Donnerstag, 28. Oktober 2021
Nicht lebend, nicht tot
Montag, 18. Oktober 2021
Neue Zeit
Montag, 11. Oktober 2021
Verborgene Namen
Der Icherzähler in Stifters Spätsommer hat keine vergleichbar enge Nähe zum Autor, ein Anlaß, den Namen zur Verschleierung des Verhältnisses zwischen Erzähler und Autor zu verschweigen, ist in insoweit nicht gegeben. Gleichwohl tritt nicht nur der Erzähler, sondern insgesamt das Personal des Romans vorwiegend namenlos unter Funktionsbezeichnungen auf: der Vater, die Mutter, der Sohn, die Schwester, der Gastfreund, die Fürstin, der Gärtner, der Zitherspieler. Dazwischen sind Vornamen eingestreut, Eustach, Roland, Simon, Clara, Mathilde, Natalie. Beim Gastfreund deutet schon früh einiges darauf hin, daß es sich um den Freiherrn von Risach handelt, er selbst bestätigt es dem Erzähler aber erst auf Seite 606 bei insgesamt 731 Seiten. Man könnte erwarten, daß sich bei dieser Gelegenheit auch der Erzähler seinerseits vorstellt, das geschieht aber erst auf der Seite 692 anläßlich der Verlobung mit Natalie, deren Nachname, Tarona, nun ebenfalls preisgegeben wird. Der einzige, und auch der äußerlich konfliktfrei verlaufende Konflikt im Buch ist die Verhinderung der Heirat des jungen Risach mit Mathilde durch deren Eltern. Endgültig aus der Welt geschafft wird dieser lange zurückliegende Angelegenheit durch die Heirat von Heinrich Drendorf und Natalie geb. Tarona. Die offenbarten Namen sind gleichsam das Siegel der Bereinigung.
Die Erschütterung war, was den Nachhall der versagten Ehe im Buch anbelangt, ohnehin gering. Das führende Leitmotiv im Spätsommer sind die Geräte. Das Bedeutungsfeld des Gerätes geht weit über den heutigen Bereich hinaus. Es umfaßt alle Artefakte, sofern sie auf Schönheit ausgerichtet sind, Gebäude, Vertäfelungen, Bilder, Fußböden, Möbelstücke, Marmor in verschiedensten Verwendungsformen. Der Erzähler verbringt das Gros seiner Zeit damit, die vorgefundenen Geräte zu zeichnen und abzumalen, um sie anderen Orts zur Begutachtung vorzuzeigen, andere wiederum zeigen ihm ihre Produkte. Man spürt die Übermacht der toten Dinge, die stillstehende Welt, eine Todesumgebung. Abgesehen vom regelmäßigen zu fester Stunde servierten Essen sind kaum urtümliche menschliche Bedürfnisse und Regungen zu erkennen. Der Dichter weiß von Stifters Freßsucht zu berichten, das zur Erklärung. Die nachwachsende Generation ist uneingeschränkt in den Händen der Eltern und wünscht sich nichts anderes, Heinrich und Natalie werden nach der Heirat schnell in diese Ordnung zurückfinden. Das Gesinde ist mit seinem Leben so zufrieden wie die Jugend mit dem ihren und zeigt keine klassenkämpferischen Impulse - Wieso fasziniert diese an sich unmögliche Geschichte immer wieder aufs Neue?
Freitag, 1. Oktober 2021
Tanzvergnügen
Lotte, Natascha, Grażynka, Windrädchen
Lotte gesteht,
daß ihr nicht über das Tanzen geht. Wenn sie was im Kopf habe und sich auf
einem verstimmten Klavier einen Contretanz vortrommele, so sei alles wieder
gut. Man muß sie tanzen sehen, so der junge Werther. Man sieht, sie ist mit
ganzem Herzen und mit ganzer Seele dabei, ihr ganzer Körper eine Harmonie, so
sorglos, so unbefangen, das eigentlich alles wäre, auch wenn sie sonst nichts
dächte, nichts empfände.
