I'm blind and you can see
I've been blinded totally
Viele Leser haben die Bekanntschaft mit Sebald über das Buch Austerlitz gemacht und waren vielleicht ein wenig schockiert, sich bereits auf der dritten Seite mit vier ausgeschnittenen Augenpaaren konfrontiert zu sehen, zwei tierischen und zwei menschlichen, in dieser Abfolge. Der erzählerische Kommentar zu den photoähnlichen Abbildungen macht gleich deutlich, daß es hier hineingeht in einen zentralen Motivkomplex: Von den in dem Nocturama behausten Tieren ist mir sonst nur in Erinnerung geblieben, daß etliche von ihnen auffallend große Augen hatten und jenen unverwandt forschenden Blick, wie man ihn findet bei bestimmten Malern und Philosophen, die vermittels der reinen Anschauung und des reinen Denkens versuchen, das Dunkel zu durchdringen, das uns umgibt (AUS 11f). Posthum ist der Band Unerzählt erschienen mit gut dreißig solcher von Augenpaare, präpariert von Jan Peter Tripp, darunter solche von Größen wie Beckett oder Onetti, von nicht ganz so bekannten Leuten, und auch die Augen eines Hundes, jeweils unterlegt mit einem Kürzestprosatext von Sebald. Das Thema der Augen schließt unmittelbar an an das der Photographie, die Sebalds Prosa in zwei Formen durchzieht, als Thema und, auffälliger noch, als "Illustration", dies sicher ein falscher Begriff, die Suche nach einer angemessenen Kennzeichnung würde aber zu tief in die Verknüpfungen semantischer Großkomplexe bei Sebald führen. Hier soll es wieder um ein abzweigendes Nebenthema gehen, das der Augenerkrankungen.
Die reichhaltigste Darstellung eines Augenleidens findet sich im Austerlitzbuch selbst. Ich befand mich damals gerade in einiger Unruhe, weil ich beim Heraussuchen einer Anschrift in einem Telephonbuch bemerkt hatte, daß, sozusagen über Nacht, die Sehkraft meines rechten Auges fast gänzlich verschwunden war. Die mir bis ins einzelne vertrauten Figuren und Landschaften hatten sich aufgelöst, unterschiedslos, in eine bedrohliche schwarze Schraffur. Ich ängstigte mich um die Fortführung meiner Arbeit, war aber zugleich erfüllt, wenn ich so sagen darf, von einer Vision der Erlösung, in der ich mich, befreit von dem ewigen Schreiben- und Lesenmüssen, in einem Korbsessel in einem Garten sitzen sah, umgeben von einer konturlosen, nur an ihren schwachen Farben noch zu erkennenden Welt (AUS 54f). Befreit zu sein vom Sehen, Denken, Lesen und Schreiben ist ein wiederkehrendes Motiv bei Sebald, insbesondere aufblühend in dem Prosastück J'aurais voulu que ce lac eut été l'Océan LL 43 ff). Es ist eine Ausweitung der Augenkrankheit und zugleich eine Umkehrung von Krankheit und Gesundheit. Eingelassen in diese Umkehrung ist in der Szene im Austerlitzbuch die Umkehrung von sehen zu gesehen werden: Den Opersängerinnen ebenso wie den jungen Frauen, wenn man sie einem Freier vorführte, gab man ein paar Tropfen einer aus dem Nachtschattengewächs Belladonna destillierten Flüssigkeit auf die Netzhaut, wodurch ihre Augen erstrahlten in einem hingebungsvollen, quasi übernatürlichen Glanz, sie selber aber so gut wie gar nichts mehr wahrnehmen konnten.
