieser Gelegenheit auch der Erzähler seinerseits vorstellt, das geschieht aber erst auf der Seite 692 anläßlich der Verlobung mit Natalie, deren Nachname, Tarona, nun ebenfalls preisgegeben wird. Der einzige, und auch der äußerlich konfliktfrei verlaufende Konflikt im Buch ist die Verhinderung der Heirat des jungen Risach mit Mathilde durch deren Eltern. Endgültig aus der Welt geschafft wird dieser lange zurückliegende Angelegenheit durch die Heirat von Heinrich Drendorf und Natalie geb. Tarona. Die offenbarten Namen sind gleichsam das Siegel der Bereinigung.

Die Erschütterung war, was den Nachhall der versagten Ehe im Buch anbelangt, ohnehin gering. Das führende Leitmotiv im Spätsommer sind die Geräte. Das Bedeutungsfeld des Gerätes geht weit über den heutigen Bereich hinaus. Es umfaßt alle Artefakte, sofern sie auf Schönheit ausgerichtet sind, Gebäude, Vertäfelungen, Bilder, Fußböden, Möbelstücke, Marmor in verschiedensten Verwendungsformen. Der Erzähler verbringt das Gros seiner Zeit damit, die vorgefundenen Geräte zu zeichnen und abzumalen, um sie anderen Orts zur Begutachtung vorzuzeigen, andere wiederum zeigen ihm ihre Produkte. Man spürt die Übermacht der toten Dinge, die stillstehende Welt, eine Todesumgebung. Abgesehen vom regelmäßigen zu fester Stunde servierten Essen sind kaum urtümliche menschliche Bedürfnisse und Regungen zu erkennen. Der Dichter weiß von Stifters Freßsucht zu berichten, das zur Erklärung. Die nachwachsende Generation ist uneingeschränkt in den Händen der Eltern und wünscht sich nichts anderes, Heinrich und Natalie werden nach der Heirat schnell in diese Ordnung zurückfinden. Das Gesinde ist mit seinem Leben so zufrieden wie die Jugend mit dem ihren und zeigt keine klassenkämpferischen Impulse - Wieso fasziniert diese an sich unmögliche Geschichte immer wieder aufs Neue?


Freitag, 1. Oktober 2021

Tanzvergnügen

 Lotte, Natascha, Grażynka, Windrädchen

Lotte gesteht, daß ihr nicht über das Tanzen geht. Wenn sie was im Kopf habe und sich auf einem verstimmten Klavier einen Contretanz vortrommele, so sei alles wieder gut. Man muß sie tanzen sehen, so der junge Werther. Man sieht, sie ist mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele dabei, ihr ganzer Körper eine Harmonie, so sorglos, so unbefangen, das eigentlich alles wäre, auch wenn sie sonst nichts dächte, nichts empfände.

Haben wir es mit einer Natascha knapp zwei Generationen vor der wahren zu tun? Jedenfalls erreicht sie keine globale Wirkung der Art, die Orlando Figes veranlaßte, sein Buch über die russische Geschichte im achtzehnten, neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert den Titel Natasha's Dance zu verleihen. Es  geht nicht um die Natascha Rostowa der Hofbälle, sondern um die, die am Abend eines Jagdtages mit ihrem Bruder beim zurückgezogen auf dem Land lebenden Onkel eingekehrt ist. Im Verlauf des Abends greift der Onkel zur Gitarre und spielt russische Volksweisen, die Natascha eigentlich fremd sind, und doch verspürt in ihrem Inneren sogleich ein Echo und beginnt wie selbstverständlich zu tanzen, wie sie noch nie getanzt hat. Orlando Figes greift die Szene auf und entdeckt in ihr den verborgen Grund der russischen Kultur. Peter des Großen rigide Europäisierung hatte die dünne Oberschicht dem bäuerlichen Rußland weitgehend entfremdet. Peter der Große hatte Rußlands Elite nach Europa versetzt, Paris war ihre eigentliche Hauptstadt, man sprach Französisch, Russisch war nur noch die Sprache des Gesindes. Napoleons Einmarsch in Rußland hatte unmittelbar die Wiederbesinnung auf Rußland und das russische Leben zur Folge, Natascha war dem tanzend um einige Jahre zuvorgekommen.

Pradera tanzte mit Grażynka, der dreizehnjährigen Tochter des Försters. Grażyna hatte ihn während seiner Arbeit als Holzfäller mit kulinarischen Köstlichkeiten versorgt. Offenbar war sie nach Maßgabe ihres Alters in ihn verliebt, Pradera hatte seinerseits seine Freude an dem Kind. Er besucht das Jugendfest der Feuerwehr und tanzt eine Polka und einen Foxtrott mit ihr. Einen Tag später, beim eigentlichen Fest der Feuerwehr, ist die Tanzfläche bald überfüllt, alles tanzt, wie es scheint, aber nicht wenige, darunter Pradera, tanzen nicht. Tage später, nach abgeschlossener Arbeit, verabschiedet Pradera sich vom Förster, Grażynka will sich nicht zeigen. Sie schämt sich, Pradera habe so herrlich getanzt und sie so schrecklich. Was kann sie anderes tun als sich verstecken. Diese Einschätzung wird dann doch korrigiert. Anders aber als Lotte und Natascha wird Grażyna trotz der herzbewegenden Weise der Szenenablaufs aber wohl nicht in die Literatur- und Weltgeschichte eingehen. Das geht nur mit der Hilfe eines zur sogenannten Weltliteratur zählenden Autors.

Lotte und Natascha tanzen aus einem körperlichen und seelischen Verlangen heraus, das die Unterscheidung von Gesellschafts- und Kunsttanz beiseite schiebt, Grażyna hat den Eindruck, diese Ebene nicht erreicht zu haben, sie wird sie aber in jedem Fall schon bald erreichen. Das Konsulat in Mailand ist nicht der rechte Ort für Tanzvergnügen, sie sind nur kaum wahrnehmbar angedeutet. Die nahezu gleichaltrigen und einander sehr ähnlichen Mädchen in Sommerkleidern aus feinstem Batist saßen einmal still zusammen und gingen dann wieder in dem Wartesaal zwischen den Sesseln und Tischen einher, als hätten sie es darauf angelegt, eine schöne Schleife zu machen. Die eine hatte ein buntes Windrädchen dabei, die andere ein ausziehbares Teleskop, das sie meist umgekehrt ans Auge setzte, und die dritte einen Sonnenschirm. Manchmal stellten sich alle drei mit ihren verschiedenen Wahrzeichen ans Fenster und schauten hinaus in den Mailänder Morgen. Man kann ahnen, was ihnen an einem tanzgerechten Ort möglich wäre. Zweifellos könnten sie jederzeit und mühelos im Tanz die Schwerkraft außer Kraft setzen.