Haben wir es
mit einer Natascha knapp zwei Generationen vor der wahren zu tun? Jedenfalls
erreicht sie keine globale Wirkung der Art, die Orlando Figes veranlaßte, sein
Buch über die russische Geschichte im achtzehnten, neunzehnten und zwanzigsten
Jahrhundert den Titel Natasha's Dance zu verleihen. Es geht nicht um die Natascha Rostowa der
Hofbälle, sondern um die, die am Abend eines Jagdtages mit ihrem Bruder beim
zurückgezogen auf dem Land lebenden Onkel eingekehrt ist. Im Verlauf des Abends
greift der Onkel zur Gitarre und spielt russische Volksweisen, die Natascha
eigentlich fremd sind, und doch verspürt
in ihrem Inneren sogleich ein Echo und beginnt wie selbstverständlich zu
tanzen, wie sie noch nie getanzt hat. Orlando Figes greift die Szene auf und
entdeckt in ihr den verborgen Grund der russischen Kultur. Peter des Großen
rigide Europäisierung hatte die dünne Oberschicht dem bäuerlichen Rußland
weitgehend entfremdet. Peter der Große hatte Rußlands Elite nach Europa
versetzt, Paris war ihre eigentliche Hauptstadt, man sprach Französisch,
Russisch war nur noch die Sprache des Gesindes. Napoleons Einmarsch in Rußland
hatte unmittelbar die Wiederbesinnung auf Rußland und das russische Leben zur
Folge, Natascha war dem tanzend um einige Jahre zuvorgekommen.
Pradera tanzte mit
Grażynka, der dreizehnjährigen Tochter des Försters. Grażyna hatte ihn während
seiner Arbeit als Holzfäller mit kulinarischen Köstlichkeiten versorgt. Offenbar war sie nach
Maßgabe ihres Alters in ihn verliebt, Pradera hatte seinerseits seine Freude an
dem Kind. Er besucht das Jugendfest der Feuerwehr und tanzt eine Polka und
einen Foxtrott mit ihr. Einen Tag später, beim eigentlichen Fest der Feuerwehr,
ist die Tanzfläche bald überfüllt, alles tanzt, wie es scheint, aber nicht
wenige, darunter Pradera, tanzen nicht. Tage später, nach abgeschlossener
Arbeit, verabschiedet Pradera sich vom Förster, Grażynka will sich nicht zeigen. Sie
schämt sich, Pradera habe so herrlich getanzt und sie so schrecklich. Was kann
sie anderes tun als sich verstecken. Diese Einschätzung wird dann doch
korrigiert. Anders aber als Lotte und Natascha wird Grażyna trotz der
herzbewegenden Weise der Szenenablaufs aber wohl nicht in die Literatur- und
Weltgeschichte eingehen. Das geht nur mit der Hilfe eines zur sogenannten
Weltliteratur zählenden Autors.
Lotte und Natascha tanzen aus einem körperlichen und seelischen Verlangen heraus, das die Unterscheidung von Gesellschafts- und Kunsttanz beiseite schiebt, Grażyna hat den Eindruck, diese Ebene nicht erreicht zu haben, sie wird sie aber in jedem Fall schon bald erreichen. Das Konsulat in Mailand ist nicht der rechte Ort für Tanzvergnügen, sie sind nur kaum wahrnehmbar angedeutet. Die nahezu gleichaltrigen und einander sehr ähnlichen Mädchen in Sommerkleidern aus feinstem Batist saßen einmal still zusammen und gingen dann wieder in dem Wartesaal zwischen den Sesseln und Tischen einher, als hätten sie es darauf angelegt, eine schöne Schleife zu machen. Die eine hatte ein buntes Windrädchen dabei, die andere ein ausziehbares Teleskop, das sie meist umgekehrt ans Auge setzte, und die dritte einen Sonnenschirm. Manchmal stellten sich alle drei mit ihren verschiedenen Wahrzeichen ans Fenster und schauten hinaus in den Mailänder Morgen. Man kann ahnen, was ihnen an einem tanzgerechten Ort möglich wäre. Zweifellos könnten sie jederzeit und mühelos im Tanz die Schwerkraft außer Kraft setzen.