Über die ganze Strecke leitmotivisch durchsetzt von Augenschwäche und Sehfehlern ist die Erzählung Paul Bereyter. Bis in den Tod ist die Brille ein festes Merkmal Bereyters. Ich sah ihn hingestreckt auf dem Gleis. Er hatte in meiner Vorstellung die Brille abgenommen und zur Seite in den Schotter gelegt (AW 44). Nicht selten nahm er dabei auch sein Sacktuch heraus und biß, vor Zorn über unsere, wie er vielleicht nicht zu Unrecht meinte, vorsätzliche Dummheit, in es hinein. Regelmäßig tat er nach solchen Rappeln seine Brille herunter, blieb blind und wehrlos mitten in der Klasse stehen, hauchte auf die Linsen und putzte sie so hingebungsvoll, als sei er froh, uns eine Zeitlang nicht sehen zu müssen (AW 52f).Trotz seines schwächer werdenden Augenlichts habe er tagelang in den Archiven gesessen und sich endlose Notizen gemacht (AW 80). Ein ruhiges Sichversenken in bewegte Blätter zur Schonung und Besserung seines Auges war ihm ja angeraten worden von dem Arzt, der ihm den Star gestochen habe (AW 85). Schon als Kind sei er vom sogenannten Mückensehen geplagt worden und habe immer befürchtet, die kleinen dunklen Flecken und perlartigen Figuren, die durch sein Gesichtsfeld huschten, würden nächstens zu seiner Erblindung führen. Tatsächlich redete Paul in jenen Tagen mit der größten Ausgeglichenheit über den, wie er sich ausdrückte, mausgrauen Prospekt, welcher nun vor ihm sich erstreckte, und er stellte die Hypothese auf, die neue Welt, in die er nun im Begriff sei einzutreten, wäre zwar enger als die bisherige, doch verspreche er sich davon ein gewisses Gefühl des Komforts (AW 88). Also das gleiche Motiv des freudige Sichschickens in die Erblindung, hier allerdings mit einem langen, etappenweisen Vorlauf der Sehbehinderung, darin das Motiv der (wenn auch unwirksam) als Waffe gegen die Dummheit eingesetzten Blindheit, und verlängert in den Selbstmord auf den Gleisen mit zuvor sorgsam zusammengelegter Brille. Die Rückgabe des Sehens geht der Rückgabe des Lebens nur um eine sehr geringe Zeit voraus.
Angesichts der immer weiter ausufernden und immer gründlicheren Arbeit am Modell des Jerusalemer Tempels fragt sich Alec Garrad jetzt, wo es allmählich dunkel zu werden beginnt an den Rändern des Gesichtsfelds, ob er den Bau jemals zu Ende führen werde, und ob nicht alles, was er bislang geschaffen habe, bloß ein Machwerk sei (RS 291). Hier verschwimmen befürchtetes Scheitern des Lebenswerks und fortschreitende Erblindung zu einem unauflöslichen Grau.
I've been blinded totally
Viele Leser haben die Bekanntschaft mit Sebald über das Buch Austerlitz gemacht und waren vielleicht ein wenig schockiert, sich bereits auf der dritten Seite mit vier ausgeschnittenen Augenpaaren konfrontiert zu sehen, zwei tierischen und zwei menschlichen, in dieser Abfolge. Der erzählerische Kommentar zu den photoähnlichen Abbildungen macht gleich deutlich, daß es hier hineingeht in einen zentralen Motivkomplex: Von den in dem Nocturama behausten Tieren ist mir sonst nur in Erinnerung geblieben, daß etliche von ihnen auffallend große Augen hatten und jenen unverwandt forschenden Blick, wie man ihn findet bei bestimmten Malern und Philosophen, die vermittels der reinen Anschauung und des reinen Denkens versuchen, das Dunkel zu durchdringen, das uns umgibt (AUS 11f). Posthum ist der Band Unerzählt erschienen mit gut dreißig solcher von Augenpaare, präpariert von Jan Peter Tripp, darunter solche von Größen wie Beckett oder Onetti, von nicht ganz so bekannten Leuten, und auch die Augen eines Hundes, jeweils unterlegt mit einem Kürzestprosatext von Sebald. Das Thema der Augen schließt unmittelbar an an das der Photographie, die Sebalds Prosa in zwei Formen durchzieht, als Thema und, auffälliger noch, als "Illustration", dies sicher ein falscher Begriff, die Suche nach einer angemessenen Kennzeichnung würde aber zu tief in die Verknüpfungen semantischer Großkomplexe bei Sebald führen. Hier soll es wieder um ein abzweigendes Nebenthema gehen, das der Augenerkrankungen.
