Dienstag, 1. Februar 2022

Hunger

Menschenkenntnis

Er weiß nicht, wie er in fremden Städten die Lokale aussucht, in die er einkehrt. Einerseits ist er zu wählerisch und geht stundenlang durch die Straßen und Gassen, ehe er sich entscheiden kann, andererseits geht er zuletzt meistens irgendwo hinein und verzehrt dort in trostloser Umgebung und unter Unbehagen ein ihn in keiner Weise zusagendes Gericht. In Osteuropa und zumal auf dem Land waren die Wahlmöglichkeiten was die Gaststätte und auch was das Menue anbelangt zu dieser Zeit weitaus eingeschränkter, man mag das als Vorteil ansehen. Die Woche über hat man gearbeitet und sich nur von Brot und Kartoffeln aus der Asche ernährt, jetzt, am Sonntag, will man sich etwas gönnen. Man bestellt Fleischsoße, Eisbein, eine doppelte Portion Kartoffeln eine doppelte Portion Kraut, Senf, und zwei eingelegte Gurken. Die Frage der Kellnerin, einem jungen rundlichen Mädchen im Minirock, ob er das alles essen will, beantwortet er positiv und fügt hinzu, sie könne er dann noch zum Dessert vernaschen. Das sei naturgemäß, so erklärt er uns, eine fraglos dämliche Bemerkung und gar nicht sein Stil, nicht sein Dialekt, es käme aber nicht darauf an, was ihm, sondern allein was der Kellnerin gefällt, denn von ihr hänge es weitgehend ab, ob das Mahl nach zehn Minuten, einer halben oder gar erst nach einer dreiviertel Stunde gereicht wird. Und tatsächlich, sie lächelt liebevoll und eilt mit wedelndem Hinterteil zur Essensausgabe. Schon wenig später erscheinen Teller und Tellerchen auf dem Tisch, dampfende Soße, dampfenden Eisbein, dampfenden Kraut, dampfenden Kartoffeln i tak dalej. Hungrig, wie er ist, bemüht er sich, gleichwohl würdevoll zu essen, nicht gierig.

Keine Kommentare: