Samstag, 9. März 2024

Ein neuer Tag

 Rückblick

 

Er fuhr von England aus nach Wien, in der Hoffnung, durch eine Ortsveränderung über eine ungute Zeit hinwegzukommen, die Tage neu zu erleben, die Erwartung stellte sich nicht ein. Jeder neue Tag ist als neuer Tag zu erleben, aber das gelingt nicht oft. Man eröffnet den Tag als neuen Tag und bemerkt schließlich erst, daß schon vier Tage unbemerkt dahingegangen sind. Ein Tag vergeht und ein zweiter, ein dritter, das ist kein neuer Tag, vielmehr immer noch derselbe, also nur ein Tag. Erst nach drei oder vier Tagen wird ein neuer Tag bemerkt. Einerseits sind erst zwei Tage wirklich vergangen, unbemerkt und täuschend aber schon sieben oder acht Tage.  Ein trauriger Zustand. Man muß die Ohren spitzen und ständig die Pfeifgeräusche der Zeit erhören.  

Alkohol

 Formen des Lachens

 

Beim Hirschwirt kehrt er gegen Mittag ein, stärkt sich mit einer Brotsuppe und trinkt dazu einen halben Liter Tiroler. Zuvor hatte er an diesem Tag noch keinen Alkohol getrunken und auch im weiteren Verlauf des Tages wird er es sicher nicht übertreiben. Was aber ist mit dieser einen betrunkenen und immer wieder lauthals lachenden Frau? Man hält sie für besonders fragwürdig, gelinde gesagt. Die Stimmung in der Versammlung war großartig, und dann hörte man plötzlich die pijana kobieta, die betrunkene Frau, boże mój, mein Gott, das war schrecklich. Jeder kann lachen, muß lachen sogar, Lachen ist wichtig, man soll viel lachen, aber wie sie lachte, das war schrecklich. Sie fing an zu lachen, und ihm war, als ob man ihm die Luft genommen hätte. So war es. Zum ersten Mal in seinem Leben mußte er derlei hören, dieses Lachen eben. Viele Teilnehmer, auch Frauen, hatten ein Gläschen getrunken, lachten fröhlich, aber das Lachen, dieser Frau, dieses unerhörte Lachen war schlimm. Man trifft einen Menschen, er sagt etwas, man antwortet, und beide müssen lachen, so ist es gut, so soll es sein. Die betrunkene Frau aber war anders, ganz anders, schrecklich, widerlich, ihr Lachen verletzte die menschliche Würde, das menschliche Dasein geradezu. Ergäbe sich im nüchternen Zustand ein anderes Bild von ihr? Der Name der betrunkene Frau ist nicht bekannt.

Mittwoch, 6. März 2024

Olga

 Kurzfassung

Unerwünschte Stille, er beklagt sich, daß keiner da sei, mit dem er sprechen kann, wer könnten das auch sein, und was könnten er ihm sagen? Der polnische Kollege möchte möglichst wenig hören und wenig gestört sein von seinen Gastgebern, er geht durchs Land und durch die Städte, mit besonderer Vorliebe über die Brücken der Bäche und Flüsse. Kein Rinnsal wird ausgelassen. Schon in der Frühe fährt er zu den großen Städten, ein klares Ziel hat er nicht. Ein Bunker bewährt sich als Gaststätte. Nun ist er in einem Bahnhof angelangt, zärtlich geht es da nicht zu. Er schaut auf die anderen, einige schlafen, ach, der köstliche Schlaf, sonst gar nichts. Und dann das Erwachen. Erwachen, wenn er schon nicht mehr nachdenkt. Er wird nicht weiterwandern und nicht mehr nachdenken. Jemand aber geht auf ihn zu, nimmt ihn bei der Hand. Ich heiße Olga. Schließ die Augen. Ich werde dir alles erklären.

Freitag, 1. März 2024

Odysseus

Ewiges Leben

Der Dichter schaut sich um in der Welt, zum Beispiel in den USA, und auch in der Vergangenheit, man denke etwa an das von ihm erzählte Leben der chinesische Kaiserin in den Ringen des Saturn. Zurück bis in die Welt der alten Griechen oder der noch tieferen Vergangenheit begibt er sich allerdings nicht. Luc Ferry, der französische Philosoph, kann erzählerisch und bildnerisch aushelfen. An Homers Erzählung vom zehnjährigen Trojanischen Krieg schließt sich nahtlos die zehn Jahre dauernde Rückkehr des Odysseus nach Ithaka an. Die Nymphe Kalypso hatte ihn bezirzt und ihm unter anderem das ewige Leben versprochen, auf das Odysseus letztendlich aber verzichtete. Ithaka und Penelope waren ihm mehr wert als das Leben, das war und ist eine gelinde gesagt unübliche Haltung, die archaische Prosa schaute primär auf das endlose Leben. Nochmals einige hundert Jahre zuvor  spielte sich die Erzählung vom Gilgamesch ab, die älteste bislang bekannte Erzählung überhaupt, die Illustrationen wiederum nach Vorgaben von Luc Ferry machen uns Gilgamesch vertraut. Gilgamesch besteht aus drei Teilen, zwei Teile sind göttlich, der dritte, menschliche Teil verhindert seine Unsterblichkeit. Die vom Tod nicht wissen, können an ihn nicht glauben, noch weniger die, die von ihm wissen, auch hochentwickelte Tiere haben nur eine vage Ahnung vom Tod. Draufgängerisch wie Gilgamesch ist, erwartet man, daß er, abgesehen von diesen Umwegen, auch den dritten Teil ohne viel Umstände auf den göttlichen Weg der Unsterblichkeit zu lenken vermag, aber das tritt nicht ein. Das ändert sich, als Jesus den Raum betritt. Er kultiviert mittels der Wiederauferstehung das ewige Leben über den Umweg des Todes, für zweitausend Jahre gibt er den Ton an. Für Michel Onfray hat es Jesus nie gegeben, die Glaubensbereitschaft läßt generell erkennbar nach. Einige Philosophen versuchen inzwischen, zurecht ohne viel Erfolg, das ewige Leben durch das sogenannte Glückliche Leben zu ersetzen.