Die reichhaltigste Darstellung eines Augenleidens findet sich im Austerlitzbuch selbst. Ich befand mich damals gerade in einiger Unruhe, weil ich beim Heraussuchen einer Anschrift in einem Telephonbuch bemerkt hatte, daß, sozusagen über Nacht, die Sehkraft meines rechten Auges fast gänzlich verschwunden war. Die mir bis ins einzelne vertrauten Figuren und Landschaften hatten sich aufgelöst, unterschiedslos, in eine bedrohliche schwarze Schraffur. Ich ängstigte mich um die Fortführung meiner Arbeit, war aber zugleich erfüllt, wenn ich so sagen darf, von einer Vision der Erlösung, in der ich mich, befreit von dem ewigen Schreiben- und Lesenmüssen, in einem Korbsessel in einem Garten sitzen sah, umgeben von einer konturlosen, nur an ihren schwachen Farben noch zu erkennenden Welt (AUS 54f). Befreit zu sein vom Sehen, Denken, Lesen und Schreiben ist ein wiederkehrendes Motiv bei Sebald, insbesondere aufblühend in dem Prosastück J'aurais voulu que ce lac eut été l'Océan LL 43 ff). Es ist eine Ausweitung der Augenkrankheit und zugleich eine Umkehrung von Krankheit und Gesundheit. Eingelassen in diese Umkehrung ist in der Szene im Austerlitzbuch die Umkehrung von sehen zu gesehen werden: Den Opersängerinnen ebenso wie den jungen Frauen, wenn man sie einem Freier vorführte, gab man ein paar Tropfen einer aus dem Nachtschattengewächs Belladonna destillierten Flüssigkeit auf die Netzhaut, wodurch ihre Augen erstrahlten in einem hingebungsvollen, quasi übernatürlichen Glanz, sie selber aber so gut wie gar nichts mehr wahrnehmen konnten.
Über die ganze Strecke leitmotivisch durchsetzt von Augenschwäche und Sehfehlern ist die Erzählung Paul Bereyter. Bis in den Tod ist die Brille ein festes Merkmal Bereyters. Ich sah ihn hingestreckt auf dem Gleis. Er hatte in meiner Vorstellung die Brille abgenommen und zur Seite in den Schotter gelegt (AW 44). Nicht selten nahm er dabei auch sein Sacktuch heraus und biß, vor Zorn über unsere, wie er vielleicht nicht zu Unrecht meinte, vorsätzliche Dummheit, in es hinein. Regelmäßig tat er nach solchen Rappeln seine Brille herunter, blieb blind und wehrlos mitten in der Klasse stehen, hauchte auf die Linsen und putzte sie so hingebungsvoll, als sei er froh, uns eine Zeitlang nicht sehen zu müssen (AW 52f).Trotz seines schwächer werdenden Augenlichts habe er tagelang in den Archiven gesessen und sich endlose Notizen gemacht (AW 80). Ein ruhiges Sichversenken in bewegte Blätter zur Schonung und Besserung seines Auges war ihm ja angeraten worden von dem Arzt, der ihm den Star gestochen habe (AW 85). Schon als Kind sei er vom sogenannten Mückensehen geplagt worden und habe immer befürchtet, die kleinen dunklen Flecken und perlartigen Figuren, die durch sein Gesichtsfeld huschten, würden nächstens zu seiner Erblindung führen. Tatsächlich redete Paul in jenen Tagen mit der größten Ausgeglichenheit über den, wie er sich ausdrückte, mausgrauen Prospekt, welcher nun vor ihm sich erstreckte, und er stellte die Hypothese auf, die neue Welt, in die er nun im Begriff sei einzutreten, wäre zwar enger als die bisherige, doch verspreche er sich davon ein gewisses Gefühl des Komforts (AW 88). Also das gleiche Motiv des freudige Sichschickens in die Erblindung, hier allerdings mit einem langen, etappenweisen Vorlauf der Sehbehinderung, darin das Motiv der (wenn auch unwirksam) als Waffe gegen die Dummheit eingesetzten Blindheit, und verlängert in den Selbstmord auf den Gleisen mit zuvor sorgsam zusammengelegter Brille. Die Rückgabe des Sehens geht der Rückgabe des Lebens nur um eine sehr geringe Zeit voraus.
