Montag, 11. Oktober 2021

Verborgene Namen

Gründe


Der Icherzähler gibt seinen Namen nicht preis. Der in Mailand ausgestellte Ersatzpaß könnte auf den Namen Sebald hinweisen, aber Bilder sind nicht zuverlässig. Das im Fenster des Antikos Bazar gespiegelte Bild läßt ein Gesicht erkennen, das dem des Autors Sebald täuschend ähnlich sieht, der Erzählung zufolge aber handelt es sich um Austerlitz. Man kann sich einigen: mal ist der Erzähler zugleich der Autor und dann wieder nicht, also bleibt der Name besser ungenannt. Ähnliches gilt auch für die Ortschaft W., mal ist es Wertach und dann wieder nicht. Zahlreich Namen der früheren und aktuellen Bewohner des Ortes werden genannt, hat es alle diese Bewohner gegeben, und treffen, wenn das zutrifft, auch die Namen zu? Der endgültige Wohnsitz des Erzählers in England wird nicht genannt, die Annahme, er entspreche dem Wohnsitz des Autors hat eine große Wahrscheinlichkeit. Die Namen der Gesprächspartner des Erzählers, sei es in Italien, England, Irland oder Amerika werden immer genannt.

Der Icherzähler in Stifters Spätsommer hat keine vergleichbar enge Nähe zum Autor, ein Anlaß, den Namen zur Verschleierung des Verhältnisses zwischen Erzähler und Autor zu verschweigen, ist in insoweit nicht gegeben. Gleichwohl tritt nicht nur der Erzähler, sondern insgesamt das Personal des Romans vorwiegend namenlos unter Funktionsbezeichnungen auf: der Vater, die Mutter, der Sohn, die Schwester, der Gastfreund, die Fürstin, der Gärtner, der Zitherspieler. Dazwischen sind Vornamen eingestreut, Eustach, Roland, Simon, Clara, Mathilde, Natalie. Beim Gastfreund deutet schon früh einiges darauf hin, daß es sich um den Freiherrn von Risach handelt, er selbst bestätigt es dem Erzähler aber erst auf Seite 606 bei insgesamt 731 Seiten. Man könnte erwarten, daß sich bei dieser Gelegenheit auch der Erzähler seinerseits vorstellt, das geschieht aber erst auf der Seite 692 anläßlich der Verlobung mit Natalie, deren Nachname, Tarona, nun ebenfalls preisgegeben wird. Der einzige, und auch der äußerlich konfliktfrei verlaufende Konflikt im Buch ist die Verhinderung der Heirat des jungen Risach mit Mathilde durch deren Eltern. Endgültig aus der Welt geschafft wird dieser lange zurückliegende Angelegenheit durch die Heirat von Heinrich Drendorf und Natalie geb. Tarona. Die offenbarten Namen sind gleichsam das Siegel der Bereinigung.

Die Erschütterung war, was den Nachhall der versagten Ehe im Buch anbelangt, ohnehin gering. Das führende Leitmotiv im Spätsommer sind die Geräte. Das Bedeutungsfeld des Gerätes geht weit über den heutigen Bereich hinaus. Es umfaßt alle Artefakte, sofern sie auf Schönheit ausgerichtet sind, Gebäude, Vertäfelungen, Bilder, Fußböden, Möbelstücke, Marmor in verschiedensten Verwendungsformen. Der Erzähler verbringt das Gros seiner Zeit damit, die vorgefundenen Geräte zu zeichnen und abzumalen, um sie anderen Orts zur Begutachtung vorzuzeigen, andere wiederum zeigen ihm ihre Produkte. Man spürt die Übermacht der toten Dinge, die stillstehende Welt, eine Todesumgebung. Abgesehen vom regelmäßigen zu fester Stunde servierten Essen sind kaum urtümliche menschliche Bedürfnisse und Regungen zu erkennen. Der Dichter weiß von Stifters Freßsucht zu berichten, das zur Erklärung. Die nachwachsende Generation ist uneingeschränkt in den Händen der Eltern und wünscht sich nichts anderes, Heinrich und Natalie werden nach der Heirat schnell in diese Ordnung zurückfinden. Das Gesinde ist mit seinem Leben so zufrieden wie die Jugend mit dem ihren und zeigt keine klassenkämpferischen Impulse - Wieso fasziniert diese an sich unmögliche Geschichte immer wieder aufs Neue?


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