Einer schweigt
Gespräche des Dichters verlaufen
in der Regel so: Jemand erläutert ein bestimmtes Thema, er hört zu. Daß
er sich an einer größeren Gesprächsrunde wie der folgenden beteiligt, scheint
ausgeschlossen, ganz abgesehen davon, daß die Thematik nicht auf seiner Linie liegt..
*
Er kam unter die Räder, wurde überrollt und kaputt.
Es war in der Frühe, der Expreßzug in die Hauptstadt.
Es scheint, als habe er auf den letzten Waggon aufspringen wollen.
Auf den letzten Wagen, aber auf die vordere Tür.
Aha, die vordere Tür. Na dann.
Da hat er einen Fehler gemacht. Wenn er nicht zur vorderen, sondern zu hinteren Tür aufgesprungen, dann wäre er vielleicht gestürzt aber nicht überrollt worden.
Stimmt genau.
Bitte den Postwagen ganz hinten nicht vergessen.
Der kann hinten sein, kann ganz vorne sein, direkt hinter der Lokomotive. Das kann so oder so sein.
Vielleicht wollte er zur hinteren Tür, aber die war geschlossen.
Kann auch sein, möglich. Er spurtete zur hinteren Tür, drückte auf die Türklinke, aber die war schon verschlossen, und dann spurtete er nach vorn, zur vorderen Tür. Vielleicht war es so.
Er mußte umkommen und ist umgekommen. Das ist Schicksal.
Ein normaler Zug, das wäre noch gegangen, aber der Expreß, der nimmt gleich Fahrt auf.
Genau so ist es. Und er war außer Atem. Die ganze Zeit war er gerannt. Durch den Bahnhof, die Stufen zum Tunnel, dann wieder die Stufen nach oben, dann dem Gleis entlang, neben dem Zug, der schon angefahren war, mit gleichem Tempo wie er. Er war erschöpft und hatte keine Kraft mehr.
Da bin ich anderer Meinung. Er hatte schon keine Kraft mehr, aber wenn er schon keine Kraft mehr hatte, dann konnte er vor allem den Sprung nicht mehr richtig einschätzen. Er hatte nicht das richtige Maß.
Vielleicht hatte er auch einen in der Krone. So kam eins zum anderen bei seinem Sprung.
Am frühen Morgen schon einen in der Krone? Direkt nach Sonnenaufgang? Was reden Sie da?
Es konnte ja so sein, daß noch ein Rückstand vom Tag zuvor da war, die hatten bis zum Morgen gezecht.
Ich denke, er hat zu früh versucht, die Tür zu öffnen. Der Zug nahm Fahrt auf, und er kam nicht mehr dazu abzuspringen. Es trug ihn nach vorn, und er konnte schon nicht mehr loslassen. Die Füße waren da, wo sie nicht sein sollten, zwischen dem Zug und dem Perron. Er hielt sich so noch einige Zeit, bis die Hände nicht mehr mitmachten, dann ließ er los. Direkt auf den Boden.
Wer weiß schon, wie es wirklich war.
Vielleicht auch, weil er seine dunkle Brille trug. Kann sein. Vielleicht waren die Gläser obendrein beschlagen. Draußen war Frost, der Dampf schlug ihm ins Gesicht, und die Brillengläser beschlugen sich. Obendrein waren die Gläser dunkel und dann noch beschlagen.
Warum hat er eigentlich immer diese dunklen Brillengläser getragen? Im Sommer wie im Winter, immer hatte er diese Brille auf. In allen seinen Filmen hatte er sie auf.
Einen Film habe ich gesehen, Popiół i diament*. An einer Stelle erklärt er es einem Mädchen, das ihn fragt, warum er diese dunklen Brillengläser trägt. Warum? Er erzählt ihr, daß er während der Okkupation fast die ganze Zeit in dunklen unterirdischen Kanälen gelebt hat. Und jetzt, im Krieg, müsse er mit dunklen Gläsern leben, weil er an das Tageslicht nicht mehr gewöhnt sei. Die Augen schmerzten ihm vom Licht. So sehr habe er sich in den Kanälen an die Dunkelheit gewöhnt.