Angesichts der immer weiter ausufernden und immer gründlicheren Arbeit am Modell des Jerusalemer Tempels fragt sich Alec Garrad jetzt, wo es allmählich dunkel zu werden beginnt an den Rändern des Gesichtsfelds, ob er den Bau jemals zu Ende führen werde, und ob nicht alles, was er bislang geschaffen habe, bloß ein Machwerk sei (RS 291). Hier verschwimmen befürchtetes Scheitern des Lebenswerks und fortschreitende Erblindung zu einem unauflöslichen Grau.
In den Schwindel.Gefühlen verhalten sich die Dinge anders und doch ähnlich. Es ist mir gewesen, als spürte ich ihre Hand auf meiner Schulter. Selten genug ist es vorgekommen in meinem Leben, daß ich von einer mir an sich fremden Frau angerührt worden bin. Ich erinnere mich beispielsweise, vor Jahren einmal in der verdunkelten Konsultationskammer eines Optikergeschäftes in Manchester gesessen zu sein. Neben mir stand eine chinesische Optikerin, die, wie ein kleines Schild an ihrem Berufskittel anzeigte, wunderbarerweise Susi Ahoi hieß. Wenn sie sich zu mir neigte, um die Linsen auszuwechseln, spürte ich die kühle, von ihr ausgehende Fürsorglichkeit, und einmal rührte sie sogar, viel länger, wie ich mir einbildete, als nötig gewesen wäre, mit ihren Fingerkuppen an meine wie so oft vor Schmerz klopfenden Schläfen (SG 111).
Zum einen scheint Sebald hier in Wettstreit zu treten mit einem Großteil der modernen Literatur, die ihr Heil sucht in einer sich stetig steigernden sexuellen Drastik, indem er ihr ein intensives erotisches Sordino kaum oberhalb der Wahrnehmungsschwelle zurückspielt, und zum anderen ist es das Thema des Repos du guerrier, verwandelt durch die weibliche Zauberberührung zum Repos du penseur. In der Gegenwart Lucianas verläuft das Schreiben schmerzlos, die Chinesin Ahoi lindert die Qual hinter den Augen.
Fraglos ist die Labilität des Auges eine Verästelung der Großthemen Ambivalenz des Denkens, Ambivalenz des Lebens. Um die Nachzeichnung dieser Verästelung sollte es gehen, und keineswegs soll sich ein interpretatorischer Großangriff anschließen. In einer seiner Glossen zu Fontane macht Blumenberg des bloße Gedanke schaudern, eine gerade entdeckte ebenso schöne wie rätselhafte Grabinschrift könne einem der zeitgenössischen theologischen Meisterdenkern zur Auslegung in die Hände fallen. Sebalds Prosa täuscht ständig ein intensives Bemühen um Selbsterläuterung vor, immer noch ein weiterer erhellender Halbsatz wird aufgeklappt. Im Rücken aber dieser fingierten Bemühung um Erhellung breitet sich das Dunkel aus. Wollte man darein mit der interpretatorischen Grubenlampe vordringen, würde man kein semantisches Erz zu Tage fördern, sondern den semantisches Tod beim Grubeneinsturz hervorrufen.
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