Mittwoch, 25. November 2009

Sebald

Scriptor post Scriptum

Le lapidi sono romanzi concentrati.
I romanzi sono lapidi dilatate.


Winfried Georg Sebald wurde am 18. Mai 1944 in Wertach als Sohn des gelernten Schlossers Georg Sebald und dessen Ehefrau Rosi geboren. Seine Vornamen, so heißt es, haßte er und nannte sich selbst Max oder auch Bill. Am 14. Dezember 2001 kam Sebald bei einem Verkehrsunfall in Norfolk ums Leben.

Einiges mehr wissen wir schon über Sebalds Leben, seine Wohnorte, die Stationen seiner Ausbildung und seines Werdegangs als Hochschullehrer. Er hatte eine Schwester und den über alles geliebten Großvater mütterlicherseits, Dorfgendarm in Wertach. Sebald war verheiratet, wir lernen seine Frau flüchtig kennen in der Erzählung Dr. Henry Selwyn und in die Ringe des Saturn schaut sie auch kurz hinein. Sebald bezog in den 1970er Jahren mit Frau und Tochter ein viktorianisches Pfarrhaus und trotzte der gestrüppartigen Wildnis eine weitläufige Gartenanlage ab; es entstand ein musterhaft schöner ostenglischer Blumengarten. Die Augen seiner Tochter Anna kennen wir aus Unerzählt, unerzählt bleibt die Geschichte der abgewandten Gesichter. Eine größere, detaillierte Biographie Sebalds ist bislang, soweit ersichtlich, nicht im Handel.


Braucht man die Person des Dichters zum Studium seiner Bücher? Offenbar nicht. Wir lesen die Odyssee und die Ilias ohne näheres zu wissen über Homer oder auch nur sicher sein zu können, daß es ihn gegeben hat. Und dennoch, wir schauen Bildnisse und Büsten an, die Homer darstellen sollen und versuchen, in den blinden Augen sein Wesen zu ergründen.

Umso weniger möchten wie die Photos missen, die Christian Scholz 1997 von Sebald gemacht hat. Die Falten in den Augenwinkeln lassen eine Interpretation seines Werkes als durchweg schwermütig und freudlos nicht zu. Offenbar auch hat ihm der einsetzende Erfolg gut getan. Die halbgeschlossenen Augen schauen gleichermaßen nach innen und auf uns, die untere Gesichtshälfte ist von der die Zigarettenspitze haltenden Hand verdeckt. Unverkennbar ist die souveräne, provokante Herausforderung: Ja, ich könnte jedes beliebige Eck und Ende der Welt inhalieren und Euch als den Rauch schwereloser Sätze wieder entgegenblasen, und wie könntet Ihr schöner Euren Tod finden als durch dieses Gift. Wir freuen uns, Sebald auf einem Bild Jan Peter Tripps in Tongeren beim Billard zuschauen zu können. Wenn wir jemanden hoch verehren, kommt er uns näher, wenn er etwas seiner Unwürdiges tut. Er gibt uns damit Urlaub von der Last der Verehrung. Und von diesem Augenblick an empfinden wir ihm gegenüber eine echte Anhänglichkeit. – So unwürdig ist das Billardspiel nun allerdings nicht, denn auch Maler und Dichter lassen sich bei ihrem Geschäft auf ein risikoreiches Spiel ein, bei dem mit einer falschen Bewegung leicht alles vertan ist.

Seine Magisterarbeit hat Sebald über Carl Sternheim verfaßt, in der Beurteilung von Thea Sternheim das mit Eifer und Geifer zusammengetragene Elaborat eines fünfundzwanzigjährigen Bayern. Eifer und Geifer, innerhalb von Sebalds Essayistik gibt es Stellen, die an diese Kennzeichnung denken lassen mögen, beim Lesen seiner Prosa liegt keine Wortgruppe ferner als diese, der ausgelegte Samtuntergrund ist lückenlos und ohne Webfehler. Offenbar ist also ein Dritter im Spiel, der lebende Sebald, der erzählte Sebald, Selysses, und der selyssesnahe erzählende Sebald, der in Vorbereitung auf und im Vollzug des späten Dichtertums geboren wurde.

Die Dichter verwandeln sich, wenn sie zum Dichter werden, aber keineswegs alle auf die gleiche Art. Bei Proust hat es den Anschein, als habe er das ernsthafte Schreiben hinausgezögert, um lebend das Material für sein großes Werk zu erweitern und zu vervollständigen, hinausgezögert fast wie in einem Kriminalfilm zur Erhöhung der Spannung bis zum allerletzten Augenblick, um sich dann in ein wie rasend aufzeichnendes Schreibgerät zu verwandeln und fieberhaft alle Momente des gelebten Lebens in Buchstaben und Sätzen neu zu entrollen. Sebald schildert diese Verwandlung in ein menschliches Schreibgerät am Beispiel Casanovas, der als das Beispiel eines vollen und tollen Lebens gilt: Ich sah den altgewordenen Roué, umgeben von den goldgeprägten Rängen der mehr als vierzigtausend Bänden umfassenden Bibliothek ganz für sich allein über einen Schreibsekretär gebeugt an einem trostlosen Novembernachmittag. Die Puderperücke hatte er beiseite gelegt und sein eigenes schütteres Haar schwebte, als Zeichen gewissermaßen der Auflösung seiner Körperlichkeit, wie ein kleines Wölkchen über seinem Haupt. Die linke Schulter ein wenig hochgezogen, schrieb er ununterbrochen fort.