Aber das sagt er doch im Film. Das muß ja nicht die Wahrheit sein.
Muß nicht sein, kann aber sein. Wie auch immer, er zeigt sich nicht ohne diese dunklen Gläser. Im Film oder nicht im Film. Im Leben also.
So ist es, wie selbstverständlich.
Ich meine, ein solcher Mensch müßte ein Auto zur Verfügung haben, damit er nicht hinter den Zügen her hetzen muß.
Nach seinem Tod wird man ihm ein Ehrendenkmal setzen.
Wirklich, das gilt nur für Helden?
Im Kulturbereich war er ein Held.
Er war in Ordnung. Schade um ihn.
Und dann ist er noch am Sonntag ums Leben gekommen.
Ich sage noch einmal: er mußte umkommen und er ist umgekommen. Das ist das Schicksal, Sonntag hin, Sonntag her.
Da ist dieser Engländer, den sie nicht einmal auffinden konnten.
Campbell. Das war ein Geschwindigkeitsheld.
Der blaue Vogel.
Blue Bird, so hat man seine Maschine genannt.
Mitten auf dem See flog sie in die Luft und er mit ihr.
Fünfzig Meter hoch, und dann schlug sie zurück auf den Boden.
Dann suchten ihn die Taucher.
Was sollten sie suchen, da gab es nur noch Kleinholz.
*
Auch hier, in dieser Runde, treffen wir auf jemanden, der notgerungen zuhört, vielleicht auch gespannt zuhört, sich selbst aber nicht äußert. Er sitzt wie festgenagelt auf seinem Rucksack im Gang des überfüllten Zugs, unten am Boden, die Beine eng zusammengestellt, Arm an Arm, Bein an Bein mit den Mitreisenden. Er raucht eine Zigarette hält sie abgeschirmt unter der Hand, raucht vorsichtig, um niemanden zu verbrennen. Über den Kopf hinweg hört er die Stimmen. Weiter oben. Ein wenig so, als sei er lebendig begraben und höre die Stimmen der Leute, die über ihm stehen. Ein wenig so, aber nicht zu sehr. Wichtiger ist ihm, daß er auf seinem Rucksack sitzt und gen Westen fährt durch die winterlichen Felder dieses Landstreifens. Abfinden aber mit Cybulskis unwiderruflichem Tod kann er sich in keiner Weise. Der eingeschränkte Reisekomfort des Dichters auf der Fahrt von Wien nach Venedig ist im übrigen ähnlich zu bewerten. Der Nachtzug ist derart überfüllt, daß er die ganze Fahrt über draußen auf dem Gang stehen oder in verschiedenen Stellungen zwischen den allseits sich türmenden Koffern und Rucksäcken kauern muß. Er ist der Situation aber gewachsen, breitet schließlich seine Aufzeichnungen auf den Knien aus und schaut erst wieder hin als der Zug von Mestre aus die im Glanz der Nacht liegende Lagune durchquert. Gesprächsfetzten dringen kaum zu ihm durch. Ein Thema nationalen oder gar internationalen Interesses vergleichbar dem tragischen Tod Cybulskis in Breslau, das eine allgemeine Aussprache unter den Reisenden auslösen könnte, ist nicht in Sicht.
*Spätestens hier weiß der Cineast, daß der Unfalltod Zbigniew Cybulskis, gern auch der polnische James Dean genannt, am 8. Januar 1967 im Breslauer Bahnhof, verhandelt wird. Immer wieder ist Cybulski verspätet auf den Bahnhöfen erschienen, immer wieder ist er auf den bereits anfahrenden Zug gesprungen, ein Mal zu viel.
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