Bei Kafka tritt eine derartige zeitliche Zäsur zwischen Lebensbeschreibung nicht auf, er hat unablässig lebensbegleitend geschrieben, Briefe, Tagebücher und die literarischen Verwandlungen in riesenhafte Käfer, in Hungerkünstler, in den Jäger Gracchus, in Gefolterte und in unschuldig Gerichtete, Ausgesperrte, nicht Zugelassene. Fast alles ist Fragment geblieben, weniges nur hat sich als Werk vom Leben abgeschnürt.

Ich war nach Wien gefahren in der Hoffnung, durch eine Ortsveränderung über eine besonders ungute Zeit hinweg zu kommen, berichtet Selysses, der in einem nie ganz klaren Verhältnis für Sebald spricht. Die von der gewohnheitsmäßigen Schreib- und Gartenarbeit nun nicht mehr ausgefüllten Tage wurden mir ungemein lang, und ich wußte tatsächlich nicht mehr, wohin mich wenden. Schreib- und damit verbunden natürlich auch Lesetätigkeit und Gartenarbeit also als Füllung der Tage und nicht näher benannte Interferenzen aus dem Leben, die die Zeit ins Ungute wenden.

Als Sebald seinen ersten Prosaband, die Schwindel.Gefühle, veröffentlichte, befand er sich im gleichen Lebensabschnitt, in dem Proust die Arbeit an der Recherche aufnahm, und auch die noch verbleibende Lebensfrist war ähnlich. Die Erzählung Il Ritorno in Patria hat den Charakter einer miniaturhaften Recherche du temps perdu, aber Wertach ist beileibe nicht Combray. Wertach steigt aus keinerlei einer Madeleine verwandtem Allgäuer Gebäckstück auf, sondern wird erreicht über den inzwischen Sebaldweg genannten Wanderweg vom tirolischen Oberjoch aus. Combray rotiert geradezu um den allabendlich heiß ersehnten und dann doch immer wieder auf katastrophale Weise ausbleibenden Gutenachtkuß der Mutter und auch der Vater, der Großvater und vor allem die Großmutter sind ständig parate Bestandteile eines ebenso tiefen wie leidvollen Kindheitsglücks. Von den Wertacher Eltern erfahren wir nur das allerkargste, ein weniges mehr vom Großvater und auch der Knabe Selysses rückt eigentlich nicht ins Blickfeld. Grad wie der erwachsene Selysses ist er bereits ein Vermittler der Geschichten anderer ein ständiger Wanderer, unterwegs vom Engel- zum Ochsenwirt, zur Praxis des Doktor Rambousek, auf dem Weg am Lehrerhaus und am Kaplanhaus vorbei die hohe Friedhofsmauer entlang, unterwegs zum Café Alpenrose. Die verlorene Zeit wird, soweit es die eigene ist, nicht in ihrer Tiefe erforscht. – Proust und Casanova, so scheint es, haben sich aufgegeben, um ihre Erzählfiguren mit ihrem eigenen Leben zu füllen. Sebald stellt die Leerform des Selysses zur Verfügung, um andere Lebensgeschichten einzufangen, was mit ihm selbst geschieht dabei, bleibt im Dunklen.

Die Schwindelgefühle des Selysses sind wohl auch die ihres Autors, entlarvende Verwandlungen wie bei Kafka finden aber nicht statt, umso interessierter aber schaut er Kafka über die Schulter: Also wahrhaftig ein Engel, den ganzen Tag fliegt er auf mich zu, und ich in meinem Unglauben weiß es nicht. Jetzt wird er gleich zu mir sprechen, dachte er und senkte den Blick. Aber als er ihn wieder hob, war zwar noch der Engel da und hing ziemlich tief unter der Decke, die sich wieder geschlossen hatte, aber es war kein lebendiger Engel, sondern nur eine bemalte Holzfigur von einem Schiffsschnabel, wie sie in Matrosenkneipen unter der Decke hängen.

Wir kennen den zugunsten der Geschichten anderer entleerten erzählten Doppelgänger Sebalds, Selysses, und wir kennen die Dichterperson als Stimme, Tonfall, Stil. Natürlich würden wir von dem Dritten im Spiel, den Sebald hinter dem schreibenden Sebald, noch einiges mehr erfahren, am besten seiner Unwürdiges, um ihn, nach dem referierten Muster Ciorans, noch tiefer verehren zu können.

Man kann die kleinen Sebaldstücke als einen frevelhaften Versuch ansehen, die Position des selyssesnahen Erzählers zu usurpieren, um für einen Augenblick selbst zum sciptor post personam scriptam zu werden, wohl wissend, daß Selysses in dieser unguten Lage sogleich in Atemnot gerät und nur für die kürzeste Dauer überleben kann. Vermutlich aber ist alles bei weitem harmloser und in einem milderen Licht zu sehen und die Sebaldstücke nur ein eigenständiges Modell zwischen der Phantasie des Autors und derjenigen des Lesers, das die Geschichten der Dichter, nach Sebalds eigenen Worten, für ihr Gelingen in jedem Fall benötigen.


Keine Kommentare: